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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Ludcimonismus nider Pessimismus

Es sind also vor allein diese Bedürfnisse und die Möglichkeit der Ge¬
fühle, die sie bieten, zu ermitteln. Es genügt aber nicht, die sich einer ober¬
flächlichen Betrachtung darbietenden Güter oder Arten der Lust aufzugreifen
und ihnen ein entsprechendes Bedürfnis gegenilberzustellen, z. B. ein Besitz-,
Ehr-, Liebes-, Schönheitsbedürfnis; denn die dann hervortretenden Arten von
Lust sind vielmehr Lustkomplexe und weisen auf eine Mehrheit verschieden¬
artiger Bedürfnisse hiu. Es müssen vielmehr die Grnndbedürfnisse ermittelt
werden.

In der sorgfältigen Untersuchung und Beschreibung derselben wie in der
möglichst genauen Feststellung der durch sie erregten Lust besteht nun ein
Hauptverdienst der Arbeit Dörings. Der Verfasser geht dabei uicht auf
schematische Gliederung aus, die ihm nahe genug lag, scheut auch nicht einen
Sprung bei der Teilung, sondern ist mit der rücksichtslosen Energie des Wahr¬
heitsforschers bemüht, den thatsächlichen Stand der Dinge zu erkennen.

Hiernach erhält er folgende Gruudbedürfnisse:

1. Das Ansdrncksbedllrfnis, dessen Schilderung zum Teil höchst anziehend
ist. 2. und 3. Die materialen und formalen oder Fnnktionsbedürfnisse des
körperlichen Organismus. 4. bis <>. Die materialen und formalen oder Be¬
schäftigungsbedürfnisse der Seele. Da sich aber die erstern nicht ans das
Gefühl beziehe" können, das als Folge und Symptom jeder Art von Be¬
dürfnisbefriedigung außerhalb jeder Bedürfuisfrage steht, und dn auch das Be¬
gehren oder Streben erst infolge aktueller Unlust an nicht befriedigten Bedürf¬
nissen als Mittel zur Verbesserung des unbefriedigten Zustandes auftritt> so
kann es keine gesonderte" materialen Bedürfnisse für die Grundfunktion des
Gefühls und des Begehrens geben, und es bleiben als materiale seelische Be¬
dürfnisse nur Vorstellungsbedürfnisse übrig, die sich entweder auf den Wert
der Welteinrichtung für uns (4.) oder auf unsre Selbstschützung beziehen (5.).
Dazu treten ferner 7. Bedürfnisse hinsichtlich der Verändernngsphascn und
Entwicklungsstadien unsrer Organisation und 8. hinsichtlich des AufHörens
unsers Daseins, und allen genannten stehen 9. die Bedürfnisse hinsichtlich der
Zustände der übrigen fühlenden Wesen gegenüber.

Man kann sich diese Einteilung sachlich bis ans einen Punkt gefallen lassen.
Freilich läßt sich das Ausdrncksbedürfnis teils auf ein seelisches Funktions¬
bedürfnis, teils ans Vorstellnngsbedürfnisse zurückführen, sofern man am Aus¬
druck "gleichsam einen verstärkenden Resonanzboden" für die innern Zustände
findet, und die Veränderungsphasen und Entwicklungsstadien unsrer Organisation
samt dem Tod gehören doch gewiß auch zur Welteinrichtung und werden vom
Verfasser auch um andern Stellen dahin gerechnet. Aber man kann nicht zu¬
geben, daß es für unser Fühlen und Streben keine materialen Bedürfnisse
gebe. Im Gegenteil, dies bedarf wirklicher Dinge und Wesen, durch die es
teils erhalten, gehoben und gefördert wird, teils Widerstand, Begrenzung und


Grenzboten IV 1839 28
Ludcimonismus nider Pessimismus

Es sind also vor allein diese Bedürfnisse und die Möglichkeit der Ge¬
fühle, die sie bieten, zu ermitteln. Es genügt aber nicht, die sich einer ober¬
flächlichen Betrachtung darbietenden Güter oder Arten der Lust aufzugreifen
und ihnen ein entsprechendes Bedürfnis gegenilberzustellen, z. B. ein Besitz-,
Ehr-, Liebes-, Schönheitsbedürfnis; denn die dann hervortretenden Arten von
Lust sind vielmehr Lustkomplexe und weisen auf eine Mehrheit verschieden¬
artiger Bedürfnisse hiu. Es müssen vielmehr die Grnndbedürfnisse ermittelt
werden.

In der sorgfältigen Untersuchung und Beschreibung derselben wie in der
möglichst genauen Feststellung der durch sie erregten Lust besteht nun ein
Hauptverdienst der Arbeit Dörings. Der Verfasser geht dabei uicht auf
schematische Gliederung aus, die ihm nahe genug lag, scheut auch nicht einen
Sprung bei der Teilung, sondern ist mit der rücksichtslosen Energie des Wahr¬
heitsforschers bemüht, den thatsächlichen Stand der Dinge zu erkennen.

Hiernach erhält er folgende Gruudbedürfnisse:

1. Das Ansdrncksbedllrfnis, dessen Schilderung zum Teil höchst anziehend
ist. 2. und 3. Die materialen und formalen oder Fnnktionsbedürfnisse des
körperlichen Organismus. 4. bis <>. Die materialen und formalen oder Be¬
schäftigungsbedürfnisse der Seele. Da sich aber die erstern nicht ans das
Gefühl beziehe» können, das als Folge und Symptom jeder Art von Be¬
dürfnisbefriedigung außerhalb jeder Bedürfuisfrage steht, und dn auch das Be¬
gehren oder Streben erst infolge aktueller Unlust an nicht befriedigten Bedürf¬
nissen als Mittel zur Verbesserung des unbefriedigten Zustandes auftritt> so
kann es keine gesonderte» materialen Bedürfnisse für die Grundfunktion des
Gefühls und des Begehrens geben, und es bleiben als materiale seelische Be¬
dürfnisse nur Vorstellungsbedürfnisse übrig, die sich entweder auf den Wert
der Welteinrichtung für uns (4.) oder auf unsre Selbstschützung beziehen (5.).
Dazu treten ferner 7. Bedürfnisse hinsichtlich der Verändernngsphascn und
Entwicklungsstadien unsrer Organisation und 8. hinsichtlich des AufHörens
unsers Daseins, und allen genannten stehen 9. die Bedürfnisse hinsichtlich der
Zustände der übrigen fühlenden Wesen gegenüber.

Man kann sich diese Einteilung sachlich bis ans einen Punkt gefallen lassen.
Freilich läßt sich das Ausdrncksbedürfnis teils auf ein seelisches Funktions¬
bedürfnis, teils ans Vorstellnngsbedürfnisse zurückführen, sofern man am Aus¬
druck „gleichsam einen verstärkenden Resonanzboden" für die innern Zustände
findet, und die Veränderungsphasen und Entwicklungsstadien unsrer Organisation
samt dem Tod gehören doch gewiß auch zur Welteinrichtung und werden vom
Verfasser auch um andern Stellen dahin gerechnet. Aber man kann nicht zu¬
geben, daß es für unser Fühlen und Streben keine materialen Bedürfnisse
gebe. Im Gegenteil, dies bedarf wirklicher Dinge und Wesen, durch die es
teils erhalten, gehoben und gefördert wird, teils Widerstand, Begrenzung und


Grenzboten IV 1839 28
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[0225] Ludcimonismus nider Pessimismus Es sind also vor allein diese Bedürfnisse und die Möglichkeit der Ge¬ fühle, die sie bieten, zu ermitteln. Es genügt aber nicht, die sich einer ober¬ flächlichen Betrachtung darbietenden Güter oder Arten der Lust aufzugreifen und ihnen ein entsprechendes Bedürfnis gegenilberzustellen, z. B. ein Besitz-, Ehr-, Liebes-, Schönheitsbedürfnis; denn die dann hervortretenden Arten von Lust sind vielmehr Lustkomplexe und weisen auf eine Mehrheit verschieden¬ artiger Bedürfnisse hiu. Es müssen vielmehr die Grnndbedürfnisse ermittelt werden. In der sorgfältigen Untersuchung und Beschreibung derselben wie in der möglichst genauen Feststellung der durch sie erregten Lust besteht nun ein Hauptverdienst der Arbeit Dörings. Der Verfasser geht dabei uicht auf schematische Gliederung aus, die ihm nahe genug lag, scheut auch nicht einen Sprung bei der Teilung, sondern ist mit der rücksichtslosen Energie des Wahr¬ heitsforschers bemüht, den thatsächlichen Stand der Dinge zu erkennen. Hiernach erhält er folgende Gruudbedürfnisse: 1. Das Ansdrncksbedllrfnis, dessen Schilderung zum Teil höchst anziehend ist. 2. und 3. Die materialen und formalen oder Fnnktionsbedürfnisse des körperlichen Organismus. 4. bis <>. Die materialen und formalen oder Be¬ schäftigungsbedürfnisse der Seele. Da sich aber die erstern nicht ans das Gefühl beziehe» können, das als Folge und Symptom jeder Art von Be¬ dürfnisbefriedigung außerhalb jeder Bedürfuisfrage steht, und dn auch das Be¬ gehren oder Streben erst infolge aktueller Unlust an nicht befriedigten Bedürf¬ nissen als Mittel zur Verbesserung des unbefriedigten Zustandes auftritt> so kann es keine gesonderte» materialen Bedürfnisse für die Grundfunktion des Gefühls und des Begehrens geben, und es bleiben als materiale seelische Be¬ dürfnisse nur Vorstellungsbedürfnisse übrig, die sich entweder auf den Wert der Welteinrichtung für uns (4.) oder auf unsre Selbstschützung beziehen (5.). Dazu treten ferner 7. Bedürfnisse hinsichtlich der Verändernngsphascn und Entwicklungsstadien unsrer Organisation und 8. hinsichtlich des AufHörens unsers Daseins, und allen genannten stehen 9. die Bedürfnisse hinsichtlich der Zustände der übrigen fühlenden Wesen gegenüber. Man kann sich diese Einteilung sachlich bis ans einen Punkt gefallen lassen. Freilich läßt sich das Ausdrncksbedürfnis teils auf ein seelisches Funktions¬ bedürfnis, teils ans Vorstellnngsbedürfnisse zurückführen, sofern man am Aus¬ druck „gleichsam einen verstärkenden Resonanzboden" für die innern Zustände findet, und die Veränderungsphasen und Entwicklungsstadien unsrer Organisation samt dem Tod gehören doch gewiß auch zur Welteinrichtung und werden vom Verfasser auch um andern Stellen dahin gerechnet. Aber man kann nicht zu¬ geben, daß es für unser Fühlen und Streben keine materialen Bedürfnisse gebe. Im Gegenteil, dies bedarf wirklicher Dinge und Wesen, durch die es teils erhalten, gehoben und gefördert wird, teils Widerstand, Begrenzung und Grenzboten IV 1839 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/225>, abgerufen am 30.06.2024.