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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Ludämcmismus wider Pessimismus

Gefühlen entstandnen Daten müssen bei der sittlichen Lebensführung mit ver¬
arbeitet und zweckmäßig verwertet werden. Und dafür sind Lust und Unlust
oft trügerische Leitsterne, da sie nur Erkenntnisgründe der Bedürfnisse, Symptome
und gleich allen Symptomen unzuverlässig sind, wie ja der Verfasser selbst
mehrfach scharfsinnig entwickelt. Dagegen dürfen sie nicht als Realgründe des
Handelns zum leitenden Prinzip gemacht werden.

Und darum ist schließlich jedes Prinzip des Eudämonismus, selbst das
feinstgesponnene wie das des Verfassers, so gefährlich, weil es unvermerkt die
Lust und Unlust, einen ErkenntuiSgruud, zum leitenden Nealgrnnd des Strebens
macht. Denn der von einem bewußten Wesen beharrlich verfolgte Zweck wird
zu einem mächtigen Realgründe. Hauptzweck aber der ethischen Bestrebungen
der einzelnen Menschen soll sein, für die Erfordernisse der menschlichen Natur,
die letzten Realgründe der Gefühle und des Strebens, innerhalb der Verhältnisse,
in denen die menschliche Natur steht, also allerdings für ihren zum Teil dnrch
nüchterne, gefühlsleere Erwägungen zu ermittelnder objektiven Wert nach Kräften
zu sorgen, und zwar, je höher diese Erfordernisse gerichtet sind, um so mehr, also
sür die geistigen mehr als für die leiblichen, für die sittlichen mehr als für die
geistigen. Dabei sollen denn die Gefühle als Triebfedern aller Handlungen
gebührend berücksichtigt werden, und darum ist auch des Verfassers Ansicht
als in vieler Hinsicht sehr wertvoll anzusehen. Aber höher als Lust und
Unlust stehen die Interessen, die aus dem steten Zusammenwirken von Lust und
Unlust einerseits und von zwecksetzender Thätigkeit anderseits entstehenden, von
der Gemeinschaft der Menschen zu regelnden wertbestimmenden Zugkräfte des
Lebens. Die Interessen der menschlichen Gemeinschaft aber bestehen darin, daß
ihr Leben überall möglichst gefördert und reich entwickelt und mit dein Leben
der Menschheit in möglichste Übereinstimmung gebracht werde, und jedes einzelne
Leben soll objektiven Wert dadurch erhalten, daß es die Interessen der mensch¬
lichen Gemeinschaft auch zu den seinigen macht. Wie dies geschehen soll, hat
die Ethik anzugeben, die die Handlungen nach ihren gesamten beabsichtigten
oder thatsächlich eingetretenen Wirkungen beurteilen lehrt und dabei der Güter¬
lehre eine gebührende Stelle einräumt.

Der Verfasser verspricht sich von. dem richtig geleiteten Bewußtsein des
wahren Eigenwertes das höchste Maß erreichbarer Glückseligkeit. Er führt
dafür auch beherzigenswerte Zeugnisse an, z. B. einen Ausspruch der durch
sittliche Führung ausgezeichneten Tongainsulaner: "Nach einer guten That
haben wir ein schönes herrliches Gefühl, darum handeln wir gut," und die
Worte I. Grimms: "So lauge ich Atem ziehe, werde ich froh sein, gethan zu
haben, was ich that," ferner die gewiß zum Nachdenken sehr anregende That¬
sache, daß es für den sibirische,: Zwangsarbeiter die schrecklichste Strafe ist,
die ihn zur Verzweiflung bringt, wenn er zu völlig zweckloser Arbeit, z. B.
Erde von einer Stelle weg und dann wieder an dieselbe Stelle zu schaffen ge-


Ludämcmismus wider Pessimismus

Gefühlen entstandnen Daten müssen bei der sittlichen Lebensführung mit ver¬
arbeitet und zweckmäßig verwertet werden. Und dafür sind Lust und Unlust
oft trügerische Leitsterne, da sie nur Erkenntnisgründe der Bedürfnisse, Symptome
und gleich allen Symptomen unzuverlässig sind, wie ja der Verfasser selbst
mehrfach scharfsinnig entwickelt. Dagegen dürfen sie nicht als Realgründe des
Handelns zum leitenden Prinzip gemacht werden.

Und darum ist schließlich jedes Prinzip des Eudämonismus, selbst das
feinstgesponnene wie das des Verfassers, so gefährlich, weil es unvermerkt die
Lust und Unlust, einen ErkenntuiSgruud, zum leitenden Nealgrnnd des Strebens
macht. Denn der von einem bewußten Wesen beharrlich verfolgte Zweck wird
zu einem mächtigen Realgründe. Hauptzweck aber der ethischen Bestrebungen
der einzelnen Menschen soll sein, für die Erfordernisse der menschlichen Natur,
die letzten Realgründe der Gefühle und des Strebens, innerhalb der Verhältnisse,
in denen die menschliche Natur steht, also allerdings für ihren zum Teil dnrch
nüchterne, gefühlsleere Erwägungen zu ermittelnder objektiven Wert nach Kräften
zu sorgen, und zwar, je höher diese Erfordernisse gerichtet sind, um so mehr, also
sür die geistigen mehr als für die leiblichen, für die sittlichen mehr als für die
geistigen. Dabei sollen denn die Gefühle als Triebfedern aller Handlungen
gebührend berücksichtigt werden, und darum ist auch des Verfassers Ansicht
als in vieler Hinsicht sehr wertvoll anzusehen. Aber höher als Lust und
Unlust stehen die Interessen, die aus dem steten Zusammenwirken von Lust und
Unlust einerseits und von zwecksetzender Thätigkeit anderseits entstehenden, von
der Gemeinschaft der Menschen zu regelnden wertbestimmenden Zugkräfte des
Lebens. Die Interessen der menschlichen Gemeinschaft aber bestehen darin, daß
ihr Leben überall möglichst gefördert und reich entwickelt und mit dein Leben
der Menschheit in möglichste Übereinstimmung gebracht werde, und jedes einzelne
Leben soll objektiven Wert dadurch erhalten, daß es die Interessen der mensch¬
lichen Gemeinschaft auch zu den seinigen macht. Wie dies geschehen soll, hat
die Ethik anzugeben, die die Handlungen nach ihren gesamten beabsichtigten
oder thatsächlich eingetretenen Wirkungen beurteilen lehrt und dabei der Güter¬
lehre eine gebührende Stelle einräumt.

Der Verfasser verspricht sich von. dem richtig geleiteten Bewußtsein des
wahren Eigenwertes das höchste Maß erreichbarer Glückseligkeit. Er führt
dafür auch beherzigenswerte Zeugnisse an, z. B. einen Ausspruch der durch
sittliche Führung ausgezeichneten Tongainsulaner: „Nach einer guten That
haben wir ein schönes herrliches Gefühl, darum handeln wir gut," und die
Worte I. Grimms: „So lauge ich Atem ziehe, werde ich froh sein, gethan zu
haben, was ich that," ferner die gewiß zum Nachdenken sehr anregende That¬
sache, daß es für den sibirische,: Zwangsarbeiter die schrecklichste Strafe ist,
die ihn zur Verzweiflung bringt, wenn er zu völlig zweckloser Arbeit, z. B.
Erde von einer Stelle weg und dann wieder an dieselbe Stelle zu schaffen ge-


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[0230] Ludämcmismus wider Pessimismus Gefühlen entstandnen Daten müssen bei der sittlichen Lebensführung mit ver¬ arbeitet und zweckmäßig verwertet werden. Und dafür sind Lust und Unlust oft trügerische Leitsterne, da sie nur Erkenntnisgründe der Bedürfnisse, Symptome und gleich allen Symptomen unzuverlässig sind, wie ja der Verfasser selbst mehrfach scharfsinnig entwickelt. Dagegen dürfen sie nicht als Realgründe des Handelns zum leitenden Prinzip gemacht werden. Und darum ist schließlich jedes Prinzip des Eudämonismus, selbst das feinstgesponnene wie das des Verfassers, so gefährlich, weil es unvermerkt die Lust und Unlust, einen ErkenntuiSgruud, zum leitenden Nealgrnnd des Strebens macht. Denn der von einem bewußten Wesen beharrlich verfolgte Zweck wird zu einem mächtigen Realgründe. Hauptzweck aber der ethischen Bestrebungen der einzelnen Menschen soll sein, für die Erfordernisse der menschlichen Natur, die letzten Realgründe der Gefühle und des Strebens, innerhalb der Verhältnisse, in denen die menschliche Natur steht, also allerdings für ihren zum Teil dnrch nüchterne, gefühlsleere Erwägungen zu ermittelnder objektiven Wert nach Kräften zu sorgen, und zwar, je höher diese Erfordernisse gerichtet sind, um so mehr, also sür die geistigen mehr als für die leiblichen, für die sittlichen mehr als für die geistigen. Dabei sollen denn die Gefühle als Triebfedern aller Handlungen gebührend berücksichtigt werden, und darum ist auch des Verfassers Ansicht als in vieler Hinsicht sehr wertvoll anzusehen. Aber höher als Lust und Unlust stehen die Interessen, die aus dem steten Zusammenwirken von Lust und Unlust einerseits und von zwecksetzender Thätigkeit anderseits entstehenden, von der Gemeinschaft der Menschen zu regelnden wertbestimmenden Zugkräfte des Lebens. Die Interessen der menschlichen Gemeinschaft aber bestehen darin, daß ihr Leben überall möglichst gefördert und reich entwickelt und mit dein Leben der Menschheit in möglichste Übereinstimmung gebracht werde, und jedes einzelne Leben soll objektiven Wert dadurch erhalten, daß es die Interessen der mensch¬ lichen Gemeinschaft auch zu den seinigen macht. Wie dies geschehen soll, hat die Ethik anzugeben, die die Handlungen nach ihren gesamten beabsichtigten oder thatsächlich eingetretenen Wirkungen beurteilen lehrt und dabei der Güter¬ lehre eine gebührende Stelle einräumt. Der Verfasser verspricht sich von. dem richtig geleiteten Bewußtsein des wahren Eigenwertes das höchste Maß erreichbarer Glückseligkeit. Er führt dafür auch beherzigenswerte Zeugnisse an, z. B. einen Ausspruch der durch sittliche Führung ausgezeichneten Tongainsulaner: „Nach einer guten That haben wir ein schönes herrliches Gefühl, darum handeln wir gut," und die Worte I. Grimms: „So lauge ich Atem ziehe, werde ich froh sein, gethan zu haben, was ich that," ferner die gewiß zum Nachdenken sehr anregende That¬ sache, daß es für den sibirische,: Zwangsarbeiter die schrecklichste Strafe ist, die ihn zur Verzweiflung bringt, wenn er zu völlig zweckloser Arbeit, z. B. Erde von einer Stelle weg und dann wieder an dieselbe Stelle zu schaffen ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/230>, abgerufen am 30.06.2024.