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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Lndämonismus "older Pessimismus

Thätigkeit bezeichnet, auf Sigwart und Horvüez und führt später, freilich zum
Teil ablehnend, E. Pfleiderer an. Und für die hohe Bedeutung der Gefühle
der Lust und Unlust hätte er fast alle neuern bedeutenden ethischen Werke an¬
führen könne", z. B. Wunde: "Der Mensch handelt nicht das einemal nach
unmittelbarem Gefühl, ein andermal nach Reflexion, sondern immer nach Ge¬
fühlen" (Ethik S. 437), Paulsen: "Gäbe es Gefühle der Befriedigung und des
Unbehagens, der Lust und des Schmerzes überhaupt nicht, dann gäbe es auch
keine Wertunterschiede, dann würden gut und schlecht sinnlose Wörter sein,
oder vielmehr sie würden in der menschlichen Sprache überhaupt nicht vor¬
kommen" (Syst. d. Ees. S. 200) u. a. in. Auch die wachsende Anerkennung der
ältern und neuern englischen Eudämonisten und Utilitarier läßt eine Wendung
in der Philosophie erkennen, und der Verfasser hat daher Recht, wenn er es
für zeitgemäß hält, diejenige Frage, eingehend zu untersuchen, welche die
griechische Philosophie am tiefsten erregt hat, die Frage nach dem höchste"
Gut, die ja auch in der christlichen Philosophie insofern eine Fortsetzung findet,
als das vom Christentum aufgestellte Glückseligkeitsideal die Philosophie bis
zur pessimistischen Leugnung desselben bestimmt.

Somit steht die Güterlehre im Vordergründe. Aber "jede Güterlehre,
die ein einheitliches höchstes Gut aufstellt, ermöglicht damit eine Ethik als
Theorie einer Lebensführung, die auf Realisirung der Glückseligkeit durch
Realisirung dieses höchsten Gutes gerichtet ist, sowie natürlich auch die ent¬
sprechende Praxis dieser Lebensführung." Und wie sehr man anch von des
Verfassers System abweichen mag, so wird man doch zugeben müssen, daß
Eudämonismus und energisch sittlicher Geist kaum je in so innige Verbindung
gesetzt worden siud. Epiknreismns und Stoizismus sind hier so nahe wie
möglich gebracht und vereinigen sich mit einem tiefen religiösen Verständnis,
das, so frei auch des Verfassers Standpunkt ist, die Philosophie selbst wieder
zu einer Art Religion macht und die tiefen Erregungen des christlichen Gemüts,
Wiedergeburt aus einem Zustande natürlicher sündlicher Entfremdung vom
höchsten Bilde menschlicher Vollkommenheit und Befriedigung, eine Versöhnung
mit dem Ideal, die zugleich Erlösung vom natürlichen Zustande ist, eine das
ganze Seelenleben in die betrachtende Erhebung zum Ideal zusammenfassende
Erbauung und Gebetsrichtnng, die den Vollgenuß der Befriedigung aus dem
höchsten Gut, Trost in Leid und Unbill und Kraft zur Verwirklichung des
Guten im einzelnen gewährt, für die wahre philosophische Erkenntnis in An¬
spruch, nimmt. Somit wird denn auch jener Militarismus, der als Ziel des
Strebens das größtmögliche Wohlsein der größtmögliche" Zahl bezeichnet
(Bentham, Will), damit aber auf der Stufe der Güterschützung des populäre"
Bewußtseins stehen bleibt, weit überflogen, ja auch das Mitgefühl (man denke
an Humes Sympathie!) soll nur als aufgehobenes aber immerhin verstärkendes
natürliches Moment in ein höheres ethisches oder Wertstreben eingehen.


Lndämonismus »older Pessimismus

Thätigkeit bezeichnet, auf Sigwart und Horvüez und führt später, freilich zum
Teil ablehnend, E. Pfleiderer an. Und für die hohe Bedeutung der Gefühle
der Lust und Unlust hätte er fast alle neuern bedeutenden ethischen Werke an¬
führen könne», z. B. Wunde: „Der Mensch handelt nicht das einemal nach
unmittelbarem Gefühl, ein andermal nach Reflexion, sondern immer nach Ge¬
fühlen" (Ethik S. 437), Paulsen: „Gäbe es Gefühle der Befriedigung und des
Unbehagens, der Lust und des Schmerzes überhaupt nicht, dann gäbe es auch
keine Wertunterschiede, dann würden gut und schlecht sinnlose Wörter sein,
oder vielmehr sie würden in der menschlichen Sprache überhaupt nicht vor¬
kommen" (Syst. d. Ees. S. 200) u. a. in. Auch die wachsende Anerkennung der
ältern und neuern englischen Eudämonisten und Utilitarier läßt eine Wendung
in der Philosophie erkennen, und der Verfasser hat daher Recht, wenn er es
für zeitgemäß hält, diejenige Frage, eingehend zu untersuchen, welche die
griechische Philosophie am tiefsten erregt hat, die Frage nach dem höchste«
Gut, die ja auch in der christlichen Philosophie insofern eine Fortsetzung findet,
als das vom Christentum aufgestellte Glückseligkeitsideal die Philosophie bis
zur pessimistischen Leugnung desselben bestimmt.

Somit steht die Güterlehre im Vordergründe. Aber „jede Güterlehre,
die ein einheitliches höchstes Gut aufstellt, ermöglicht damit eine Ethik als
Theorie einer Lebensführung, die auf Realisirung der Glückseligkeit durch
Realisirung dieses höchsten Gutes gerichtet ist, sowie natürlich auch die ent¬
sprechende Praxis dieser Lebensführung." Und wie sehr man anch von des
Verfassers System abweichen mag, so wird man doch zugeben müssen, daß
Eudämonismus und energisch sittlicher Geist kaum je in so innige Verbindung
gesetzt worden siud. Epiknreismns und Stoizismus sind hier so nahe wie
möglich gebracht und vereinigen sich mit einem tiefen religiösen Verständnis,
das, so frei auch des Verfassers Standpunkt ist, die Philosophie selbst wieder
zu einer Art Religion macht und die tiefen Erregungen des christlichen Gemüts,
Wiedergeburt aus einem Zustande natürlicher sündlicher Entfremdung vom
höchsten Bilde menschlicher Vollkommenheit und Befriedigung, eine Versöhnung
mit dem Ideal, die zugleich Erlösung vom natürlichen Zustande ist, eine das
ganze Seelenleben in die betrachtende Erhebung zum Ideal zusammenfassende
Erbauung und Gebetsrichtnng, die den Vollgenuß der Befriedigung aus dem
höchsten Gut, Trost in Leid und Unbill und Kraft zur Verwirklichung des
Guten im einzelnen gewährt, für die wahre philosophische Erkenntnis in An¬
spruch, nimmt. Somit wird denn auch jener Militarismus, der als Ziel des
Strebens das größtmögliche Wohlsein der größtmögliche» Zahl bezeichnet
(Bentham, Will), damit aber auf der Stufe der Güterschützung des populäre»
Bewußtseins stehen bleibt, weit überflogen, ja auch das Mitgefühl (man denke
an Humes Sympathie!) soll nur als aufgehobenes aber immerhin verstärkendes
natürliches Moment in ein höheres ethisches oder Wertstreben eingehen.


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[0223] Lndämonismus »older Pessimismus Thätigkeit bezeichnet, auf Sigwart und Horvüez und führt später, freilich zum Teil ablehnend, E. Pfleiderer an. Und für die hohe Bedeutung der Gefühle der Lust und Unlust hätte er fast alle neuern bedeutenden ethischen Werke an¬ führen könne», z. B. Wunde: „Der Mensch handelt nicht das einemal nach unmittelbarem Gefühl, ein andermal nach Reflexion, sondern immer nach Ge¬ fühlen" (Ethik S. 437), Paulsen: „Gäbe es Gefühle der Befriedigung und des Unbehagens, der Lust und des Schmerzes überhaupt nicht, dann gäbe es auch keine Wertunterschiede, dann würden gut und schlecht sinnlose Wörter sein, oder vielmehr sie würden in der menschlichen Sprache überhaupt nicht vor¬ kommen" (Syst. d. Ees. S. 200) u. a. in. Auch die wachsende Anerkennung der ältern und neuern englischen Eudämonisten und Utilitarier läßt eine Wendung in der Philosophie erkennen, und der Verfasser hat daher Recht, wenn er es für zeitgemäß hält, diejenige Frage, eingehend zu untersuchen, welche die griechische Philosophie am tiefsten erregt hat, die Frage nach dem höchste« Gut, die ja auch in der christlichen Philosophie insofern eine Fortsetzung findet, als das vom Christentum aufgestellte Glückseligkeitsideal die Philosophie bis zur pessimistischen Leugnung desselben bestimmt. Somit steht die Güterlehre im Vordergründe. Aber „jede Güterlehre, die ein einheitliches höchstes Gut aufstellt, ermöglicht damit eine Ethik als Theorie einer Lebensführung, die auf Realisirung der Glückseligkeit durch Realisirung dieses höchsten Gutes gerichtet ist, sowie natürlich auch die ent¬ sprechende Praxis dieser Lebensführung." Und wie sehr man anch von des Verfassers System abweichen mag, so wird man doch zugeben müssen, daß Eudämonismus und energisch sittlicher Geist kaum je in so innige Verbindung gesetzt worden siud. Epiknreismns und Stoizismus sind hier so nahe wie möglich gebracht und vereinigen sich mit einem tiefen religiösen Verständnis, das, so frei auch des Verfassers Standpunkt ist, die Philosophie selbst wieder zu einer Art Religion macht und die tiefen Erregungen des christlichen Gemüts, Wiedergeburt aus einem Zustande natürlicher sündlicher Entfremdung vom höchsten Bilde menschlicher Vollkommenheit und Befriedigung, eine Versöhnung mit dem Ideal, die zugleich Erlösung vom natürlichen Zustande ist, eine das ganze Seelenleben in die betrachtende Erhebung zum Ideal zusammenfassende Erbauung und Gebetsrichtnng, die den Vollgenuß der Befriedigung aus dem höchsten Gut, Trost in Leid und Unbill und Kraft zur Verwirklichung des Guten im einzelnen gewährt, für die wahre philosophische Erkenntnis in An¬ spruch, nimmt. Somit wird denn auch jener Militarismus, der als Ziel des Strebens das größtmögliche Wohlsein der größtmögliche» Zahl bezeichnet (Bentham, Will), damit aber auf der Stufe der Güterschützung des populäre» Bewußtseins stehen bleibt, weit überflogen, ja auch das Mitgefühl (man denke an Humes Sympathie!) soll nur als aufgehobenes aber immerhin verstärkendes natürliches Moment in ein höheres ethisches oder Wertstreben eingehen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/223>, abgerufen am 30.06.2024.