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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Streitige durch die französische Litteratur der Gegenwart

folgenden Dichtung I^Ä ^uslios (1878) hat er sich nicht allein den Pessimismus
Schopenhauers, sondert, auch dessen ganze Willensmetaphysik zu eigen gemacht.
Er sagt im Vorwort zu diesem philosophischen Epos: "Ich möchte zeigen, daß
die Gerechtigkeit weder aus dem Wissen allein hervorgehen kann, das die unbe¬
wußten Triebe des Herzens verdächtigt, noch aus dem edelmütigen Nichtwissen,
das sich völlig auf das Herz verläßt, sondern daß die Ausübung der Gerech¬
tigkeit das zarteste Mitleid für den Menschen erfordert, das durch die tiefste
Kenntnis seines innern Wesens erleuchtet wird."

Mit großer Kühnheit im Entwurf und mit staunenswerter Kraft in der
Ausführung hat der Dichter diese moralische Frage zum Gegenstände seiner
Dichtung gemacht. Im ersten Teile, KilönvL -rü oosur betitelt, sucht der Forscher
(1v elisr"zik<zur) die Gerechtigkeit; er findet sie weder in der Vergangenheit noch
in der Gegenwart. Jedes Wesen hat nur einen Zweck: den Willen zum Leben;
es stößt von sich, was ihm das Dasein beschränkt oder zerstört, und sucht zu
ergreifen was es ihm erhält; daher der große Kampf, den eine Gattung fort¬
während mit der andern aussieht. Aber der Forscher sucht weiter, obwohl
ihm seine Begleiterin 1a Voix zuruft: I^a ju8divo est un ori an oosur, er findet
die Gerechtigkeit auch nicht innerhalb einer Gattung und am "venigsten in der
menschlichen. Selbst die Natur täuscht uns und verfolgt, auch wenn wir zu
genießen scheinen, ihren eignen Zweck: die Erhaltung der Gattung. Der Liebes¬
rausch, die Schamhaftigkeit, die Schönheit, alles sind nur Kunstgriffe der Natur,
um unsern "Widerwillen, eine so rauhe Erde zu bevölkern," völlig zu besiegen.
Alle Gedanken, die Schopenhauer in seiner "Metaphysik der Geschlechtsliebe"
ausführt, finden wir hier in poetischem Gewände wieder:


Alsuroui äouv los vivunts! Ist vio est H8sui'6s,

In der ganzen Welt der Erscheinungen findet der Forscher nirgends die
Gerechtigkeit; es giebt auch keine Freiheit, außer in dem ganzen Sein und
Wesen der Menschen, d. h., um mit Kant zu spreche", in seinein intelligiblen
Charakter. Hiermit kommt Sully-Prudhvmme zum zweiten Teil in seiner
Dichtung, zum ^post -ur vocmr. Während der erste, beeinflußt dnrch die
Katastrophe von 1870/71 von einem düstern Pessimismus erfüllt ist, läßt der
Dichter in seiner später geschriebn"" "Berufung an das Herz," wo er endlich
in dem Gefühl der Vermitwvrtlichleit die Gerechtigkeit findet, sein Werk ver¬
söhnend ausklingen:


Und bist du in der Welt mich mir ein leerer Schall,
Du lebst im Menschen selbst, regierst ihn überall.
Seit der Geburt als Trieb für jeden auserlesen,
Bist du, Gerechtigkeit, des Menschen eignes Wesen.

Ein noch stärkeres Streben nach philosophischer Durchdringung großer
Rätsel, eine noch erstaunlichere Fähigkeit, der Poesie wissenschaftliche Ergeb-


Streitige durch die französische Litteratur der Gegenwart

folgenden Dichtung I^Ä ^uslios (1878) hat er sich nicht allein den Pessimismus
Schopenhauers, sondert, auch dessen ganze Willensmetaphysik zu eigen gemacht.
Er sagt im Vorwort zu diesem philosophischen Epos: „Ich möchte zeigen, daß
die Gerechtigkeit weder aus dem Wissen allein hervorgehen kann, das die unbe¬
wußten Triebe des Herzens verdächtigt, noch aus dem edelmütigen Nichtwissen,
das sich völlig auf das Herz verläßt, sondern daß die Ausübung der Gerech¬
tigkeit das zarteste Mitleid für den Menschen erfordert, das durch die tiefste
Kenntnis seines innern Wesens erleuchtet wird."

Mit großer Kühnheit im Entwurf und mit staunenswerter Kraft in der
Ausführung hat der Dichter diese moralische Frage zum Gegenstände seiner
Dichtung gemacht. Im ersten Teile, KilönvL -rü oosur betitelt, sucht der Forscher
(1v elisr«zik<zur) die Gerechtigkeit; er findet sie weder in der Vergangenheit noch
in der Gegenwart. Jedes Wesen hat nur einen Zweck: den Willen zum Leben;
es stößt von sich, was ihm das Dasein beschränkt oder zerstört, und sucht zu
ergreifen was es ihm erhält; daher der große Kampf, den eine Gattung fort¬
während mit der andern aussieht. Aber der Forscher sucht weiter, obwohl
ihm seine Begleiterin 1a Voix zuruft: I^a ju8divo est un ori an oosur, er findet
die Gerechtigkeit auch nicht innerhalb einer Gattung und am »venigsten in der
menschlichen. Selbst die Natur täuscht uns und verfolgt, auch wenn wir zu
genießen scheinen, ihren eignen Zweck: die Erhaltung der Gattung. Der Liebes¬
rausch, die Schamhaftigkeit, die Schönheit, alles sind nur Kunstgriffe der Natur,
um unsern „Widerwillen, eine so rauhe Erde zu bevölkern," völlig zu besiegen.
Alle Gedanken, die Schopenhauer in seiner „Metaphysik der Geschlechtsliebe"
ausführt, finden wir hier in poetischem Gewände wieder:


Alsuroui äouv los vivunts! Ist vio est H8sui'6s,

In der ganzen Welt der Erscheinungen findet der Forscher nirgends die
Gerechtigkeit; es giebt auch keine Freiheit, außer in dem ganzen Sein und
Wesen der Menschen, d. h., um mit Kant zu spreche», in seinein intelligiblen
Charakter. Hiermit kommt Sully-Prudhvmme zum zweiten Teil in seiner
Dichtung, zum ^post -ur vocmr. Während der erste, beeinflußt dnrch die
Katastrophe von 1870/71 von einem düstern Pessimismus erfüllt ist, läßt der
Dichter in seiner später geschriebn«» „Berufung an das Herz," wo er endlich
in dem Gefühl der Vermitwvrtlichleit die Gerechtigkeit findet, sein Werk ver¬
söhnend ausklingen:


Und bist du in der Welt mich mir ein leerer Schall,
Du lebst im Menschen selbst, regierst ihn überall.
Seit der Geburt als Trieb für jeden auserlesen,
Bist du, Gerechtigkeit, des Menschen eignes Wesen.

Ein noch stärkeres Streben nach philosophischer Durchdringung großer
Rätsel, eine noch erstaunlichere Fähigkeit, der Poesie wissenschaftliche Ergeb-


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[0026] Streitige durch die französische Litteratur der Gegenwart folgenden Dichtung I^Ä ^uslios (1878) hat er sich nicht allein den Pessimismus Schopenhauers, sondert, auch dessen ganze Willensmetaphysik zu eigen gemacht. Er sagt im Vorwort zu diesem philosophischen Epos: „Ich möchte zeigen, daß die Gerechtigkeit weder aus dem Wissen allein hervorgehen kann, das die unbe¬ wußten Triebe des Herzens verdächtigt, noch aus dem edelmütigen Nichtwissen, das sich völlig auf das Herz verläßt, sondern daß die Ausübung der Gerech¬ tigkeit das zarteste Mitleid für den Menschen erfordert, das durch die tiefste Kenntnis seines innern Wesens erleuchtet wird." Mit großer Kühnheit im Entwurf und mit staunenswerter Kraft in der Ausführung hat der Dichter diese moralische Frage zum Gegenstände seiner Dichtung gemacht. Im ersten Teile, KilönvL -rü oosur betitelt, sucht der Forscher (1v elisr«zik<zur) die Gerechtigkeit; er findet sie weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart. Jedes Wesen hat nur einen Zweck: den Willen zum Leben; es stößt von sich, was ihm das Dasein beschränkt oder zerstört, und sucht zu ergreifen was es ihm erhält; daher der große Kampf, den eine Gattung fort¬ während mit der andern aussieht. Aber der Forscher sucht weiter, obwohl ihm seine Begleiterin 1a Voix zuruft: I^a ju8divo est un ori an oosur, er findet die Gerechtigkeit auch nicht innerhalb einer Gattung und am »venigsten in der menschlichen. Selbst die Natur täuscht uns und verfolgt, auch wenn wir zu genießen scheinen, ihren eignen Zweck: die Erhaltung der Gattung. Der Liebes¬ rausch, die Schamhaftigkeit, die Schönheit, alles sind nur Kunstgriffe der Natur, um unsern „Widerwillen, eine so rauhe Erde zu bevölkern," völlig zu besiegen. Alle Gedanken, die Schopenhauer in seiner „Metaphysik der Geschlechtsliebe" ausführt, finden wir hier in poetischem Gewände wieder: Alsuroui äouv los vivunts! Ist vio est H8sui'6s, In der ganzen Welt der Erscheinungen findet der Forscher nirgends die Gerechtigkeit; es giebt auch keine Freiheit, außer in dem ganzen Sein und Wesen der Menschen, d. h., um mit Kant zu spreche», in seinein intelligiblen Charakter. Hiermit kommt Sully-Prudhvmme zum zweiten Teil in seiner Dichtung, zum ^post -ur vocmr. Während der erste, beeinflußt dnrch die Katastrophe von 1870/71 von einem düstern Pessimismus erfüllt ist, läßt der Dichter in seiner später geschriebn«» „Berufung an das Herz," wo er endlich in dem Gefühl der Vermitwvrtlichleit die Gerechtigkeit findet, sein Werk ver¬ söhnend ausklingen: Und bist du in der Welt mich mir ein leerer Schall, Du lebst im Menschen selbst, regierst ihn überall. Seit der Geburt als Trieb für jeden auserlesen, Bist du, Gerechtigkeit, des Menschen eignes Wesen. Ein noch stärkeres Streben nach philosophischer Durchdringung großer Rätsel, eine noch erstaunlichere Fähigkeit, der Poesie wissenschaftliche Ergeb-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/26>, abgerufen am 28.06.2024.