Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Linse und Jetzt

wegtcu Lichtern, das Gebirge durch die vor dem Wandernden wechselnde Grup-
pirung von Baiun und Fels. Aber das Meer ist eine lebentötende Fläche,
es bietet dein Menschen keine Stelle zum wohnen, er gleitet nnr drüber hin,
"in andre Küsten zu betreten. Im Gebirge blüht ein reiches Menschenleben,
das sich in mancher Beziehung sogar üppiger entfaltet als das ländliche Leben
ans der Ebene. Der Gebirgsbauer hat leichte Arbeit, dn er nur Viehzucht treibt,
es bleibt ihm Muße, die Dichtkunst in Schnadahüpfln, die Musik im Zither¬
spiel und Gesang, den Schuhplattltanz auszubilden, die Anwohner der See
müssen in harter Arbeit unter steter Lebensgefahr ihr kärgliches Brot dem
Meere im Fischfang abgewinnen, sie haben keine Muße für das Unartige
des Lebens.

Wislieeuus stellt auf einem Bilde bei Schack die Phantasie dar, von den
Träumen getragen. Die heutige Malerei will von Phantasie nichts wissen,
daher keine Nvvellenstoffe mehr wie bei Schack auf den anziehenden Bildchen
von Karl Spitzweg. In der Gasse einer altdeutschen Stadt nimmt ein Jüng¬
ling Abschied von einen, Mädchen, die Postkutsche wartet, ihn zu entführen.
Der im Dachstübchen nach hinten wohnende alte Junggeselle erspäht seine
Nachbarin beim Schein der Lampe nähend, ihm kommen Gedanken, daß er es
anders hätte haben können. Leute haben einen Vvrberg der Alpen erstiegen,
von der Ebne ist nnr wenig dargestellt, aber die Leute blicken nach der Richtung
hinaus, wo sie liegt, und erwecken in dem Beschauer so die Vorstellung der
weiten Aussicht besser, als wenn diese dargestellt wäre. Schon das ist nach
Ansicht der Neuern verkehrt, sie wollen die Einbildungskraft nicht einmal zur
körperlichen Fortsetzung des Bildes anregen, was doch noch immer ein Sehen,
wenn auch ein geistiges ist, wie viel weniger einen der andern Sinne reizen,
z. B. das Gehör. In vielen Bildern bei Schack findet sich mi unmittelbares
musikalisches Element. Eine Zigeunerfamilie ist ans weiter Ebne zum Abend
um ein Feuer versammelt, der Mann spielt die Geige, und im Geiste hört der
Beschauer die Töne über die dämmernde Heide ziehen. Karl Werner zeigt bei
Schack eine verfallne Kirche. Regenwasser steht darin, eine Schlange kriecht
über den Boden, ein zerfetzter Lehnsessel steht neben der halben eingestürzten
Kanzel, alles gemahnt an das Leben, das einst in diesen Räumen geherrscht
hat, und spricht wehmütig von seinem Erlöschen. Ein moderner Künstler würde
nur das Äußere des Verfalles darstellen, lind doch wird jedem, der einen
solchen Raum in Wirklichkeit betritt, sogleich die Erinnerung des frühern Lebens
erwachen, wie niemand eine Leiche sieht, ohne an den lebenden Meuschen zurück¬
zudenken.

Und ist denn in einen, Nvvellenstoff etwas außer dem Bereiche der Malerei
liegendes? Ich denke, nein, wenn er richtig gewählt wird. Man sieht aus
dem Bilde von Vautier "Auf dem Stnndesamte" die Befnugeuheit der jungen
Brune, mit des Schreibens ungewohnter Hand ihren Na,neu zu eine", so


Linse und Jetzt

wegtcu Lichtern, das Gebirge durch die vor dem Wandernden wechselnde Grup-
pirung von Baiun und Fels. Aber das Meer ist eine lebentötende Fläche,
es bietet dein Menschen keine Stelle zum wohnen, er gleitet nnr drüber hin,
»in andre Küsten zu betreten. Im Gebirge blüht ein reiches Menschenleben,
das sich in mancher Beziehung sogar üppiger entfaltet als das ländliche Leben
ans der Ebene. Der Gebirgsbauer hat leichte Arbeit, dn er nur Viehzucht treibt,
es bleibt ihm Muße, die Dichtkunst in Schnadahüpfln, die Musik im Zither¬
spiel und Gesang, den Schuhplattltanz auszubilden, die Anwohner der See
müssen in harter Arbeit unter steter Lebensgefahr ihr kärgliches Brot dem
Meere im Fischfang abgewinnen, sie haben keine Muße für das Unartige
des Lebens.

Wislieeuus stellt auf einem Bilde bei Schack die Phantasie dar, von den
Träumen getragen. Die heutige Malerei will von Phantasie nichts wissen,
daher keine Nvvellenstoffe mehr wie bei Schack auf den anziehenden Bildchen
von Karl Spitzweg. In der Gasse einer altdeutschen Stadt nimmt ein Jüng¬
ling Abschied von einen, Mädchen, die Postkutsche wartet, ihn zu entführen.
Der im Dachstübchen nach hinten wohnende alte Junggeselle erspäht seine
Nachbarin beim Schein der Lampe nähend, ihm kommen Gedanken, daß er es
anders hätte haben können. Leute haben einen Vvrberg der Alpen erstiegen,
von der Ebne ist nnr wenig dargestellt, aber die Leute blicken nach der Richtung
hinaus, wo sie liegt, und erwecken in dem Beschauer so die Vorstellung der
weiten Aussicht besser, als wenn diese dargestellt wäre. Schon das ist nach
Ansicht der Neuern verkehrt, sie wollen die Einbildungskraft nicht einmal zur
körperlichen Fortsetzung des Bildes anregen, was doch noch immer ein Sehen,
wenn auch ein geistiges ist, wie viel weniger einen der andern Sinne reizen,
z. B. das Gehör. In vielen Bildern bei Schack findet sich mi unmittelbares
musikalisches Element. Eine Zigeunerfamilie ist ans weiter Ebne zum Abend
um ein Feuer versammelt, der Mann spielt die Geige, und im Geiste hört der
Beschauer die Töne über die dämmernde Heide ziehen. Karl Werner zeigt bei
Schack eine verfallne Kirche. Regenwasser steht darin, eine Schlange kriecht
über den Boden, ein zerfetzter Lehnsessel steht neben der halben eingestürzten
Kanzel, alles gemahnt an das Leben, das einst in diesen Räumen geherrscht
hat, und spricht wehmütig von seinem Erlöschen. Ein moderner Künstler würde
nur das Äußere des Verfalles darstellen, lind doch wird jedem, der einen
solchen Raum in Wirklichkeit betritt, sogleich die Erinnerung des frühern Lebens
erwachen, wie niemand eine Leiche sieht, ohne an den lebenden Meuschen zurück¬
zudenken.

Und ist denn in einen, Nvvellenstoff etwas außer dem Bereiche der Malerei
liegendes? Ich denke, nein, wenn er richtig gewählt wird. Man sieht aus
dem Bilde von Vautier „Auf dem Stnndesamte" die Befnugeuheit der jungen
Brune, mit des Schreibens ungewohnter Hand ihren Na,neu zu eine», so


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0244" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206243"/>
          <fw type="header" place="top"> Linse und Jetzt</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_820" prev="#ID_819"> wegtcu Lichtern, das Gebirge durch die vor dem Wandernden wechselnde Grup-<lb/>
pirung von Baiun und Fels. Aber das Meer ist eine lebentötende Fläche,<lb/>
es bietet dein Menschen keine Stelle zum wohnen, er gleitet nnr drüber hin,<lb/>
»in andre Küsten zu betreten. Im Gebirge blüht ein reiches Menschenleben,<lb/>
das sich in mancher Beziehung sogar üppiger entfaltet als das ländliche Leben<lb/>
ans der Ebene. Der Gebirgsbauer hat leichte Arbeit, dn er nur Viehzucht treibt,<lb/>
es bleibt ihm Muße, die Dichtkunst in Schnadahüpfln, die Musik im Zither¬<lb/>
spiel und Gesang, den Schuhplattltanz auszubilden, die Anwohner der See<lb/>
müssen in harter Arbeit unter steter Lebensgefahr ihr kärgliches Brot dem<lb/>
Meere im Fischfang abgewinnen, sie haben keine Muße für das Unartige<lb/>
des Lebens.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_821"> Wislieeuus stellt auf einem Bilde bei Schack die Phantasie dar, von den<lb/>
Träumen getragen. Die heutige Malerei will von Phantasie nichts wissen,<lb/>
daher keine Nvvellenstoffe mehr wie bei Schack auf den anziehenden Bildchen<lb/>
von Karl Spitzweg. In der Gasse einer altdeutschen Stadt nimmt ein Jüng¬<lb/>
ling Abschied von einen, Mädchen, die Postkutsche wartet, ihn zu entführen.<lb/>
Der im Dachstübchen nach hinten wohnende alte Junggeselle erspäht seine<lb/>
Nachbarin beim Schein der Lampe nähend, ihm kommen Gedanken, daß er es<lb/>
anders hätte haben können. Leute haben einen Vvrberg der Alpen erstiegen,<lb/>
von der Ebne ist nnr wenig dargestellt, aber die Leute blicken nach der Richtung<lb/>
hinaus, wo sie liegt, und erwecken in dem Beschauer so die Vorstellung der<lb/>
weiten Aussicht besser, als wenn diese dargestellt wäre. Schon das ist nach<lb/>
Ansicht der Neuern verkehrt, sie wollen die Einbildungskraft nicht einmal zur<lb/>
körperlichen Fortsetzung des Bildes anregen, was doch noch immer ein Sehen,<lb/>
wenn auch ein geistiges ist, wie viel weniger einen der andern Sinne reizen,<lb/>
z. B. das Gehör. In vielen Bildern bei Schack findet sich mi unmittelbares<lb/>
musikalisches Element. Eine Zigeunerfamilie ist ans weiter Ebne zum Abend<lb/>
um ein Feuer versammelt, der Mann spielt die Geige, und im Geiste hört der<lb/>
Beschauer die Töne über die dämmernde Heide ziehen. Karl Werner zeigt bei<lb/>
Schack eine verfallne Kirche. Regenwasser steht darin, eine Schlange kriecht<lb/>
über den Boden, ein zerfetzter Lehnsessel steht neben der halben eingestürzten<lb/>
Kanzel, alles gemahnt an das Leben, das einst in diesen Räumen geherrscht<lb/>
hat, und spricht wehmütig von seinem Erlöschen. Ein moderner Künstler würde<lb/>
nur das Äußere des Verfalles darstellen, lind doch wird jedem, der einen<lb/>
solchen Raum in Wirklichkeit betritt, sogleich die Erinnerung des frühern Lebens<lb/>
erwachen, wie niemand eine Leiche sieht, ohne an den lebenden Meuschen zurück¬<lb/>
zudenken.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_822" next="#ID_823"> Und ist denn in einen, Nvvellenstoff etwas außer dem Bereiche der Malerei<lb/>
liegendes? Ich denke, nein, wenn er richtig gewählt wird. Man sieht aus<lb/>
dem Bilde von Vautier &#x201E;Auf dem Stnndesamte" die Befnugeuheit der jungen<lb/>
Brune, mit des Schreibens ungewohnter Hand ihren Na,neu zu eine», so</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0244] Linse und Jetzt wegtcu Lichtern, das Gebirge durch die vor dem Wandernden wechselnde Grup- pirung von Baiun und Fels. Aber das Meer ist eine lebentötende Fläche, es bietet dein Menschen keine Stelle zum wohnen, er gleitet nnr drüber hin, »in andre Küsten zu betreten. Im Gebirge blüht ein reiches Menschenleben, das sich in mancher Beziehung sogar üppiger entfaltet als das ländliche Leben ans der Ebene. Der Gebirgsbauer hat leichte Arbeit, dn er nur Viehzucht treibt, es bleibt ihm Muße, die Dichtkunst in Schnadahüpfln, die Musik im Zither¬ spiel und Gesang, den Schuhplattltanz auszubilden, die Anwohner der See müssen in harter Arbeit unter steter Lebensgefahr ihr kärgliches Brot dem Meere im Fischfang abgewinnen, sie haben keine Muße für das Unartige des Lebens. Wislieeuus stellt auf einem Bilde bei Schack die Phantasie dar, von den Träumen getragen. Die heutige Malerei will von Phantasie nichts wissen, daher keine Nvvellenstoffe mehr wie bei Schack auf den anziehenden Bildchen von Karl Spitzweg. In der Gasse einer altdeutschen Stadt nimmt ein Jüng¬ ling Abschied von einen, Mädchen, die Postkutsche wartet, ihn zu entführen. Der im Dachstübchen nach hinten wohnende alte Junggeselle erspäht seine Nachbarin beim Schein der Lampe nähend, ihm kommen Gedanken, daß er es anders hätte haben können. Leute haben einen Vvrberg der Alpen erstiegen, von der Ebne ist nnr wenig dargestellt, aber die Leute blicken nach der Richtung hinaus, wo sie liegt, und erwecken in dem Beschauer so die Vorstellung der weiten Aussicht besser, als wenn diese dargestellt wäre. Schon das ist nach Ansicht der Neuern verkehrt, sie wollen die Einbildungskraft nicht einmal zur körperlichen Fortsetzung des Bildes anregen, was doch noch immer ein Sehen, wenn auch ein geistiges ist, wie viel weniger einen der andern Sinne reizen, z. B. das Gehör. In vielen Bildern bei Schack findet sich mi unmittelbares musikalisches Element. Eine Zigeunerfamilie ist ans weiter Ebne zum Abend um ein Feuer versammelt, der Mann spielt die Geige, und im Geiste hört der Beschauer die Töne über die dämmernde Heide ziehen. Karl Werner zeigt bei Schack eine verfallne Kirche. Regenwasser steht darin, eine Schlange kriecht über den Boden, ein zerfetzter Lehnsessel steht neben der halben eingestürzten Kanzel, alles gemahnt an das Leben, das einst in diesen Räumen geherrscht hat, und spricht wehmütig von seinem Erlöschen. Ein moderner Künstler würde nur das Äußere des Verfalles darstellen, lind doch wird jedem, der einen solchen Raum in Wirklichkeit betritt, sogleich die Erinnerung des frühern Lebens erwachen, wie niemand eine Leiche sieht, ohne an den lebenden Meuschen zurück¬ zudenken. Und ist denn in einen, Nvvellenstoff etwas außer dem Bereiche der Malerei liegendes? Ich denke, nein, wenn er richtig gewählt wird. Man sieht aus dem Bilde von Vautier „Auf dem Stnndesamte" die Befnugeuheit der jungen Brune, mit des Schreibens ungewohnter Hand ihren Na,neu zu eine», so

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/244
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/244>, abgerufen am 30.06.2024.