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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Gndämonismus wider Pessimismus

Richtung findet, sodaß sich das Fühlen und Streben des Einzelnen zum Fühlen
und Streben mit oder wider andre erweitert, nicht bloß um dieser willen,
wie des Verfassers neuntes Bedürfnis ergiebt, und mir mittelbar um des eiguen
Selbst willen, sondern ganz unmittelbar um des eignen Selbst willen.
Davon ist auch der Verfasser, wie sich später ergiebt, im Grunde durchdrungen,
aber daß er in diesem Zusammenhange davon absieht, trägt viel zu Isolirung
des Einzelnen und seiner Güter bei, die jedem Eudämonismus so gefährlich wird.

Übrigens wird man sich durch ganze Reihen von feinen Beobachtungen
des Verfassers über die Bedürfnisse der menschlichen Natur aufs lebhafteste
angeregt fühlen, z. B. seine Darstellung des Beschäftigungsbedürfuisses, das die
wunderlichsten Blüten treibt, vor allem seine Bemerkungen über direkte und
indirekte Reflexselbstschätzung, die hübsche Analyse der Elternliebe, über das
künstliche Genußbedürfnis der Gaumenlust und der Geschlechtslust u. a. Im
ganzen ist das mit wenigen Einschränkungen als richtig anzuerkennende, teils hier
teils später begründete Ergebnis, daß sich bei dem Ausdrucksbedürfnis und
sämtlichen Funktionsbedürfnisseu, ferner auch bei deu materialen Körperbcdürf-
uissen mehr Lust, bei deu andern mehr Unlust entwickelt, bei dem Mitgefühl
beides nach Maßgabe des eignen Gefühls.

Die Untersuchung wendet sich dann der äußern Möglichkeit der Güter zu
und zieht hierher anch mit Recht die Organisation des Menschen, sofern sie
für Verwirklichung der Güter erschwerende oder erleichternde Umstände mit
sich bringt.

Da ergiebt sich nun die eigentümliche, sehr zu beherzigende Thatsache, daß
es bei einem Teil der Grundbedürfnisse an einer festen Grenze für ihre Ve-.
friedigung fehlt. Zum Teil macht sich dabei das unendliche Wesen des mensch¬
lichen Geistes geltend, der immer nach Höheren strebt und sich nie genug thun
kann. Jedes Streben aber ist von einer doppelten Unlust begleitet, teils wegen
des unmittelbar erforderlichen seelischen Kraftaufwandes, teils wegen der das
ganze Streben begleitenden Spannung und Unrnhe. Es ergiebt sich ferner,
daß viele primäre Unlust vorhanden ist, aus der sich dann erst sekundäre Lust
oder Unlust entwickelt. Die Unlust sucht man um zum Teil zu beseitigen durch
Leichtsinn, der sich die volle Würdigung der eignen Lage erspart und leichten
Fußes über den Anlaß zur intellektuellen Unlust hinwegschreitet, gleich dem
Syrer in Rückerts Parabel, der den Drachen Tod im Brnnnengrunde, das
oben drohende Kamelshaupt Lebensnot und die seinen Halt am Strauche unter¬
wühlenden Mäuse übersieht, um sich dem verlockenden Sinnengenüsse hinzu¬
geben, zum Teil durch Illusionen, in deren Zeichnung der Verfasser eine
besonders glückliche Feder führt, zum Teil durch Resignation, die wenigstens
lustvoller ist als Anstürmen wider das Schicksal, namentlich aber durch das
eigentliche Abhilfestreben, ein primäres Streben, das immer durch primäre
Unlust erregt wird. Es äußert sich zunächst als primärer Trieb, der mehr


Gndämonismus wider Pessimismus

Richtung findet, sodaß sich das Fühlen und Streben des Einzelnen zum Fühlen
und Streben mit oder wider andre erweitert, nicht bloß um dieser willen,
wie des Verfassers neuntes Bedürfnis ergiebt, und mir mittelbar um des eiguen
Selbst willen, sondern ganz unmittelbar um des eignen Selbst willen.
Davon ist auch der Verfasser, wie sich später ergiebt, im Grunde durchdrungen,
aber daß er in diesem Zusammenhange davon absieht, trägt viel zu Isolirung
des Einzelnen und seiner Güter bei, die jedem Eudämonismus so gefährlich wird.

Übrigens wird man sich durch ganze Reihen von feinen Beobachtungen
des Verfassers über die Bedürfnisse der menschlichen Natur aufs lebhafteste
angeregt fühlen, z. B. seine Darstellung des Beschäftigungsbedürfuisses, das die
wunderlichsten Blüten treibt, vor allem seine Bemerkungen über direkte und
indirekte Reflexselbstschätzung, die hübsche Analyse der Elternliebe, über das
künstliche Genußbedürfnis der Gaumenlust und der Geschlechtslust u. a. Im
ganzen ist das mit wenigen Einschränkungen als richtig anzuerkennende, teils hier
teils später begründete Ergebnis, daß sich bei dem Ausdrucksbedürfnis und
sämtlichen Funktionsbedürfnisseu, ferner auch bei deu materialen Körperbcdürf-
uissen mehr Lust, bei deu andern mehr Unlust entwickelt, bei dem Mitgefühl
beides nach Maßgabe des eignen Gefühls.

Die Untersuchung wendet sich dann der äußern Möglichkeit der Güter zu
und zieht hierher anch mit Recht die Organisation des Menschen, sofern sie
für Verwirklichung der Güter erschwerende oder erleichternde Umstände mit
sich bringt.

Da ergiebt sich nun die eigentümliche, sehr zu beherzigende Thatsache, daß
es bei einem Teil der Grundbedürfnisse an einer festen Grenze für ihre Ve-.
friedigung fehlt. Zum Teil macht sich dabei das unendliche Wesen des mensch¬
lichen Geistes geltend, der immer nach Höheren strebt und sich nie genug thun
kann. Jedes Streben aber ist von einer doppelten Unlust begleitet, teils wegen
des unmittelbar erforderlichen seelischen Kraftaufwandes, teils wegen der das
ganze Streben begleitenden Spannung und Unrnhe. Es ergiebt sich ferner,
daß viele primäre Unlust vorhanden ist, aus der sich dann erst sekundäre Lust
oder Unlust entwickelt. Die Unlust sucht man um zum Teil zu beseitigen durch
Leichtsinn, der sich die volle Würdigung der eignen Lage erspart und leichten
Fußes über den Anlaß zur intellektuellen Unlust hinwegschreitet, gleich dem
Syrer in Rückerts Parabel, der den Drachen Tod im Brnnnengrunde, das
oben drohende Kamelshaupt Lebensnot und die seinen Halt am Strauche unter¬
wühlenden Mäuse übersieht, um sich dem verlockenden Sinnengenüsse hinzu¬
geben, zum Teil durch Illusionen, in deren Zeichnung der Verfasser eine
besonders glückliche Feder führt, zum Teil durch Resignation, die wenigstens
lustvoller ist als Anstürmen wider das Schicksal, namentlich aber durch das
eigentliche Abhilfestreben, ein primäres Streben, das immer durch primäre
Unlust erregt wird. Es äußert sich zunächst als primärer Trieb, der mehr


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[0226] Gndämonismus wider Pessimismus Richtung findet, sodaß sich das Fühlen und Streben des Einzelnen zum Fühlen und Streben mit oder wider andre erweitert, nicht bloß um dieser willen, wie des Verfassers neuntes Bedürfnis ergiebt, und mir mittelbar um des eiguen Selbst willen, sondern ganz unmittelbar um des eignen Selbst willen. Davon ist auch der Verfasser, wie sich später ergiebt, im Grunde durchdrungen, aber daß er in diesem Zusammenhange davon absieht, trägt viel zu Isolirung des Einzelnen und seiner Güter bei, die jedem Eudämonismus so gefährlich wird. Übrigens wird man sich durch ganze Reihen von feinen Beobachtungen des Verfassers über die Bedürfnisse der menschlichen Natur aufs lebhafteste angeregt fühlen, z. B. seine Darstellung des Beschäftigungsbedürfuisses, das die wunderlichsten Blüten treibt, vor allem seine Bemerkungen über direkte und indirekte Reflexselbstschätzung, die hübsche Analyse der Elternliebe, über das künstliche Genußbedürfnis der Gaumenlust und der Geschlechtslust u. a. Im ganzen ist das mit wenigen Einschränkungen als richtig anzuerkennende, teils hier teils später begründete Ergebnis, daß sich bei dem Ausdrucksbedürfnis und sämtlichen Funktionsbedürfnisseu, ferner auch bei deu materialen Körperbcdürf- uissen mehr Lust, bei deu andern mehr Unlust entwickelt, bei dem Mitgefühl beides nach Maßgabe des eignen Gefühls. Die Untersuchung wendet sich dann der äußern Möglichkeit der Güter zu und zieht hierher anch mit Recht die Organisation des Menschen, sofern sie für Verwirklichung der Güter erschwerende oder erleichternde Umstände mit sich bringt. Da ergiebt sich nun die eigentümliche, sehr zu beherzigende Thatsache, daß es bei einem Teil der Grundbedürfnisse an einer festen Grenze für ihre Ve-. friedigung fehlt. Zum Teil macht sich dabei das unendliche Wesen des mensch¬ lichen Geistes geltend, der immer nach Höheren strebt und sich nie genug thun kann. Jedes Streben aber ist von einer doppelten Unlust begleitet, teils wegen des unmittelbar erforderlichen seelischen Kraftaufwandes, teils wegen der das ganze Streben begleitenden Spannung und Unrnhe. Es ergiebt sich ferner, daß viele primäre Unlust vorhanden ist, aus der sich dann erst sekundäre Lust oder Unlust entwickelt. Die Unlust sucht man um zum Teil zu beseitigen durch Leichtsinn, der sich die volle Würdigung der eignen Lage erspart und leichten Fußes über den Anlaß zur intellektuellen Unlust hinwegschreitet, gleich dem Syrer in Rückerts Parabel, der den Drachen Tod im Brnnnengrunde, das oben drohende Kamelshaupt Lebensnot und die seinen Halt am Strauche unter¬ wühlenden Mäuse übersieht, um sich dem verlockenden Sinnengenüsse hinzu¬ geben, zum Teil durch Illusionen, in deren Zeichnung der Verfasser eine besonders glückliche Feder führt, zum Teil durch Resignation, die wenigstens lustvoller ist als Anstürmen wider das Schicksal, namentlich aber durch das eigentliche Abhilfestreben, ein primäres Streben, das immer durch primäre Unlust erregt wird. Es äußert sich zunächst als primärer Trieb, der mehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/226>, abgerufen am 30.06.2024.