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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Stellen vorzulesen, so zu lesen, daß er weder zu Schauspielern noch zu dekla-
miren brauchte, um den Text zur vollen Wirkung zu bringen. Schon im
Frankfurter Parlanrent sagte man von seiner Kunst zu sprechen, er sei ein
"Zauberer." Fürs Kolleg bereitete er sich stets gewissenhaft stundenlang vor,
machte sich mit allen neuen Erscheinungen bekannt und war immer nen, wem?
sich auch der Cyklus seiner Vorträge nach sechs bis acht Semestern wieder¬
holte Er sprach ganz frei, ließ sich vom Augenblick bestimmen, war wirklich
schöpferisch während seiner Rede und darum von mächtiger Wirkung. Tages¬
ereignisse streifte er auch in seinen Vorlesungen, und wenn etwas Wichtiges ge¬
schehen war, war seine Zuhörerschaft schon im voraus neugierig darauf, wie er
zu dem Ereignis Stellung nehmen würde. Seine Vorlesungen am Stuttgarter
Polytechnikum waren demnach ein wahres Fest für eine große Gemeinde. In
vollen Hnufeu strömten Studenten und alte Herren, junge und alte Frauen
in deu geräumigen Hörsaal, so daß er die Menge kaum zu fassen vermochte.
Trotz der dicht vor seinem Katheder sitzenden Damen, begann er seine Rede
immer nur mit der Ansprache: "Meine Herren!" was aber die Frauen, wie
Ilse Frapan versichert, keineswegs verletzte; die Ansprache sagte ja, daß er
keinen schöngeistig-populären Vortrag, sondern ernst zu sprechen vorhabe. Er
"ahn auch sonst keine Rücksicht auf das gemischte Publikum seines Hörsaals,
sondern setzte immer nur begabte Studenten auf den Bänken voraus. So z.V.
"wenn er bei der Untersuchung der Frage "Wer ist ein Dichter?" anfing:
"Es hat einmal eine alte Perrücke gegeben, die poetische Werke nur immer
auf ihren moralischen Nutzen hin betrachtet und geschätzt hat. Diese alte
Perrücke ist längst lächerlich geworden, und wenn man nnr den Namen nennt,
Gottsched.... (allgemeines Gelächter). Ja, meine Herren, und sollte mau
es glauben, daß dieser soviel belachte alte Herr noch heute höchst lebendig ist?
Daß er seinen Puder über unzählige Köpfe ausgeschüttet hat, die alle noch
heutzutage ein Kunstwerk darauf hin umsehen: was kann man daraus lernen?
(Es war merkwürdig, wie schnell das Lachen verstummte, als er das sagte.)
Ich aber sage Ihnen: Wenn mau sich belehren will, so nehme mau ein Lehr¬
buch in die Hund, und wenn man sich bessern will, so soll mau in eine
Predigt gehen, oder wenn man es nicht mag, zu einem Menschen, auf dessen
Charakter man großes Vertrauen setzt, nud soll sich von dem raten lassen.
Aber wenn mau vor einem Kunstwerk steht, so soll man nur rein schauen.
Und wenn Sie mich nun fragen: "Was ist deun reine Anschauung?" so sage
ich Ihnen: "Reine Anschauung ist reine Anschauung, und damit Punktum."
Er hat, fährt die Erzählerin fort, nachher denn doch diesen Begriff weiter definirt,
aber das "Punktum" hatte ja auch seine volle Richtigkeit, denn wer die Gabe
der "reinen Anschauung" nicht besitzt, dem wird keine Definition etwas helfen."

So feinsinnig und treffend diese Anmerkung ist, so vorzüglich ist die ganze
Charakteristik, die Ilse Frapan von Bischer im Hörsaal liefert; wir können hier


Stellen vorzulesen, so zu lesen, daß er weder zu Schauspielern noch zu dekla-
miren brauchte, um den Text zur vollen Wirkung zu bringen. Schon im
Frankfurter Parlanrent sagte man von seiner Kunst zu sprechen, er sei ein
„Zauberer." Fürs Kolleg bereitete er sich stets gewissenhaft stundenlang vor,
machte sich mit allen neuen Erscheinungen bekannt und war immer nen, wem?
sich auch der Cyklus seiner Vorträge nach sechs bis acht Semestern wieder¬
holte Er sprach ganz frei, ließ sich vom Augenblick bestimmen, war wirklich
schöpferisch während seiner Rede und darum von mächtiger Wirkung. Tages¬
ereignisse streifte er auch in seinen Vorlesungen, und wenn etwas Wichtiges ge¬
schehen war, war seine Zuhörerschaft schon im voraus neugierig darauf, wie er
zu dem Ereignis Stellung nehmen würde. Seine Vorlesungen am Stuttgarter
Polytechnikum waren demnach ein wahres Fest für eine große Gemeinde. In
vollen Hnufeu strömten Studenten und alte Herren, junge und alte Frauen
in deu geräumigen Hörsaal, so daß er die Menge kaum zu fassen vermochte.
Trotz der dicht vor seinem Katheder sitzenden Damen, begann er seine Rede
immer nur mit der Ansprache: „Meine Herren!" was aber die Frauen, wie
Ilse Frapan versichert, keineswegs verletzte; die Ansprache sagte ja, daß er
keinen schöngeistig-populären Vortrag, sondern ernst zu sprechen vorhabe. Er
»ahn auch sonst keine Rücksicht auf das gemischte Publikum seines Hörsaals,
sondern setzte immer nur begabte Studenten auf den Bänken voraus. So z.V.
„wenn er bei der Untersuchung der Frage »Wer ist ein Dichter?« anfing:
»Es hat einmal eine alte Perrücke gegeben, die poetische Werke nur immer
auf ihren moralischen Nutzen hin betrachtet und geschätzt hat. Diese alte
Perrücke ist längst lächerlich geworden, und wenn man nnr den Namen nennt,
Gottsched.... (allgemeines Gelächter). Ja, meine Herren, und sollte mau
es glauben, daß dieser soviel belachte alte Herr noch heute höchst lebendig ist?
Daß er seinen Puder über unzählige Köpfe ausgeschüttet hat, die alle noch
heutzutage ein Kunstwerk darauf hin umsehen: was kann man daraus lernen?
(Es war merkwürdig, wie schnell das Lachen verstummte, als er das sagte.)
Ich aber sage Ihnen: Wenn mau sich belehren will, so nehme mau ein Lehr¬
buch in die Hund, und wenn man sich bessern will, so soll mau in eine
Predigt gehen, oder wenn man es nicht mag, zu einem Menschen, auf dessen
Charakter man großes Vertrauen setzt, nud soll sich von dem raten lassen.
Aber wenn mau vor einem Kunstwerk steht, so soll man nur rein schauen.
Und wenn Sie mich nun fragen: »Was ist deun reine Anschauung?« so sage
ich Ihnen: »Reine Anschauung ist reine Anschauung, und damit Punktum.«
Er hat, fährt die Erzählerin fort, nachher denn doch diesen Begriff weiter definirt,
aber das »Punktum« hatte ja auch seine volle Richtigkeit, denn wer die Gabe
der »reinen Anschauung« nicht besitzt, dem wird keine Definition etwas helfen."

So feinsinnig und treffend diese Anmerkung ist, so vorzüglich ist die ganze
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[0197] Stellen vorzulesen, so zu lesen, daß er weder zu Schauspielern noch zu dekla- miren brauchte, um den Text zur vollen Wirkung zu bringen. Schon im Frankfurter Parlanrent sagte man von seiner Kunst zu sprechen, er sei ein „Zauberer." Fürs Kolleg bereitete er sich stets gewissenhaft stundenlang vor, machte sich mit allen neuen Erscheinungen bekannt und war immer nen, wem? sich auch der Cyklus seiner Vorträge nach sechs bis acht Semestern wieder¬ holte Er sprach ganz frei, ließ sich vom Augenblick bestimmen, war wirklich schöpferisch während seiner Rede und darum von mächtiger Wirkung. Tages¬ ereignisse streifte er auch in seinen Vorlesungen, und wenn etwas Wichtiges ge¬ schehen war, war seine Zuhörerschaft schon im voraus neugierig darauf, wie er zu dem Ereignis Stellung nehmen würde. Seine Vorlesungen am Stuttgarter Polytechnikum waren demnach ein wahres Fest für eine große Gemeinde. In vollen Hnufeu strömten Studenten und alte Herren, junge und alte Frauen in deu geräumigen Hörsaal, so daß er die Menge kaum zu fassen vermochte. Trotz der dicht vor seinem Katheder sitzenden Damen, begann er seine Rede immer nur mit der Ansprache: „Meine Herren!" was aber die Frauen, wie Ilse Frapan versichert, keineswegs verletzte; die Ansprache sagte ja, daß er keinen schöngeistig-populären Vortrag, sondern ernst zu sprechen vorhabe. Er »ahn auch sonst keine Rücksicht auf das gemischte Publikum seines Hörsaals, sondern setzte immer nur begabte Studenten auf den Bänken voraus. So z.V. „wenn er bei der Untersuchung der Frage »Wer ist ein Dichter?« anfing: »Es hat einmal eine alte Perrücke gegeben, die poetische Werke nur immer auf ihren moralischen Nutzen hin betrachtet und geschätzt hat. Diese alte Perrücke ist längst lächerlich geworden, und wenn man nnr den Namen nennt, Gottsched.... (allgemeines Gelächter). Ja, meine Herren, und sollte mau es glauben, daß dieser soviel belachte alte Herr noch heute höchst lebendig ist? Daß er seinen Puder über unzählige Köpfe ausgeschüttet hat, die alle noch heutzutage ein Kunstwerk darauf hin umsehen: was kann man daraus lernen? (Es war merkwürdig, wie schnell das Lachen verstummte, als er das sagte.) Ich aber sage Ihnen: Wenn mau sich belehren will, so nehme mau ein Lehr¬ buch in die Hund, und wenn man sich bessern will, so soll mau in eine Predigt gehen, oder wenn man es nicht mag, zu einem Menschen, auf dessen Charakter man großes Vertrauen setzt, nud soll sich von dem raten lassen. Aber wenn mau vor einem Kunstwerk steht, so soll man nur rein schauen. Und wenn Sie mich nun fragen: »Was ist deun reine Anschauung?« so sage ich Ihnen: »Reine Anschauung ist reine Anschauung, und damit Punktum.« Er hat, fährt die Erzählerin fort, nachher denn doch diesen Begriff weiter definirt, aber das »Punktum« hatte ja auch seine volle Richtigkeit, denn wer die Gabe der »reinen Anschauung« nicht besitzt, dem wird keine Definition etwas helfen." So feinsinnig und treffend diese Anmerkung ist, so vorzüglich ist die ganze Charakteristik, die Ilse Frapan von Bischer im Hörsaal liefert; wir können hier

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/197>, abgerufen am 30.06.2024.