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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegeumart

1" ore'-Allen do la bell"; xlirasö, war nicht nur ftir Flaubert der Leitstern, es
wurde auch für die Lyriker zum Losungswort. Lecvnte de Liste und Theodore
de Baronie' und die sich anschließende Schale der Parnassieus wurden geradezu
Fanatiker der dichterischen Form, Die Sprache der Vorgänger, selbst eines
Lamartine, Musset, Hugo galten ihnen für ungeschickt und nachlässig, die Reime
erschienen ihnen armselig und kraftlos, die Metaphern verworren, die Bilder
zusammenhanglos. "Die Parnassiens, sagt Brunetivre, haben versucht, mit der
romantischen Poetik zu brechen und in allen Dichtungsarten, der lyrischen, der
beschreibenden, der volkstümlichen und der philosophischen, sich so nahe wie
möglich der Wirklichkeit anzuschließen, um die sich die Romantik herzlich wenig
gekümmert und deren Mißachtung sie zum Grundsatz erhoben hatte." Mau hat
daher die Parnassieus auch geradezu Brüder des Naturalismus genannt, wenn
auch mit der Einschränkung, daß es in Wahrheit feindliche Brüder seien. Ihr
Bestreben, die eigne Individualität hinter dem Kunstwerk zurücktreten zu lassen,
I" tllvvris <j"z I'in^in88idil!t(!, wie sie es nennen, war auch Gesetz eines Flaubert
und der Goncourts.

Ans der Schule der Parnassiens ist Sully-Prudhomme, der bedeutendste
der zeitgenössischen Dichter, hervorgegangen; er ist der Begründer der sogenannten
xo6sis soionMizuiö. Was ihn an die Parnassiens knüpft, ist seine heilige Scheu
vor dem Genius der Sprache, die Genauigkeit des Ausdruckes, die Schönheit
des Rhythmus und die Kraft des Reimes. Während aber jene über der ängst¬
lichen Beobachtung des rein Formellen in ihren nüraolW ä'un v-ü" ni6og>i"i8iuv
zu trocknen Sprachvirtuvseu herabsanken und grundsätzlich dem Inhalt keine
hohe Bedeutung beilegten, will Sully-Prndhomme die schönen Gefäße auch mit
großen Gedanken angefüllt wissen, mit Gedanken, wie sie der unerschöpflichen
Quelle des geistigen Lebens fortwährend entspringen. Die tiefsten und mächtigsten
Bewegungen der Menschheit haben heutzutage ihren Grund nicht mehr in den
vorübergehenden Stimmungen der Seele, in dein ewigen Liebesleiden und
tändelnden Gedankenspielen, in der natürlichen Harmlosigkeit und selbstquäleri¬
schen Grübelei, in der unklaren Melancholie des Weltschmerzes und den Aus¬
brüchen aufgeregter Sinnlichkeit -- in Motiven, die von den Nachtreter, eines
Lamartine, Müsset, den ^leui-arcl" iindveiles se 168 risurs ckebraillvs bis zum
Überdruß abgeleiert werden --; was die Seele der gegenwärtigen Menschheit
im tiefsten Grunde aufregt, erhebt und demütigt, sind die Werke und Be¬
strebungen des menschlichen Geistes, die gewaltigen Errungenschaften und un¬
seligen Gebrechen der modernen Kultur, die staunenswerten Ergebnisse und
großartigen Gesetze der Wissenschaft, die quälenden Rätsel der Philosophie.
Aus diese" der Dichtkunst scheinbar fernliegenden Gedankeugletschern will Sully-
Prudhomme einen kraftvollen Lebensstrom in die Adern der Poesie leiten.

Es ist eine sehr interessante Erscheinung, daß wir diesen Versuch einer
Annäherung von Poesie und Wissenschaft bereits gegen Ende des vorigen Jahr-


Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegeumart

1» ore'-Allen do la bell«; xlirasö, war nicht nur ftir Flaubert der Leitstern, es
wurde auch für die Lyriker zum Losungswort. Lecvnte de Liste und Theodore
de Baronie' und die sich anschließende Schale der Parnassieus wurden geradezu
Fanatiker der dichterischen Form, Die Sprache der Vorgänger, selbst eines
Lamartine, Musset, Hugo galten ihnen für ungeschickt und nachlässig, die Reime
erschienen ihnen armselig und kraftlos, die Metaphern verworren, die Bilder
zusammenhanglos. „Die Parnassiens, sagt Brunetivre, haben versucht, mit der
romantischen Poetik zu brechen und in allen Dichtungsarten, der lyrischen, der
beschreibenden, der volkstümlichen und der philosophischen, sich so nahe wie
möglich der Wirklichkeit anzuschließen, um die sich die Romantik herzlich wenig
gekümmert und deren Mißachtung sie zum Grundsatz erhoben hatte." Mau hat
daher die Parnassieus auch geradezu Brüder des Naturalismus genannt, wenn
auch mit der Einschränkung, daß es in Wahrheit feindliche Brüder seien. Ihr
Bestreben, die eigne Individualität hinter dem Kunstwerk zurücktreten zu lassen,
I» tllvvris <j«z I'in^in88idil!t(!, wie sie es nennen, war auch Gesetz eines Flaubert
und der Goncourts.

Ans der Schule der Parnassiens ist Sully-Prudhomme, der bedeutendste
der zeitgenössischen Dichter, hervorgegangen; er ist der Begründer der sogenannten
xo6sis soionMizuiö. Was ihn an die Parnassiens knüpft, ist seine heilige Scheu
vor dem Genius der Sprache, die Genauigkeit des Ausdruckes, die Schönheit
des Rhythmus und die Kraft des Reimes. Während aber jene über der ängst¬
lichen Beobachtung des rein Formellen in ihren nüraolW ä'un v-ü» ni6og>i»i8iuv
zu trocknen Sprachvirtuvseu herabsanken und grundsätzlich dem Inhalt keine
hohe Bedeutung beilegten, will Sully-Prndhomme die schönen Gefäße auch mit
großen Gedanken angefüllt wissen, mit Gedanken, wie sie der unerschöpflichen
Quelle des geistigen Lebens fortwährend entspringen. Die tiefsten und mächtigsten
Bewegungen der Menschheit haben heutzutage ihren Grund nicht mehr in den
vorübergehenden Stimmungen der Seele, in dein ewigen Liebesleiden und
tändelnden Gedankenspielen, in der natürlichen Harmlosigkeit und selbstquäleri¬
schen Grübelei, in der unklaren Melancholie des Weltschmerzes und den Aus¬
brüchen aufgeregter Sinnlichkeit — in Motiven, die von den Nachtreter, eines
Lamartine, Müsset, den ^leui-arcl« iindveiles se 168 risurs ckebraillvs bis zum
Überdruß abgeleiert werden —; was die Seele der gegenwärtigen Menschheit
im tiefsten Grunde aufregt, erhebt und demütigt, sind die Werke und Be¬
strebungen des menschlichen Geistes, die gewaltigen Errungenschaften und un¬
seligen Gebrechen der modernen Kultur, die staunenswerten Ergebnisse und
großartigen Gesetze der Wissenschaft, die quälenden Rätsel der Philosophie.
Aus diese» der Dichtkunst scheinbar fernliegenden Gedankeugletschern will Sully-
Prudhomme einen kraftvollen Lebensstrom in die Adern der Poesie leiten.

Es ist eine sehr interessante Erscheinung, daß wir diesen Versuch einer
Annäherung von Poesie und Wissenschaft bereits gegen Ende des vorigen Jahr-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/22>, abgerufen am 28.06.2024.