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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Vorurteile auf dem Gebiete der Sprachen

deutschen Gedanken versessen, für den eine eieeronianische Redensart zu matt
klang oder nicht Paßte, und dann griff man doch zum deutschen Wörterbuche.
Zu statten kam es einem dabei, wenn man recht viel gelesen und sich auf diese
Weise einen gewissen Schatz von Redensarten und ein gewisses Sprachgefühl
angeeignet hatte. Denn von einem eigentlichen Denken, von einer Verstandes¬
thätigkeit kann ja bei diesem "Denken in einer fremden Sprache" uicht die
Rede sein. Seien wir doch offen: Bei der Erlernung der Muttersprache so¬
wohl, wie bei der einer fremden Sprache, spielt nicht der Verstand, sondern
das Gedächtnis die Hauptrolle, und diese so offenbare Thatsache würde längst
allgemein anerkannt sein, wenn wir uns nicht gewöhnt hätten, immer so gering-
schützig vvni Gedächtnis zu reden. Es war einer der größten Fehler der alten
Schule, eine fremde Sprache rein verstandesmäßig erlernen zu wollen und die
Grammatik in den Mittelpunkt des Unterrichtes zu stellen. Jetzt ist die
Sache anders geworden. Die Grammatik wird nicht vernachlässigt, aber
das Lesen ist die Hauptsache. Und so ist das einzige Mittel, das man angeben
kaun, um in den Geist der Sprache einzudringen, das uralte: Viel lesen, viel
sprechen, so wenig wie möglich an die Muttersprache denken, so wenig wie
möglich vergleichen, denn dieses Vergleichen schadet dem Stil, dem fremden
wie dem deutschen. Doch da komme ich abermals in Widerspruch zu Mommsen:
"Meines Erachtens -- sagt er -- ist schriftliches Übersetzen aus einer fremden
Sprache bei weitem die zweckmäßigste Form der Bildung des deutschen Stils.
Natürlich muß der Lehrer darauf halten, daß dann Demosthenes so deutsch
redet, wie Reiske ihn reden läßt."

Übersetzungen sind unbedingt nötig, und ebenso unerläßlich ist es, daß der
Lehrer auf gutes Deutsch hält. Aber diese Übungen für die bei weitem zweck¬
müßigste Form der Bildung des deutsches Stils zu halten, kann ich mich um
so weniger entschließen, als ich bis jetzt -- gerade das Gegenteil geglaubt habe.
Eine gute deutsche Übersetzung setzt eine vollständige Beherrschung der deutschen
Sprache voraus. Nun ist es eine bekannte Thatsache, daß nie mehr undeutsche
Redensarten und Konstruktionen gebraucht werden, als gerade bei der Über¬
setzung aus einer fremden Sprache. Ausdrücke, die ein Schüler nie und nimmer
in einem deutschen Aufsatze gebrauchen würde, haben für ihn gar nichts Ver¬
fängliches bei der Übersetzung; ja solche Ausdrücke würden nie zur Welt
kommen, wenn ihnen nicht hierzu die fremde Vorlage verhälfe. Wie ist dies
zu erklären? Ich glaube, auf sehr einfache Weise. Wir können unsern Schülern
bis zur Sekunda gar nicht eine solche Beherrschung des Sprachgebrauches zumuten;
selbst bei den Primanern, jungen Leuten von achtzehn bis neunzehn Jahren,
wird sie schwerlich immer vorhanden sein. Wenn aber diese Beherrschung der
fremden Sprache noch nicht vorhanden ist, kann der Lehrer wirklich beim
Übersetzen viel dazu verhelfen? Kann er etwas andres thun, als auf einige
Gesetze des Satzrhythmus aufmerksam machen oder dem Schüler sagen: der


Vorurteile auf dem Gebiete der Sprachen

deutschen Gedanken versessen, für den eine eieeronianische Redensart zu matt
klang oder nicht Paßte, und dann griff man doch zum deutschen Wörterbuche.
Zu statten kam es einem dabei, wenn man recht viel gelesen und sich auf diese
Weise einen gewissen Schatz von Redensarten und ein gewisses Sprachgefühl
angeeignet hatte. Denn von einem eigentlichen Denken, von einer Verstandes¬
thätigkeit kann ja bei diesem „Denken in einer fremden Sprache" uicht die
Rede sein. Seien wir doch offen: Bei der Erlernung der Muttersprache so¬
wohl, wie bei der einer fremden Sprache, spielt nicht der Verstand, sondern
das Gedächtnis die Hauptrolle, und diese so offenbare Thatsache würde längst
allgemein anerkannt sein, wenn wir uns nicht gewöhnt hätten, immer so gering-
schützig vvni Gedächtnis zu reden. Es war einer der größten Fehler der alten
Schule, eine fremde Sprache rein verstandesmäßig erlernen zu wollen und die
Grammatik in den Mittelpunkt des Unterrichtes zu stellen. Jetzt ist die
Sache anders geworden. Die Grammatik wird nicht vernachlässigt, aber
das Lesen ist die Hauptsache. Und so ist das einzige Mittel, das man angeben
kaun, um in den Geist der Sprache einzudringen, das uralte: Viel lesen, viel
sprechen, so wenig wie möglich an die Muttersprache denken, so wenig wie
möglich vergleichen, denn dieses Vergleichen schadet dem Stil, dem fremden
wie dem deutschen. Doch da komme ich abermals in Widerspruch zu Mommsen:
»Meines Erachtens — sagt er — ist schriftliches Übersetzen aus einer fremden
Sprache bei weitem die zweckmäßigste Form der Bildung des deutschen Stils.
Natürlich muß der Lehrer darauf halten, daß dann Demosthenes so deutsch
redet, wie Reiske ihn reden läßt."

Übersetzungen sind unbedingt nötig, und ebenso unerläßlich ist es, daß der
Lehrer auf gutes Deutsch hält. Aber diese Übungen für die bei weitem zweck¬
müßigste Form der Bildung des deutsches Stils zu halten, kann ich mich um
so weniger entschließen, als ich bis jetzt — gerade das Gegenteil geglaubt habe.
Eine gute deutsche Übersetzung setzt eine vollständige Beherrschung der deutschen
Sprache voraus. Nun ist es eine bekannte Thatsache, daß nie mehr undeutsche
Redensarten und Konstruktionen gebraucht werden, als gerade bei der Über¬
setzung aus einer fremden Sprache. Ausdrücke, die ein Schüler nie und nimmer
in einem deutschen Aufsatze gebrauchen würde, haben für ihn gar nichts Ver¬
fängliches bei der Übersetzung; ja solche Ausdrücke würden nie zur Welt
kommen, wenn ihnen nicht hierzu die fremde Vorlage verhälfe. Wie ist dies
zu erklären? Ich glaube, auf sehr einfache Weise. Wir können unsern Schülern
bis zur Sekunda gar nicht eine solche Beherrschung des Sprachgebrauches zumuten;
selbst bei den Primanern, jungen Leuten von achtzehn bis neunzehn Jahren,
wird sie schwerlich immer vorhanden sein. Wenn aber diese Beherrschung der
fremden Sprache noch nicht vorhanden ist, kann der Lehrer wirklich beim
Übersetzen viel dazu verhelfen? Kann er etwas andres thun, als auf einige
Gesetze des Satzrhythmus aufmerksam machen oder dem Schüler sagen: der


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[0143] Vorurteile auf dem Gebiete der Sprachen deutschen Gedanken versessen, für den eine eieeronianische Redensart zu matt klang oder nicht Paßte, und dann griff man doch zum deutschen Wörterbuche. Zu statten kam es einem dabei, wenn man recht viel gelesen und sich auf diese Weise einen gewissen Schatz von Redensarten und ein gewisses Sprachgefühl angeeignet hatte. Denn von einem eigentlichen Denken, von einer Verstandes¬ thätigkeit kann ja bei diesem „Denken in einer fremden Sprache" uicht die Rede sein. Seien wir doch offen: Bei der Erlernung der Muttersprache so¬ wohl, wie bei der einer fremden Sprache, spielt nicht der Verstand, sondern das Gedächtnis die Hauptrolle, und diese so offenbare Thatsache würde längst allgemein anerkannt sein, wenn wir uns nicht gewöhnt hätten, immer so gering- schützig vvni Gedächtnis zu reden. Es war einer der größten Fehler der alten Schule, eine fremde Sprache rein verstandesmäßig erlernen zu wollen und die Grammatik in den Mittelpunkt des Unterrichtes zu stellen. Jetzt ist die Sache anders geworden. Die Grammatik wird nicht vernachlässigt, aber das Lesen ist die Hauptsache. Und so ist das einzige Mittel, das man angeben kaun, um in den Geist der Sprache einzudringen, das uralte: Viel lesen, viel sprechen, so wenig wie möglich an die Muttersprache denken, so wenig wie möglich vergleichen, denn dieses Vergleichen schadet dem Stil, dem fremden wie dem deutschen. Doch da komme ich abermals in Widerspruch zu Mommsen: »Meines Erachtens — sagt er — ist schriftliches Übersetzen aus einer fremden Sprache bei weitem die zweckmäßigste Form der Bildung des deutschen Stils. Natürlich muß der Lehrer darauf halten, daß dann Demosthenes so deutsch redet, wie Reiske ihn reden läßt." Übersetzungen sind unbedingt nötig, und ebenso unerläßlich ist es, daß der Lehrer auf gutes Deutsch hält. Aber diese Übungen für die bei weitem zweck¬ müßigste Form der Bildung des deutsches Stils zu halten, kann ich mich um so weniger entschließen, als ich bis jetzt — gerade das Gegenteil geglaubt habe. Eine gute deutsche Übersetzung setzt eine vollständige Beherrschung der deutschen Sprache voraus. Nun ist es eine bekannte Thatsache, daß nie mehr undeutsche Redensarten und Konstruktionen gebraucht werden, als gerade bei der Über¬ setzung aus einer fremden Sprache. Ausdrücke, die ein Schüler nie und nimmer in einem deutschen Aufsatze gebrauchen würde, haben für ihn gar nichts Ver¬ fängliches bei der Übersetzung; ja solche Ausdrücke würden nie zur Welt kommen, wenn ihnen nicht hierzu die fremde Vorlage verhälfe. Wie ist dies zu erklären? Ich glaube, auf sehr einfache Weise. Wir können unsern Schülern bis zur Sekunda gar nicht eine solche Beherrschung des Sprachgebrauches zumuten; selbst bei den Primanern, jungen Leuten von achtzehn bis neunzehn Jahren, wird sie schwerlich immer vorhanden sein. Wenn aber diese Beherrschung der fremden Sprache noch nicht vorhanden ist, kann der Lehrer wirklich beim Übersetzen viel dazu verhelfen? Kann er etwas andres thun, als auf einige Gesetze des Satzrhythmus aufmerksam machen oder dem Schüler sagen: der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/143>, abgerufen am 22.12.2024.