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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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GudÄmonismus wider Pessimismus

Mystiker, aber mit überlegterer sittlicher Kraft, überwindet und zu einer Wieder¬
geburt in dem Streben nach dem Ideal führt; denn es giebt nichts absolut
Wertvolles als den guten Willen.

Die Aufgabe, um die es sich sonach handelt, erscheint dem Verfasser als
eine konservative, gesellschafterhaltende. Nicht durch Negation, Zerbröckeluiig
und Schwächung der alten Kulturgrundlagen kann sie gelöst werden, wie die
falsche Aufklärung meinte, sondern nur durch Legung eines neuen, haltbaren
Untergrundes. Den zu solcher Arbeit berufenen ziemt nicht polterndes Schelten,
Anstürmen, Niederreißen, sondern schonender Respekt vor deu durch ihren tief-
sinnigen Inhalt und durch die Jahrhunderte ihrer Wirksamkeit ehrwürdigen
bisherigen Palladien der Gesellschaft in prinzipiellen Streben nach Formu-
lirung des Neuen, aber auch der furchtlose Freimut der eignen Überzeugung.
Daß der Verfasser die erhaltenden Mächte vollauf zu würdigen weiß, zeigt n. n.
feine treffliche Besprechung der Bedeutung des christlichen, vor allem des
deutschen Staates.

So geistvoll aber des Verfassers Betrachtungen sind, so erheben sich doch
auch, abgesehen von den schon oben erwähnten, gewichtige Bedenken dagegen.

Von untergeordneter Bedeutung ist es, daß er sich die Gelegenheit ent¬
gehen läßt, sein System in einzelnen Punkten noch vollkommner auszugestalten.
Dahin gehört, wenn er erklärt, das Ausdrucksbedürfnis und das seelische
Funktivnsbedürfnis des Strebens könnten sich unmittelbar nur in einem
Streben äußern, und erst sekundär entstünden Lust oder Unlust. Deun
abgesehen vou den Reflexbewegungen, die nicht dem Bewußtsein ange¬
hören, aber dein Streben, zunächst dem Triebe, alsbald einen ganzen Apparat
körperlicher Vorgänge zur Verfügung stellen, wird auch in diesem Falle als
erste Quelle des Strebens ein Gefühl des Behagens oder Unbehagens anzu-
sehen sein, das erst seinerseits die dein Bewußtsein angehörigen Bestrebungen
veranlaßt. Nur weil diese Vorgänge so innerlicher Natur sind und sich oft
kaum merklich vom Gemeingefühl ablösen, mag es scheinen, als ob hier dem
Streben kein Gefühl voranginge. Ebenso war der Verfasser wohl schwerlich
genötigt, zu erklären, daß Genuß eine Lust ohne vorhergehendes Bedürfnis sei,
ans der sich erst nachher ein Geunßbedürfnis entwickle. Denn wenn es auch
wahr ist, daß z. B. die Gaumenlust nicht durch das Grundbedürfnis der
Sättigung erzeugt wird, fo weist doch der Geschmackssinn, der ja nicht in un¬
trennbarer Verbindung mit dein Sättigungsbedürfnis steht, aber von dem Ver¬
fasser namentlich hinsichtlich der höchst widerwärtigen Empfindungen, denen er
ausgesetzt ist, nicht hinlänglich gewürdigt wird, nicht weniger als andre Sinne
auf ein Bedürfnis der Natur hin.

Schlimmer ist, daß den Verfasser seine Theorie um einem entscheidenden
Punkte im Stich läßt. Erkenntnisgrund jedes Bedürfnisses soll eine Lust sein.
Wo ist nun diese Lust bei dem Bedürfnis der Selbstschätzung, dem Bewußtsein


GudÄmonismus wider Pessimismus

Mystiker, aber mit überlegterer sittlicher Kraft, überwindet und zu einer Wieder¬
geburt in dem Streben nach dem Ideal führt; denn es giebt nichts absolut
Wertvolles als den guten Willen.

Die Aufgabe, um die es sich sonach handelt, erscheint dem Verfasser als
eine konservative, gesellschafterhaltende. Nicht durch Negation, Zerbröckeluiig
und Schwächung der alten Kulturgrundlagen kann sie gelöst werden, wie die
falsche Aufklärung meinte, sondern nur durch Legung eines neuen, haltbaren
Untergrundes. Den zu solcher Arbeit berufenen ziemt nicht polterndes Schelten,
Anstürmen, Niederreißen, sondern schonender Respekt vor deu durch ihren tief-
sinnigen Inhalt und durch die Jahrhunderte ihrer Wirksamkeit ehrwürdigen
bisherigen Palladien der Gesellschaft in prinzipiellen Streben nach Formu-
lirung des Neuen, aber auch der furchtlose Freimut der eignen Überzeugung.
Daß der Verfasser die erhaltenden Mächte vollauf zu würdigen weiß, zeigt n. n.
feine treffliche Besprechung der Bedeutung des christlichen, vor allem des
deutschen Staates.

So geistvoll aber des Verfassers Betrachtungen sind, so erheben sich doch
auch, abgesehen von den schon oben erwähnten, gewichtige Bedenken dagegen.

Von untergeordneter Bedeutung ist es, daß er sich die Gelegenheit ent¬
gehen läßt, sein System in einzelnen Punkten noch vollkommner auszugestalten.
Dahin gehört, wenn er erklärt, das Ausdrucksbedürfnis und das seelische
Funktivnsbedürfnis des Strebens könnten sich unmittelbar nur in einem
Streben äußern, und erst sekundär entstünden Lust oder Unlust. Deun
abgesehen vou den Reflexbewegungen, die nicht dem Bewußtsein ange¬
hören, aber dein Streben, zunächst dem Triebe, alsbald einen ganzen Apparat
körperlicher Vorgänge zur Verfügung stellen, wird auch in diesem Falle als
erste Quelle des Strebens ein Gefühl des Behagens oder Unbehagens anzu-
sehen sein, das erst seinerseits die dein Bewußtsein angehörigen Bestrebungen
veranlaßt. Nur weil diese Vorgänge so innerlicher Natur sind und sich oft
kaum merklich vom Gemeingefühl ablösen, mag es scheinen, als ob hier dem
Streben kein Gefühl voranginge. Ebenso war der Verfasser wohl schwerlich
genötigt, zu erklären, daß Genuß eine Lust ohne vorhergehendes Bedürfnis sei,
ans der sich erst nachher ein Geunßbedürfnis entwickle. Denn wenn es auch
wahr ist, daß z. B. die Gaumenlust nicht durch das Grundbedürfnis der
Sättigung erzeugt wird, fo weist doch der Geschmackssinn, der ja nicht in un¬
trennbarer Verbindung mit dein Sättigungsbedürfnis steht, aber von dem Ver¬
fasser namentlich hinsichtlich der höchst widerwärtigen Empfindungen, denen er
ausgesetzt ist, nicht hinlänglich gewürdigt wird, nicht weniger als andre Sinne
auf ein Bedürfnis der Natur hin.

Schlimmer ist, daß den Verfasser seine Theorie um einem entscheidenden
Punkte im Stich läßt. Erkenntnisgrund jedes Bedürfnisses soll eine Lust sein.
Wo ist nun diese Lust bei dem Bedürfnis der Selbstschätzung, dem Bewußtsein


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[0228] GudÄmonismus wider Pessimismus Mystiker, aber mit überlegterer sittlicher Kraft, überwindet und zu einer Wieder¬ geburt in dem Streben nach dem Ideal führt; denn es giebt nichts absolut Wertvolles als den guten Willen. Die Aufgabe, um die es sich sonach handelt, erscheint dem Verfasser als eine konservative, gesellschafterhaltende. Nicht durch Negation, Zerbröckeluiig und Schwächung der alten Kulturgrundlagen kann sie gelöst werden, wie die falsche Aufklärung meinte, sondern nur durch Legung eines neuen, haltbaren Untergrundes. Den zu solcher Arbeit berufenen ziemt nicht polterndes Schelten, Anstürmen, Niederreißen, sondern schonender Respekt vor deu durch ihren tief- sinnigen Inhalt und durch die Jahrhunderte ihrer Wirksamkeit ehrwürdigen bisherigen Palladien der Gesellschaft in prinzipiellen Streben nach Formu- lirung des Neuen, aber auch der furchtlose Freimut der eignen Überzeugung. Daß der Verfasser die erhaltenden Mächte vollauf zu würdigen weiß, zeigt n. n. feine treffliche Besprechung der Bedeutung des christlichen, vor allem des deutschen Staates. So geistvoll aber des Verfassers Betrachtungen sind, so erheben sich doch auch, abgesehen von den schon oben erwähnten, gewichtige Bedenken dagegen. Von untergeordneter Bedeutung ist es, daß er sich die Gelegenheit ent¬ gehen läßt, sein System in einzelnen Punkten noch vollkommner auszugestalten. Dahin gehört, wenn er erklärt, das Ausdrucksbedürfnis und das seelische Funktivnsbedürfnis des Strebens könnten sich unmittelbar nur in einem Streben äußern, und erst sekundär entstünden Lust oder Unlust. Deun abgesehen vou den Reflexbewegungen, die nicht dem Bewußtsein ange¬ hören, aber dein Streben, zunächst dem Triebe, alsbald einen ganzen Apparat körperlicher Vorgänge zur Verfügung stellen, wird auch in diesem Falle als erste Quelle des Strebens ein Gefühl des Behagens oder Unbehagens anzu- sehen sein, das erst seinerseits die dein Bewußtsein angehörigen Bestrebungen veranlaßt. Nur weil diese Vorgänge so innerlicher Natur sind und sich oft kaum merklich vom Gemeingefühl ablösen, mag es scheinen, als ob hier dem Streben kein Gefühl voranginge. Ebenso war der Verfasser wohl schwerlich genötigt, zu erklären, daß Genuß eine Lust ohne vorhergehendes Bedürfnis sei, ans der sich erst nachher ein Geunßbedürfnis entwickle. Denn wenn es auch wahr ist, daß z. B. die Gaumenlust nicht durch das Grundbedürfnis der Sättigung erzeugt wird, fo weist doch der Geschmackssinn, der ja nicht in un¬ trennbarer Verbindung mit dein Sättigungsbedürfnis steht, aber von dem Ver¬ fasser namentlich hinsichtlich der höchst widerwärtigen Empfindungen, denen er ausgesetzt ist, nicht hinlänglich gewürdigt wird, nicht weniger als andre Sinne auf ein Bedürfnis der Natur hin. Schlimmer ist, daß den Verfasser seine Theorie um einem entscheidenden Punkte im Stich läßt. Erkenntnisgrund jedes Bedürfnisses soll eine Lust sein. Wo ist nun diese Lust bei dem Bedürfnis der Selbstschätzung, dem Bewußtsein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/228>, abgerufen am 30.06.2024.