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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Streifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart

des Rades, die Allmacht des Eisens, die Wunder der Grvßwerkstatt, der "mW-
<!" ?oroo odöissimto et trists; er fiihrt uns in die Arbeitsräume des Che-
mikers, er zeigt uns die eisernen Fäden, die unter dem Meere die Wellen ver¬
binden.

Immer deutlicher wird in ihm dus Verlangen, eine großartige Epopöe
der Wissenschaft zu verfassen, seiner Zeit ein zweiter Lnkrez zu werden; er ver¬
senkt sich mit Eifer in das Werk dieses römischen Dichters und übersetzt das
erste Buch aus l)v imturti. r"zruiu. Aber das Jahr 187s)--71 mit seinen furcht¬
baren Szenen, Opfern nud Greuel" reißt ihn aus seinen beschaulichen Gedanken¬
kreisen und treibt ihn gewaltsam zum Pessimismus. Er erkennt die Schwächen
seines Volkes, er hält mit seinen bittern Vorwürfen nicht zurück, und doch
glaubt er an die Zukunft seines Vaterlandes.


Mit Schaudern hab ich stets in deinem Buch gelesen,
Wie unheilvoll dein Ruhm zu jeder Zeit gewesen.
Allein ich Spur in dir der Zukunft mächtges Walten . . .
Von dir hab ich mein Herz, an Schätzen reich, erhalten
lind fühl mich menschlicher, je mehr ich bi" Franzose.

Von allen französischen Dichtern, die der deutsch-frnuzösische Krieg erweckt hat,
ist Sülly-Prudhomme unzweifelhaft der bedeutendste; er hält sich fern von
aller chauvinistischen Prahlerei und weiß der furchtbaren Begebenheiten höhere
Gesichtspunkte abzugewinnen.

Den schwierigsten Problemen völlig gewachsen zeigt sich der Dichter bereits
in der Dichtung l.es <>E8tin8 (1872); hier sticht er den spinozistischen Gedanken
Poetisch darzustellen, daß die Welt weder gut uoch böse sei, daß nur ein sub¬
jektiver Optimismus oder Pessimismus diese Anschauungen in deu "tiefen Akkord
der schwebenden Geschicke" hineintragen könne. Das böse Prinzip will eine
möglichst schlechte Welt schaffen; es'macht das Leben empfänglicher für den
Schmerz, es giebt ihm die marternde Liebe, die qualvolle Sehnsucht uach makel¬
loser Schönheit, nach der ewig fliehenden Wahrheit, nach der unerreichbaren
Freiheit -- es giebt ihm das Beste, aber alles unaufhörlich bekämpft durch
das schlechteste. Das gute Prinzip will alles verbessern und erteilt der
Menschheit dieselben Güter wie das böse: Liebe und Eifer zur Wahrheit und
Freiheit, aber das Schlechte dabei unaufhörlich bekämpft dnrch das Gute.
So kommt der Dichter zu denk Schlüsse, daß der Schöpfer alles in der Welt
vernünftig eingerichtet habe:


Wir richten nnr nach uns, nicht nach den wnhrcu Gründen.
Was schadet, ist strafbar, und was uns nützt, gerecht.
Doch du läßt jedes sein deu Zweck im andern finden,
Denn Alles ist Vernunft, nichts ist gut oder schlecht.

Aber Sully-Prndhomme bleibt nicht auf diesem Standpunkte, der sich
auch in der Dichtung 1.0" v-uno-z lonäi-vssv" (1875) ausspricht, stehen; in seiner


Grenzboten IV 1889 3
Streifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart

des Rades, die Allmacht des Eisens, die Wunder der Grvßwerkstatt, der «mW-
<!« ?oroo odöissimto et trists; er fiihrt uns in die Arbeitsräume des Che-
mikers, er zeigt uns die eisernen Fäden, die unter dem Meere die Wellen ver¬
binden.

Immer deutlicher wird in ihm dus Verlangen, eine großartige Epopöe
der Wissenschaft zu verfassen, seiner Zeit ein zweiter Lnkrez zu werden; er ver¬
senkt sich mit Eifer in das Werk dieses römischen Dichters und übersetzt das
erste Buch aus l)v imturti. r«zruiu. Aber das Jahr 187s)—71 mit seinen furcht¬
baren Szenen, Opfern nud Greuel» reißt ihn aus seinen beschaulichen Gedanken¬
kreisen und treibt ihn gewaltsam zum Pessimismus. Er erkennt die Schwächen
seines Volkes, er hält mit seinen bittern Vorwürfen nicht zurück, und doch
glaubt er an die Zukunft seines Vaterlandes.


Mit Schaudern hab ich stets in deinem Buch gelesen,
Wie unheilvoll dein Ruhm zu jeder Zeit gewesen.
Allein ich Spur in dir der Zukunft mächtges Walten . . .
Von dir hab ich mein Herz, an Schätzen reich, erhalten
lind fühl mich menschlicher, je mehr ich bi» Franzose.

Von allen französischen Dichtern, die der deutsch-frnuzösische Krieg erweckt hat,
ist Sülly-Prudhomme unzweifelhaft der bedeutendste; er hält sich fern von
aller chauvinistischen Prahlerei und weiß der furchtbaren Begebenheiten höhere
Gesichtspunkte abzugewinnen.

Den schwierigsten Problemen völlig gewachsen zeigt sich der Dichter bereits
in der Dichtung l.es <>E8tin8 (1872); hier sticht er den spinozistischen Gedanken
Poetisch darzustellen, daß die Welt weder gut uoch böse sei, daß nur ein sub¬
jektiver Optimismus oder Pessimismus diese Anschauungen in deu „tiefen Akkord
der schwebenden Geschicke" hineintragen könne. Das böse Prinzip will eine
möglichst schlechte Welt schaffen; es'macht das Leben empfänglicher für den
Schmerz, es giebt ihm die marternde Liebe, die qualvolle Sehnsucht uach makel¬
loser Schönheit, nach der ewig fliehenden Wahrheit, nach der unerreichbaren
Freiheit — es giebt ihm das Beste, aber alles unaufhörlich bekämpft durch
das schlechteste. Das gute Prinzip will alles verbessern und erteilt der
Menschheit dieselben Güter wie das böse: Liebe und Eifer zur Wahrheit und
Freiheit, aber das Schlechte dabei unaufhörlich bekämpft dnrch das Gute.
So kommt der Dichter zu denk Schlüsse, daß der Schöpfer alles in der Welt
vernünftig eingerichtet habe:


Wir richten nnr nach uns, nicht nach den wnhrcu Gründen.
Was schadet, ist strafbar, und was uns nützt, gerecht.
Doch du läßt jedes sein deu Zweck im andern finden,
Denn Alles ist Vernunft, nichts ist gut oder schlecht.

Aber Sully-Prndhomme bleibt nicht auf diesem Standpunkte, der sich
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[0025] Streifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart des Rades, die Allmacht des Eisens, die Wunder der Grvßwerkstatt, der «mW- <!« ?oroo odöissimto et trists; er fiihrt uns in die Arbeitsräume des Che- mikers, er zeigt uns die eisernen Fäden, die unter dem Meere die Wellen ver¬ binden. Immer deutlicher wird in ihm dus Verlangen, eine großartige Epopöe der Wissenschaft zu verfassen, seiner Zeit ein zweiter Lnkrez zu werden; er ver¬ senkt sich mit Eifer in das Werk dieses römischen Dichters und übersetzt das erste Buch aus l)v imturti. r«zruiu. Aber das Jahr 187s)—71 mit seinen furcht¬ baren Szenen, Opfern nud Greuel» reißt ihn aus seinen beschaulichen Gedanken¬ kreisen und treibt ihn gewaltsam zum Pessimismus. Er erkennt die Schwächen seines Volkes, er hält mit seinen bittern Vorwürfen nicht zurück, und doch glaubt er an die Zukunft seines Vaterlandes. Mit Schaudern hab ich stets in deinem Buch gelesen, Wie unheilvoll dein Ruhm zu jeder Zeit gewesen. Allein ich Spur in dir der Zukunft mächtges Walten . . . Von dir hab ich mein Herz, an Schätzen reich, erhalten lind fühl mich menschlicher, je mehr ich bi» Franzose. Von allen französischen Dichtern, die der deutsch-frnuzösische Krieg erweckt hat, ist Sülly-Prudhomme unzweifelhaft der bedeutendste; er hält sich fern von aller chauvinistischen Prahlerei und weiß der furchtbaren Begebenheiten höhere Gesichtspunkte abzugewinnen. Den schwierigsten Problemen völlig gewachsen zeigt sich der Dichter bereits in der Dichtung l.es <>E8tin8 (1872); hier sticht er den spinozistischen Gedanken Poetisch darzustellen, daß die Welt weder gut uoch böse sei, daß nur ein sub¬ jektiver Optimismus oder Pessimismus diese Anschauungen in deu „tiefen Akkord der schwebenden Geschicke" hineintragen könne. Das böse Prinzip will eine möglichst schlechte Welt schaffen; es'macht das Leben empfänglicher für den Schmerz, es giebt ihm die marternde Liebe, die qualvolle Sehnsucht uach makel¬ loser Schönheit, nach der ewig fliehenden Wahrheit, nach der unerreichbaren Freiheit — es giebt ihm das Beste, aber alles unaufhörlich bekämpft durch das schlechteste. Das gute Prinzip will alles verbessern und erteilt der Menschheit dieselben Güter wie das böse: Liebe und Eifer zur Wahrheit und Freiheit, aber das Schlechte dabei unaufhörlich bekämpft dnrch das Gute. So kommt der Dichter zu denk Schlüsse, daß der Schöpfer alles in der Welt vernünftig eingerichtet habe: Wir richten nnr nach uns, nicht nach den wnhrcu Gründen. Was schadet, ist strafbar, und was uns nützt, gerecht. Doch du läßt jedes sein deu Zweck im andern finden, Denn Alles ist Vernunft, nichts ist gut oder schlecht. Aber Sully-Prndhomme bleibt nicht auf diesem Standpunkte, der sich auch in der Dichtung 1.0» v-uno-z lonäi-vssv« (1875) ausspricht, stehen; in seiner Grenzboten IV 1889 3

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/25>, abgerufen am 28.06.2024.