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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Linse und Jetzt

wo ihrs packt, da ists interessant? An den idealen, romantischen Stoffen hat
sich die Welt früher gesättigt, wir greifen fröhlich hinein ins Alltägliche, ruft
der Künstler ans. Leider vergißt er aber, daß das Menschenleben nicht an
sich interessant ist, sondern es erst durch die Auffassung wird. Ein junger
Bauer mit der Sense auf dein Rücken und eine Dirne mit dem Milchgefäß
gehen auf der Wiese an einander vorüber und betrachten einander von fern.
Das wird uns doch erst interessant, wenn wir irgend welche novellistische Be¬
ziehungen zwischen den beiden herausmerken, aber sorgfältig l)at Hans Otte
ans seinem Bilde eine Andeutung derselben vermieden. Frauen ans der Düne
sitzend oder stehend sind uns langweilig, wenn wir nicht sehen, daß sie z. B.
die Rückkehr ihrer Männer vom Fischfang erwarten. In, die Maler, die so
natürlich sein sollen, schlagen der Natur geradezu ins Gesicht; es ist nicht
wahr, daß badende Jungen weiter nichts thun, als in das grelle Sonnenlicht
blinzeln. Wo ihrer ein Dutzend beisammen sind, wie auf dem Bilde von Otto
Sindig, dn treiben sie allerlei Scherz und Kurzweil mit einander. Schafe auf
dein Heimwege, lebensgroß dargestellt, zu weiter nichts benutzt, als hell-
leuchtende weiße wollige Flocken auf dem grünen Grund der Wiese zu geben
-- wie kann der Maler verlangen, daß wir solch ein Bild mit Teilnahme
betrachten? Schlimmer noch! Das alles sind ja Gegenstände, bei denen in¬
haltlich uicht viel oder gar nichts aufzugeben ist; aber wen wird eS nicht ver¬
stimmen, wenn ein Maler an einem Mädchen, das zur ersten Kommunion geht,
mir das schimmern des Lichtes auf dem Weißen Schleier darstellt und außer¬
dem weiter nichts giebt als ein dummes, befangenes Gesicht? Wenn Lieber-
mann nur das Tanzen des Sonnenlichts auf den Köpfen einer im Walde ver¬
sammelten Menge geben will, warum läßt er sich diese dann zu einer Predigt
zusammenstunden?

Dasselbe Bestreben, möglichst äußerlich zu sein, macht sich in der Land¬
schaft geltend. Sehr fein in einer gewissen Beziehung sind die Landschaften
von Balsas und Schönleber beobachtet, aber die Maler wollen darin nichts
weiter vorführen, als die vorübergehende Wettererscheinung. Die Landschaften
beim Grafen Schack zeigen alle, daß der Maler darin gelebt hat, daß der
Felsensteg, das Häuschen im Walde, der spiegelnde See ihm persönlich ver¬
traut sind. Dürfte ein Dichter es unternehmen, in einem Gedichte Landschaft
ohne Beziehung ans den Menschen zu schildern? Man denke an Goethes
Gedicht "Auf dem See." Wäre das überhaupt noch etwas ohne die persönliche
Verbindung mit dem Dichter, der den See befährt? Das Jnteressanteste ist
immer der Mensch und die Beziehung zu ihm in andern Dingen, warum also
gerade ihn ausscheiden? Hochgebirge und Meer hört man oft mit einander
vergleichen und die Frage aufwerfen, was man höher schätze. Die meisten
werden sich zu Gunsten des Gebirges aussprechen. In ihrer äußern Erscheinung
sind beide reich, das Meer mit seiner wechselnden Farbe und seinen ewig be-


Linse und Jetzt

wo ihrs packt, da ists interessant? An den idealen, romantischen Stoffen hat
sich die Welt früher gesättigt, wir greifen fröhlich hinein ins Alltägliche, ruft
der Künstler ans. Leider vergißt er aber, daß das Menschenleben nicht an
sich interessant ist, sondern es erst durch die Auffassung wird. Ein junger
Bauer mit der Sense auf dein Rücken und eine Dirne mit dem Milchgefäß
gehen auf der Wiese an einander vorüber und betrachten einander von fern.
Das wird uns doch erst interessant, wenn wir irgend welche novellistische Be¬
ziehungen zwischen den beiden herausmerken, aber sorgfältig l)at Hans Otte
ans seinem Bilde eine Andeutung derselben vermieden. Frauen ans der Düne
sitzend oder stehend sind uns langweilig, wenn wir nicht sehen, daß sie z. B.
die Rückkehr ihrer Männer vom Fischfang erwarten. In, die Maler, die so
natürlich sein sollen, schlagen der Natur geradezu ins Gesicht; es ist nicht
wahr, daß badende Jungen weiter nichts thun, als in das grelle Sonnenlicht
blinzeln. Wo ihrer ein Dutzend beisammen sind, wie auf dem Bilde von Otto
Sindig, dn treiben sie allerlei Scherz und Kurzweil mit einander. Schafe auf
dein Heimwege, lebensgroß dargestellt, zu weiter nichts benutzt, als hell-
leuchtende weiße wollige Flocken auf dem grünen Grund der Wiese zu geben
— wie kann der Maler verlangen, daß wir solch ein Bild mit Teilnahme
betrachten? Schlimmer noch! Das alles sind ja Gegenstände, bei denen in¬
haltlich uicht viel oder gar nichts aufzugeben ist; aber wen wird eS nicht ver¬
stimmen, wenn ein Maler an einem Mädchen, das zur ersten Kommunion geht,
mir das schimmern des Lichtes auf dem Weißen Schleier darstellt und außer¬
dem weiter nichts giebt als ein dummes, befangenes Gesicht? Wenn Lieber-
mann nur das Tanzen des Sonnenlichts auf den Köpfen einer im Walde ver¬
sammelten Menge geben will, warum läßt er sich diese dann zu einer Predigt
zusammenstunden?

Dasselbe Bestreben, möglichst äußerlich zu sein, macht sich in der Land¬
schaft geltend. Sehr fein in einer gewissen Beziehung sind die Landschaften
von Balsas und Schönleber beobachtet, aber die Maler wollen darin nichts
weiter vorführen, als die vorübergehende Wettererscheinung. Die Landschaften
beim Grafen Schack zeigen alle, daß der Maler darin gelebt hat, daß der
Felsensteg, das Häuschen im Walde, der spiegelnde See ihm persönlich ver¬
traut sind. Dürfte ein Dichter es unternehmen, in einem Gedichte Landschaft
ohne Beziehung ans den Menschen zu schildern? Man denke an Goethes
Gedicht „Auf dem See." Wäre das überhaupt noch etwas ohne die persönliche
Verbindung mit dem Dichter, der den See befährt? Das Jnteressanteste ist
immer der Mensch und die Beziehung zu ihm in andern Dingen, warum also
gerade ihn ausscheiden? Hochgebirge und Meer hört man oft mit einander
vergleichen und die Frage aufwerfen, was man höher schätze. Die meisten
werden sich zu Gunsten des Gebirges aussprechen. In ihrer äußern Erscheinung
sind beide reich, das Meer mit seiner wechselnden Farbe und seinen ewig be-


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[0243] Linse und Jetzt wo ihrs packt, da ists interessant? An den idealen, romantischen Stoffen hat sich die Welt früher gesättigt, wir greifen fröhlich hinein ins Alltägliche, ruft der Künstler ans. Leider vergißt er aber, daß das Menschenleben nicht an sich interessant ist, sondern es erst durch die Auffassung wird. Ein junger Bauer mit der Sense auf dein Rücken und eine Dirne mit dem Milchgefäß gehen auf der Wiese an einander vorüber und betrachten einander von fern. Das wird uns doch erst interessant, wenn wir irgend welche novellistische Be¬ ziehungen zwischen den beiden herausmerken, aber sorgfältig l)at Hans Otte ans seinem Bilde eine Andeutung derselben vermieden. Frauen ans der Düne sitzend oder stehend sind uns langweilig, wenn wir nicht sehen, daß sie z. B. die Rückkehr ihrer Männer vom Fischfang erwarten. In, die Maler, die so natürlich sein sollen, schlagen der Natur geradezu ins Gesicht; es ist nicht wahr, daß badende Jungen weiter nichts thun, als in das grelle Sonnenlicht blinzeln. Wo ihrer ein Dutzend beisammen sind, wie auf dem Bilde von Otto Sindig, dn treiben sie allerlei Scherz und Kurzweil mit einander. Schafe auf dein Heimwege, lebensgroß dargestellt, zu weiter nichts benutzt, als hell- leuchtende weiße wollige Flocken auf dem grünen Grund der Wiese zu geben — wie kann der Maler verlangen, daß wir solch ein Bild mit Teilnahme betrachten? Schlimmer noch! Das alles sind ja Gegenstände, bei denen in¬ haltlich uicht viel oder gar nichts aufzugeben ist; aber wen wird eS nicht ver¬ stimmen, wenn ein Maler an einem Mädchen, das zur ersten Kommunion geht, mir das schimmern des Lichtes auf dem Weißen Schleier darstellt und außer¬ dem weiter nichts giebt als ein dummes, befangenes Gesicht? Wenn Lieber- mann nur das Tanzen des Sonnenlichts auf den Köpfen einer im Walde ver¬ sammelten Menge geben will, warum läßt er sich diese dann zu einer Predigt zusammenstunden? Dasselbe Bestreben, möglichst äußerlich zu sein, macht sich in der Land¬ schaft geltend. Sehr fein in einer gewissen Beziehung sind die Landschaften von Balsas und Schönleber beobachtet, aber die Maler wollen darin nichts weiter vorführen, als die vorübergehende Wettererscheinung. Die Landschaften beim Grafen Schack zeigen alle, daß der Maler darin gelebt hat, daß der Felsensteg, das Häuschen im Walde, der spiegelnde See ihm persönlich ver¬ traut sind. Dürfte ein Dichter es unternehmen, in einem Gedichte Landschaft ohne Beziehung ans den Menschen zu schildern? Man denke an Goethes Gedicht „Auf dem See." Wäre das überhaupt noch etwas ohne die persönliche Verbindung mit dem Dichter, der den See befährt? Das Jnteressanteste ist immer der Mensch und die Beziehung zu ihm in andern Dingen, warum also gerade ihn ausscheiden? Hochgebirge und Meer hört man oft mit einander vergleichen und die Frage aufwerfen, was man höher schätze. Die meisten werden sich zu Gunsten des Gebirges aussprechen. In ihrer äußern Erscheinung sind beide reich, das Meer mit seiner wechselnden Farbe und seinen ewig be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/243>, abgerufen am 22.12.2024.