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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Die deutsche Hausindustrie

dung der zarten Kindeskräfte wird die Gesetzgebung hier auch in Zukunft
weniger hindern können, als bei der Fabrikthätigkeit, weil die Familie ihrem
Einwirke" natürlich weniger offen steht als ein Fabriklokal. Entschieden
schlechter sind die Wohnungsverhältnisse der Hausindustriellen als die der
Fabrikarbeiter, besonders ärmlich und schmutzig in, einzelnen Teilen von
Thüringen, Schmalkalden und im Taurus. Eine Besserung dieser Verhält¬
nisse ist in der Hausindustrie auch schwerer zu erreichen, weil der arme Häusler
deu an ihn etwa gesetzlich zu stellenden Anforderungen nicht in dem Maße folgen
kann, wie der bemittelte Fabrikherr. Alle Beobachter stimmen ferner darin
überein, das; die Ernährung der Hausindustrielleu besonders kärglich und un¬
zureichend ist und fast ausschließlich in Kartoffeln besteht. Der Meininger
Volksmund sagt eine traurige Wahrheit mit seinem: Kartoffeln in der Früh,
zu Mittag in der Bruh, des Abends mitsamt dein Kleid -- Kartoffeln
in Ewigkeit! So zeigen denn auch die militärischen Aushebungen einen
schlechten Gesundheitszustand der Hausindustriellen als Folge aller dieser
Umstünde.

Während "tan früher geneigt war, anzunehmen, daß die Möglichkeit der
Zeiteinteilung nach Belieben und damit verbunden überhaupt eine mäßige,
Gesundheit und Familienleben nicht schädigende Arbeitszeit zu deu Vorzüge"
der Hausindustrie zu rechnen sei, ist heute gerade die Arbeitszeit ein wunder
Piittkt der Hausindustrieverhältnisse. Um sich bei der hvchgesteigerteu
Konkurrenz und den damit verbundnen Lohnverringernngen ein einigermaßen
erträgliches Leben zu schaffe", wird die Leistungsfähigkeit aufs äußerste ange¬
spannt, die Ruhezeit ans das geringste Maß beschnitten. Der thüringische
Tafelmacher arbeitet achtzehn Stunden, der Pfeifenverfertiger in Ruhla fünf¬
zehn bis sechzehn Stunden, und von der armen Filetstrickerin in den hohen
Taunusdörfern sagt Schnapper-Arndt, daß sie von sechs Uhr "ivrge"s bis
mindestens zehn Uhr abends an der Arbeit sitze, bald an dem kleinen Fenster,
bald bei der Petroleumlampe, unablässig mit dein Fadenschlingen beschäftigt.
Welche Nachteile diese übermäßige Arbeitszeit für das physische, geistige und
sittliche Leben der Familien mit sich führt, bedarf keiner Schilderung. Wie
für den Fabrikarbeiter wird mau auch für die Hansindnstnellen zehn Stunden
als längste Arbeitszeit ansehen müssen, wenn es auch allerdings bei dergleichen
Forderungen wesentlich ans die Art der Arbeit und die Körperbeschaffenheit des
Arbeiters ankommt.

Für die ganz kärglichen Lohnverhältnisse, die weit uuter dem stehen, was
der Fabrikarbeiter durchschnittlich verdient, bringt Stieda ein reichhaltiges und
zuverlässiges Material bei. Leider kommt häufig noch hinzu, daß zwischen
Arbeiter und Arbeitgeber sich eine unredliche Klasse von Faktoren, Werk¬
meistern n. s. w- einschiebt, sodaß das unmittelbare Interesse des Arbeitsherrn
an dem Wohl und Wehe des einzelnen Arbeiters völlig aufhört. Es klingt


Die deutsche Hausindustrie

dung der zarten Kindeskräfte wird die Gesetzgebung hier auch in Zukunft
weniger hindern können, als bei der Fabrikthätigkeit, weil die Familie ihrem
Einwirke» natürlich weniger offen steht als ein Fabriklokal. Entschieden
schlechter sind die Wohnungsverhältnisse der Hausindustriellen als die der
Fabrikarbeiter, besonders ärmlich und schmutzig in, einzelnen Teilen von
Thüringen, Schmalkalden und im Taurus. Eine Besserung dieser Verhält¬
nisse ist in der Hausindustrie auch schwerer zu erreichen, weil der arme Häusler
deu an ihn etwa gesetzlich zu stellenden Anforderungen nicht in dem Maße folgen
kann, wie der bemittelte Fabrikherr. Alle Beobachter stimmen ferner darin
überein, das; die Ernährung der Hausindustrielleu besonders kärglich und un¬
zureichend ist und fast ausschließlich in Kartoffeln besteht. Der Meininger
Volksmund sagt eine traurige Wahrheit mit seinem: Kartoffeln in der Früh,
zu Mittag in der Bruh, des Abends mitsamt dein Kleid — Kartoffeln
in Ewigkeit! So zeigen denn auch die militärischen Aushebungen einen
schlechten Gesundheitszustand der Hausindustriellen als Folge aller dieser
Umstünde.

Während »tan früher geneigt war, anzunehmen, daß die Möglichkeit der
Zeiteinteilung nach Belieben und damit verbunden überhaupt eine mäßige,
Gesundheit und Familienleben nicht schädigende Arbeitszeit zu deu Vorzüge»
der Hausindustrie zu rechnen sei, ist heute gerade die Arbeitszeit ein wunder
Piittkt der Hausindustrieverhältnisse. Um sich bei der hvchgesteigerteu
Konkurrenz und den damit verbundnen Lohnverringernngen ein einigermaßen
erträgliches Leben zu schaffe«, wird die Leistungsfähigkeit aufs äußerste ange¬
spannt, die Ruhezeit ans das geringste Maß beschnitten. Der thüringische
Tafelmacher arbeitet achtzehn Stunden, der Pfeifenverfertiger in Ruhla fünf¬
zehn bis sechzehn Stunden, und von der armen Filetstrickerin in den hohen
Taunusdörfern sagt Schnapper-Arndt, daß sie von sechs Uhr »ivrge»s bis
mindestens zehn Uhr abends an der Arbeit sitze, bald an dem kleinen Fenster,
bald bei der Petroleumlampe, unablässig mit dein Fadenschlingen beschäftigt.
Welche Nachteile diese übermäßige Arbeitszeit für das physische, geistige und
sittliche Leben der Familien mit sich führt, bedarf keiner Schilderung. Wie
für den Fabrikarbeiter wird mau auch für die Hansindnstnellen zehn Stunden
als längste Arbeitszeit ansehen müssen, wenn es auch allerdings bei dergleichen
Forderungen wesentlich ans die Art der Arbeit und die Körperbeschaffenheit des
Arbeiters ankommt.

Für die ganz kärglichen Lohnverhältnisse, die weit uuter dem stehen, was
der Fabrikarbeiter durchschnittlich verdient, bringt Stieda ein reichhaltiges und
zuverlässiges Material bei. Leider kommt häufig noch hinzu, daß zwischen
Arbeiter und Arbeitgeber sich eine unredliche Klasse von Faktoren, Werk¬
meistern n. s. w- einschiebt, sodaß das unmittelbare Interesse des Arbeitsherrn
an dem Wohl und Wehe des einzelnen Arbeiters völlig aufhört. Es klingt


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[0268] Die deutsche Hausindustrie dung der zarten Kindeskräfte wird die Gesetzgebung hier auch in Zukunft weniger hindern können, als bei der Fabrikthätigkeit, weil die Familie ihrem Einwirke» natürlich weniger offen steht als ein Fabriklokal. Entschieden schlechter sind die Wohnungsverhältnisse der Hausindustriellen als die der Fabrikarbeiter, besonders ärmlich und schmutzig in, einzelnen Teilen von Thüringen, Schmalkalden und im Taurus. Eine Besserung dieser Verhält¬ nisse ist in der Hausindustrie auch schwerer zu erreichen, weil der arme Häusler deu an ihn etwa gesetzlich zu stellenden Anforderungen nicht in dem Maße folgen kann, wie der bemittelte Fabrikherr. Alle Beobachter stimmen ferner darin überein, das; die Ernährung der Hausindustrielleu besonders kärglich und un¬ zureichend ist und fast ausschließlich in Kartoffeln besteht. Der Meininger Volksmund sagt eine traurige Wahrheit mit seinem: Kartoffeln in der Früh, zu Mittag in der Bruh, des Abends mitsamt dein Kleid — Kartoffeln in Ewigkeit! So zeigen denn auch die militärischen Aushebungen einen schlechten Gesundheitszustand der Hausindustriellen als Folge aller dieser Umstünde. Während »tan früher geneigt war, anzunehmen, daß die Möglichkeit der Zeiteinteilung nach Belieben und damit verbunden überhaupt eine mäßige, Gesundheit und Familienleben nicht schädigende Arbeitszeit zu deu Vorzüge» der Hausindustrie zu rechnen sei, ist heute gerade die Arbeitszeit ein wunder Piittkt der Hausindustrieverhältnisse. Um sich bei der hvchgesteigerteu Konkurrenz und den damit verbundnen Lohnverringernngen ein einigermaßen erträgliches Leben zu schaffe«, wird die Leistungsfähigkeit aufs äußerste ange¬ spannt, die Ruhezeit ans das geringste Maß beschnitten. Der thüringische Tafelmacher arbeitet achtzehn Stunden, der Pfeifenverfertiger in Ruhla fünf¬ zehn bis sechzehn Stunden, und von der armen Filetstrickerin in den hohen Taunusdörfern sagt Schnapper-Arndt, daß sie von sechs Uhr »ivrge»s bis mindestens zehn Uhr abends an der Arbeit sitze, bald an dem kleinen Fenster, bald bei der Petroleumlampe, unablässig mit dein Fadenschlingen beschäftigt. Welche Nachteile diese übermäßige Arbeitszeit für das physische, geistige und sittliche Leben der Familien mit sich führt, bedarf keiner Schilderung. Wie für den Fabrikarbeiter wird mau auch für die Hansindnstnellen zehn Stunden als längste Arbeitszeit ansehen müssen, wenn es auch allerdings bei dergleichen Forderungen wesentlich ans die Art der Arbeit und die Körperbeschaffenheit des Arbeiters ankommt. Für die ganz kärglichen Lohnverhältnisse, die weit uuter dem stehen, was der Fabrikarbeiter durchschnittlich verdient, bringt Stieda ein reichhaltiges und zuverlässiges Material bei. Leider kommt häufig noch hinzu, daß zwischen Arbeiter und Arbeitgeber sich eine unredliche Klasse von Faktoren, Werk¬ meistern n. s. w- einschiebt, sodaß das unmittelbare Interesse des Arbeitsherrn an dem Wohl und Wehe des einzelnen Arbeiters völlig aufhört. Es klingt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/268>, abgerufen am 02.07.2024.