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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Grillparzer und die klugen Frauen

Feind fesselten, in ihre Bestandteile zu zerlegen. Über die einen wie die
andern zergrübelte er sich den Kopf, und daraus entsprang neben der An¬
schauung zum andern Teil die Lebenswahrheit und reiche Ausgestaltung seiner
Figuren und die Vorliebe für die Darstellung der schwierigsten Seelenkrisen.
Die Grenzlinie zerfloß zwischen Kunst und Natur, zwischen Phantasie und
Erfahrung; die einen waren ihm nicht minder wirklich wie die andern und der
gleichen ernstesten Beobachtung wert.

Es läßt sich nun nicht behaupten, daß hier den Frauen eine größere
Sorgfalt gewidmet worden sei als den Männern; aber eine geringere anch
nicht, wenn auch die schriftlichen Belege dafür spärlicher sind. Umso reicher
sind dafür die mittelbaren Beweise, die wir aus seinen Dramen gewinnen. Es
giebt wenig Dichter, die ihnen und der Liebe mit ihrer Kunst in dem Maße
gehuldigt hätten, soweit Arbeit und Sorgfalt auf die Ergründung und Dar¬
stellung der geheimnisvollsteu Regungen verwendet eben Huldigung sind. So
gefaßt, hätte Grillparzer wohl den Anspruch ans den Namen eines modernen
Frauenlvb. lind auch hier war es das Leben, war es die Beobachtung fremder
und eigner Liebesleiden und -Freuden, die ihn nicht nur lehrte", was der
Dichter der Liebe wissen muß, sondern ihn auch trieben, das so süß und so
bitter erworbene Wissen der Kunst zu weihen. Das muß so sein, welliger
weil es der Dichter hie und da selbst bestätigt, als vielmehr deshalb, weil da,
wo seiue Werke Liebeskämpfe zum Gegenstände haben, oft jede Zeile und jede
Wendung von einer Naturtreue und die ganzen Gestalten von einer Lebens-
wärme sind, die sie mir von dem Leben selbst erhalten haben können. Dies
führt uns zu dem Gegenstande unsers Aufsatzes selbst. Anlaß zu ihm bot eine
Bemerkung W. Scherers, die von eben jenen Voraussetzungen ausgeht, die
uns bisher beschäftigten. In seinem Aufsatze "Zum Gedächtnis Franz Grill-
parzers" (abgedruckt in der "Österreichischen Wochenschrift für Wissenschaft und
Kunst," Wien, 1872, und wieder in seinem Buche "Vortrage und Aufsätze zur
Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich," Berlin, 1874)
sagt er mit Bezug auf Melitta: "Wir konstruiren unsre Ideale nicht, ohne
daß unser eignes Selbst den Stoss dazu böte. Was wir außer uns bewundern,
das muß in uns wiederklingen." Und so meint er denn, in Melitta hätten
wir unter allen weiblichen Gestalten der Dramen die zu erblicken, in der er
nicht nur künstlerischen Absichten, sondern auch menschlichen Antrieben folgend
sein eignes Ideal von Weiblichkeit hingestellt habe. Sie also würde demnach
im Verein alle jene Vorzüge enthalten, die ihn, wo er ihnen etwa begegnete,
vor allen zu fesseln und jenes höchste Wohlgefallen, das für das andre Ge¬
schlecht in den Mann gelegt ist, wach werden zu lassen vermöchten. Wie er
sich aber dies Ideal dachte, sagt die bekannte Schilderung Sapphvs:


Das liebe Mädchen mit dem stillen Sinn,
Obschon nicht hohen Geists, von mäßgen Gaben

Grillparzer und die klugen Frauen

Feind fesselten, in ihre Bestandteile zu zerlegen. Über die einen wie die
andern zergrübelte er sich den Kopf, und daraus entsprang neben der An¬
schauung zum andern Teil die Lebenswahrheit und reiche Ausgestaltung seiner
Figuren und die Vorliebe für die Darstellung der schwierigsten Seelenkrisen.
Die Grenzlinie zerfloß zwischen Kunst und Natur, zwischen Phantasie und
Erfahrung; die einen waren ihm nicht minder wirklich wie die andern und der
gleichen ernstesten Beobachtung wert.

Es läßt sich nun nicht behaupten, daß hier den Frauen eine größere
Sorgfalt gewidmet worden sei als den Männern; aber eine geringere anch
nicht, wenn auch die schriftlichen Belege dafür spärlicher sind. Umso reicher
sind dafür die mittelbaren Beweise, die wir aus seinen Dramen gewinnen. Es
giebt wenig Dichter, die ihnen und der Liebe mit ihrer Kunst in dem Maße
gehuldigt hätten, soweit Arbeit und Sorgfalt auf die Ergründung und Dar¬
stellung der geheimnisvollsteu Regungen verwendet eben Huldigung sind. So
gefaßt, hätte Grillparzer wohl den Anspruch ans den Namen eines modernen
Frauenlvb. lind auch hier war es das Leben, war es die Beobachtung fremder
und eigner Liebesleiden und -Freuden, die ihn nicht nur lehrte», was der
Dichter der Liebe wissen muß, sondern ihn auch trieben, das so süß und so
bitter erworbene Wissen der Kunst zu weihen. Das muß so sein, welliger
weil es der Dichter hie und da selbst bestätigt, als vielmehr deshalb, weil da,
wo seiue Werke Liebeskämpfe zum Gegenstände haben, oft jede Zeile und jede
Wendung von einer Naturtreue und die ganzen Gestalten von einer Lebens-
wärme sind, die sie mir von dem Leben selbst erhalten haben können. Dies
führt uns zu dem Gegenstande unsers Aufsatzes selbst. Anlaß zu ihm bot eine
Bemerkung W. Scherers, die von eben jenen Voraussetzungen ausgeht, die
uns bisher beschäftigten. In seinem Aufsatze „Zum Gedächtnis Franz Grill-
parzers" (abgedruckt in der „Österreichischen Wochenschrift für Wissenschaft und
Kunst," Wien, 1872, und wieder in seinem Buche „Vortrage und Aufsätze zur
Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich," Berlin, 1874)
sagt er mit Bezug auf Melitta: „Wir konstruiren unsre Ideale nicht, ohne
daß unser eignes Selbst den Stoss dazu böte. Was wir außer uns bewundern,
das muß in uns wiederklingen." Und so meint er denn, in Melitta hätten
wir unter allen weiblichen Gestalten der Dramen die zu erblicken, in der er
nicht nur künstlerischen Absichten, sondern auch menschlichen Antrieben folgend
sein eignes Ideal von Weiblichkeit hingestellt habe. Sie also würde demnach
im Verein alle jene Vorzüge enthalten, die ihn, wo er ihnen etwa begegnete,
vor allen zu fesseln und jenes höchste Wohlgefallen, das für das andre Ge¬
schlecht in den Mann gelegt ist, wach werden zu lassen vermöchten. Wie er
sich aber dies Ideal dachte, sagt die bekannte Schilderung Sapphvs:


Das liebe Mädchen mit dem stillen Sinn,
Obschon nicht hohen Geists, von mäßgen Gaben

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[0148] Grillparzer und die klugen Frauen Feind fesselten, in ihre Bestandteile zu zerlegen. Über die einen wie die andern zergrübelte er sich den Kopf, und daraus entsprang neben der An¬ schauung zum andern Teil die Lebenswahrheit und reiche Ausgestaltung seiner Figuren und die Vorliebe für die Darstellung der schwierigsten Seelenkrisen. Die Grenzlinie zerfloß zwischen Kunst und Natur, zwischen Phantasie und Erfahrung; die einen waren ihm nicht minder wirklich wie die andern und der gleichen ernstesten Beobachtung wert. Es läßt sich nun nicht behaupten, daß hier den Frauen eine größere Sorgfalt gewidmet worden sei als den Männern; aber eine geringere anch nicht, wenn auch die schriftlichen Belege dafür spärlicher sind. Umso reicher sind dafür die mittelbaren Beweise, die wir aus seinen Dramen gewinnen. Es giebt wenig Dichter, die ihnen und der Liebe mit ihrer Kunst in dem Maße gehuldigt hätten, soweit Arbeit und Sorgfalt auf die Ergründung und Dar¬ stellung der geheimnisvollsteu Regungen verwendet eben Huldigung sind. So gefaßt, hätte Grillparzer wohl den Anspruch ans den Namen eines modernen Frauenlvb. lind auch hier war es das Leben, war es die Beobachtung fremder und eigner Liebesleiden und -Freuden, die ihn nicht nur lehrte», was der Dichter der Liebe wissen muß, sondern ihn auch trieben, das so süß und so bitter erworbene Wissen der Kunst zu weihen. Das muß so sein, welliger weil es der Dichter hie und da selbst bestätigt, als vielmehr deshalb, weil da, wo seiue Werke Liebeskämpfe zum Gegenstände haben, oft jede Zeile und jede Wendung von einer Naturtreue und die ganzen Gestalten von einer Lebens- wärme sind, die sie mir von dem Leben selbst erhalten haben können. Dies führt uns zu dem Gegenstande unsers Aufsatzes selbst. Anlaß zu ihm bot eine Bemerkung W. Scherers, die von eben jenen Voraussetzungen ausgeht, die uns bisher beschäftigten. In seinem Aufsatze „Zum Gedächtnis Franz Grill- parzers" (abgedruckt in der „Österreichischen Wochenschrift für Wissenschaft und Kunst," Wien, 1872, und wieder in seinem Buche „Vortrage und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich," Berlin, 1874) sagt er mit Bezug auf Melitta: „Wir konstruiren unsre Ideale nicht, ohne daß unser eignes Selbst den Stoss dazu böte. Was wir außer uns bewundern, das muß in uns wiederklingen." Und so meint er denn, in Melitta hätten wir unter allen weiblichen Gestalten der Dramen die zu erblicken, in der er nicht nur künstlerischen Absichten, sondern auch menschlichen Antrieben folgend sein eignes Ideal von Weiblichkeit hingestellt habe. Sie also würde demnach im Verein alle jene Vorzüge enthalten, die ihn, wo er ihnen etwa begegnete, vor allen zu fesseln und jenes höchste Wohlgefallen, das für das andre Ge¬ schlecht in den Mann gelegt ist, wach werden zu lassen vermöchten. Wie er sich aber dies Ideal dachte, sagt die bekannte Schilderung Sapphvs: Das liebe Mädchen mit dem stillen Sinn, Obschon nicht hohen Geists, von mäßgen Gaben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/148>, abgerufen am 22.12.2024.