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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Streifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart

Hunderts in der französischen Litteratur hervortreten sehen. Unter dein mäch¬
tigen Einfluß der Naturwissenschaften schwanden schon damals die alten abge¬
griffenem Stoffe dahin. Schon Voltaire erkannte, daß eine Erneuerung der
Poesie notwendig durch die Einwirkung der Wissenschaften mit ihren weiten
Perspektiven und weltbewegenden Probleme" eintreten müsse. Le Brun und
Fontanes versuchten zuerst die ausgetretnen Pfade zu verlassen und die natur¬
wissenschaftliche Gedankenwelt Büffons für die Poesie zu verwerten. Aber sie
waren sich über ihre Ziele selbst nicht klar und sind anch über bruchstückartige
Versuche nicht lnunnsgekvmmen. Erst bei Andro Chenier offenbart sich diese
Richtung in greifbarer Gestalt. Er sagt in seinem Gedichte 1,'moord.ion:
"Tvricelli, Newton, .^epler und Galilei haben jedem neuen Vergil Schatzkammern
eröffnet; die menschlichen Wissenschaften können die Gebiete ihrer Herrschaft
nicht ausdehnen, ohne auch den Raum der Dichtkunst zu erweitern. Welche
lange Arbeit hat ihr das Weltall erorbert! Vor den Blicken eines Büffon
öffnet die Erde unverschleiert und ungehindert ihren Schoß, ihre Quellen, ihre
Wunder. Welche Fülle von Bildern, von erhabnen Anschauungen hebt sich
aus diesen großartigen Dingen, die unserm Zeitalter aufbewahrt worden sind."
Aber auch Andrö Chüuier hat seine wissenschaftliche Dichtung Ho>2no8 als
Torso hinterlassen; die Revolution machte den Versuchen des unglücklichen
Dichters ein Ende.

Jetzt, nach hundert Jahren, regt sich derselbe Geist; von den Naturalisten
wird, wie wir in der Abhandlung "Zur Ästhetik des Häßliche,:" gesehen haben, uicht
allein der Stoss, sondern angeblich auch die strenge Methode der Physiologie in die
^omandichtung herübergenommen; die Parnassiens und insbesondere Sully-Prud-
homme erwarten ebenfalls durch deu Einfluß der wissenschaftlichen Bestrebungen
eine Wiedergeburt der ganzen französischen Poesie. Es ist klar, daß ein moderner
Dichter das Gebiet der Wissenschaft nicht so behandeln kann, wie es Lnkrez in seinem
Lehrgedicht vo isrum inllur-i gethan hat; denn alles, was der römische Dichter
von der Physik und Physiologie, der Theologie und Ethik zu erzählen weiß,
ist im Grunde doch mir eine andre Art von Poesie. Nur auf der ersten
Stufe kann die Wissenschaft Hand in Hand mit der Dichtung gehen, wie wir
das anch thatsächlich bei den ersten griechischen Philosophen sehen; je mehr sie
sich aber von dem Spiel der Phantasie ablöst und mit festen, selbstgeschaffencii
Begriffen arbeitet, desto weniger wird sie in der poetischen Sprache ein geeignetes
Ausdrucksmittel finden. Für die Entdeckungen und Gesetze eines Laplace und
Cuvier kann auch uur die Sprache eines Laplace und Cuvier die einzig wahre
sein. Es wäre thatsächlich eine Verirrung, wenn ein Dichter die positiven
Ergebnisse der heutigen Wissenschaft so darstellen wollte, wie es Lnkrez seiner
Zeit gethan hat. Für den modernen Dichter kann sie immer nnr als mittel¬
bare Quelle gelten, ans der er Begeisterung für gewaltige Ideen schöpft. Was
ist geeigneter -- ruft der Philosoph E. Caro aus, ein eifriger Anhänger der


Streifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart

Hunderts in der französischen Litteratur hervortreten sehen. Unter dein mäch¬
tigen Einfluß der Naturwissenschaften schwanden schon damals die alten abge¬
griffenem Stoffe dahin. Schon Voltaire erkannte, daß eine Erneuerung der
Poesie notwendig durch die Einwirkung der Wissenschaften mit ihren weiten
Perspektiven und weltbewegenden Probleme» eintreten müsse. Le Brun und
Fontanes versuchten zuerst die ausgetretnen Pfade zu verlassen und die natur¬
wissenschaftliche Gedankenwelt Büffons für die Poesie zu verwerten. Aber sie
waren sich über ihre Ziele selbst nicht klar und sind anch über bruchstückartige
Versuche nicht lnunnsgekvmmen. Erst bei Andro Chenier offenbart sich diese
Richtung in greifbarer Gestalt. Er sagt in seinem Gedichte 1,'moord.ion:
„Tvricelli, Newton, .^epler und Galilei haben jedem neuen Vergil Schatzkammern
eröffnet; die menschlichen Wissenschaften können die Gebiete ihrer Herrschaft
nicht ausdehnen, ohne auch den Raum der Dichtkunst zu erweitern. Welche
lange Arbeit hat ihr das Weltall erorbert! Vor den Blicken eines Büffon
öffnet die Erde unverschleiert und ungehindert ihren Schoß, ihre Quellen, ihre
Wunder. Welche Fülle von Bildern, von erhabnen Anschauungen hebt sich
aus diesen großartigen Dingen, die unserm Zeitalter aufbewahrt worden sind."
Aber auch Andrö Chüuier hat seine wissenschaftliche Dichtung Ho>2no8 als
Torso hinterlassen; die Revolution machte den Versuchen des unglücklichen
Dichters ein Ende.

Jetzt, nach hundert Jahren, regt sich derselbe Geist; von den Naturalisten
wird, wie wir in der Abhandlung „Zur Ästhetik des Häßliche,:" gesehen haben, uicht
allein der Stoss, sondern angeblich auch die strenge Methode der Physiologie in die
^omandichtung herübergenommen; die Parnassiens und insbesondere Sully-Prud-
homme erwarten ebenfalls durch deu Einfluß der wissenschaftlichen Bestrebungen
eine Wiedergeburt der ganzen französischen Poesie. Es ist klar, daß ein moderner
Dichter das Gebiet der Wissenschaft nicht so behandeln kann, wie es Lnkrez in seinem
Lehrgedicht vo isrum inllur-i gethan hat; denn alles, was der römische Dichter
von der Physik und Physiologie, der Theologie und Ethik zu erzählen weiß,
ist im Grunde doch mir eine andre Art von Poesie. Nur auf der ersten
Stufe kann die Wissenschaft Hand in Hand mit der Dichtung gehen, wie wir
das anch thatsächlich bei den ersten griechischen Philosophen sehen; je mehr sie
sich aber von dem Spiel der Phantasie ablöst und mit festen, selbstgeschaffencii
Begriffen arbeitet, desto weniger wird sie in der poetischen Sprache ein geeignetes
Ausdrucksmittel finden. Für die Entdeckungen und Gesetze eines Laplace und
Cuvier kann auch uur die Sprache eines Laplace und Cuvier die einzig wahre
sein. Es wäre thatsächlich eine Verirrung, wenn ein Dichter die positiven
Ergebnisse der heutigen Wissenschaft so darstellen wollte, wie es Lnkrez seiner
Zeit gethan hat. Für den modernen Dichter kann sie immer nnr als mittel¬
bare Quelle gelten, ans der er Begeisterung für gewaltige Ideen schöpft. Was
ist geeigneter — ruft der Philosoph E. Caro aus, ein eifriger Anhänger der


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[0023] Streifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart Hunderts in der französischen Litteratur hervortreten sehen. Unter dein mäch¬ tigen Einfluß der Naturwissenschaften schwanden schon damals die alten abge¬ griffenem Stoffe dahin. Schon Voltaire erkannte, daß eine Erneuerung der Poesie notwendig durch die Einwirkung der Wissenschaften mit ihren weiten Perspektiven und weltbewegenden Probleme» eintreten müsse. Le Brun und Fontanes versuchten zuerst die ausgetretnen Pfade zu verlassen und die natur¬ wissenschaftliche Gedankenwelt Büffons für die Poesie zu verwerten. Aber sie waren sich über ihre Ziele selbst nicht klar und sind anch über bruchstückartige Versuche nicht lnunnsgekvmmen. Erst bei Andro Chenier offenbart sich diese Richtung in greifbarer Gestalt. Er sagt in seinem Gedichte 1,'moord.ion: „Tvricelli, Newton, .^epler und Galilei haben jedem neuen Vergil Schatzkammern eröffnet; die menschlichen Wissenschaften können die Gebiete ihrer Herrschaft nicht ausdehnen, ohne auch den Raum der Dichtkunst zu erweitern. Welche lange Arbeit hat ihr das Weltall erorbert! Vor den Blicken eines Büffon öffnet die Erde unverschleiert und ungehindert ihren Schoß, ihre Quellen, ihre Wunder. Welche Fülle von Bildern, von erhabnen Anschauungen hebt sich aus diesen großartigen Dingen, die unserm Zeitalter aufbewahrt worden sind." Aber auch Andrö Chüuier hat seine wissenschaftliche Dichtung Ho>2no8 als Torso hinterlassen; die Revolution machte den Versuchen des unglücklichen Dichters ein Ende. Jetzt, nach hundert Jahren, regt sich derselbe Geist; von den Naturalisten wird, wie wir in der Abhandlung „Zur Ästhetik des Häßliche,:" gesehen haben, uicht allein der Stoss, sondern angeblich auch die strenge Methode der Physiologie in die ^omandichtung herübergenommen; die Parnassiens und insbesondere Sully-Prud- homme erwarten ebenfalls durch deu Einfluß der wissenschaftlichen Bestrebungen eine Wiedergeburt der ganzen französischen Poesie. Es ist klar, daß ein moderner Dichter das Gebiet der Wissenschaft nicht so behandeln kann, wie es Lnkrez in seinem Lehrgedicht vo isrum inllur-i gethan hat; denn alles, was der römische Dichter von der Physik und Physiologie, der Theologie und Ethik zu erzählen weiß, ist im Grunde doch mir eine andre Art von Poesie. Nur auf der ersten Stufe kann die Wissenschaft Hand in Hand mit der Dichtung gehen, wie wir das anch thatsächlich bei den ersten griechischen Philosophen sehen; je mehr sie sich aber von dem Spiel der Phantasie ablöst und mit festen, selbstgeschaffencii Begriffen arbeitet, desto weniger wird sie in der poetischen Sprache ein geeignetes Ausdrucksmittel finden. Für die Entdeckungen und Gesetze eines Laplace und Cuvier kann auch uur die Sprache eines Laplace und Cuvier die einzig wahre sein. Es wäre thatsächlich eine Verirrung, wenn ein Dichter die positiven Ergebnisse der heutigen Wissenschaft so darstellen wollte, wie es Lnkrez seiner Zeit gethan hat. Für den modernen Dichter kann sie immer nnr als mittel¬ bare Quelle gelten, ans der er Begeisterung für gewaltige Ideen schöpft. Was ist geeigneter — ruft der Philosoph E. Caro aus, ein eifriger Anhänger der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/23>, abgerufen am 28.06.2024.