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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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die weder durch die Fortschritte der Wissenschaft, noch dnrch die Verbesserung
der Methode, noch durch den wissenschaftlichen Charakter der jetzigen Lehrbücher
ausgetilgt werden können. Seien wir offen. Viele schließen so: Zu unsrer
Zeit wurde Französisch und Englisch nur nebenbei betrieben, das Übungsbuch
war schlecht und die Methode noch schlechter, folglich ist mit den neuern
Sprachen überhaupt nichts los. Nun wohl! Allen denen, die noch in solche"
Ansichten befangen sind, rate ich, sich heute etwas mehr ans dem Gebiete der
neuern Philologie umzusehen, in eine neuere französische oder englische Gram¬
matik, vielleicht in die von Lückiug und Im. Schmidt einmal ordentlich hinein¬
zublicken, und ich bin der Überzeugung, so werde" finden, daß auch die
modernen Sprachen überreichen Stoff für formale Bildung darbieten, ja den
Lehrer geradezu zwingen, ans der großen Fülle der Erscheinungen nur das
Wichtigste für seine Schüler auszuwählen.

Mit dein, was ich eben ausgesprochen habe, stelle ich mich in einigen
Punkten in öffnen Gegensatz zu den Ansichten, die neuerdings Th. Mommsen
in seinein Briefwechsel mit F. Jonas (Weidmanns Lehrerkalender 1889/1890)
kundgegeben hat. Wenn er von "wirklicher Beherrschung" oder vom "völlige"
Beherrschen" einer fremden Sprache spricht, so ist mir das einfach ""verständlich,
und vollends unbegreiflich, wenn er eine solche Fähigkeit von den Schülern
verlangt. Mag das Lehrer- und Schülermaterial noch so vorzüglich sei", es
ist eben etwas Unmögliches, was man hier verlangt. Der Irrtum kommt
offenbar vom Lateinschreiben her, vom Schreiben in einer toten Sprache,
und von da hat er sich übertragen auf das Gebiet der neuern Sprachen,
auf jenes gefährliche Gebiet, wo ohne weiteres eine Kritik durch Angehörige
der betreffenden Sprache erfolgen kann. Wie diese Kritik bis jetzt ausgefallen
ist, habe ich oben gezeigt. Sie ist außerordentlich lehrreich und veranlaßt
vielleicht auch klassische Philologen, einen Schluß nach Analogie zu ziehen.

Noch ans einige andre Punkte möchte ich hier eingehen. Ich greife zuerst
das "Denken in einer fremden Sprache" heraus. Viele, glaube ich, stellen sich
auch dieses Denken viel zu einfach vor. Wenn wir als Primaner einen latei¬
nischen Aufsatz zu machen hatten, so erhielten wir die sehr verständige An¬
weisung, ihn ja nicht erst deutsch zu entwerfen, sondern gleich lateinisch darauf
los zu schreiben. Diese Vorschrift drückte ungefähr dasselbe aus, wie "lateinisch
denken." Im Grunde genommen hieß es nichts weiter als: Laßt euch ja nicht
auf einen Vergleich mit dem Deutschen oder auf ein Ausgehen vom Deutschen
ein, dieses Deutsch könnte euch veranlassen, eine unlateinische Redensart zu
gebrauchen, indem ihr wörtlich übersetzt; schöpft einzig und allein aus euerm
Vorrat an lateinischen Wörtern und Redensarten und sucht anzubringen, was
euch in Bezug auf Satzbildung und Satzverknüpfnng in Fleisch und Blut über¬
gegangen ist. Eine solche Vorschrift war durchaus zweckmäßig. Ganz freilich
konnte man sie nicht immer befolgen. Zuweilen war man ans einen schönen


die weder durch die Fortschritte der Wissenschaft, noch dnrch die Verbesserung
der Methode, noch durch den wissenschaftlichen Charakter der jetzigen Lehrbücher
ausgetilgt werden können. Seien wir offen. Viele schließen so: Zu unsrer
Zeit wurde Französisch und Englisch nur nebenbei betrieben, das Übungsbuch
war schlecht und die Methode noch schlechter, folglich ist mit den neuern
Sprachen überhaupt nichts los. Nun wohl! Allen denen, die noch in solche»
Ansichten befangen sind, rate ich, sich heute etwas mehr ans dem Gebiete der
neuern Philologie umzusehen, in eine neuere französische oder englische Gram¬
matik, vielleicht in die von Lückiug und Im. Schmidt einmal ordentlich hinein¬
zublicken, und ich bin der Überzeugung, so werde» finden, daß auch die
modernen Sprachen überreichen Stoff für formale Bildung darbieten, ja den
Lehrer geradezu zwingen, ans der großen Fülle der Erscheinungen nur das
Wichtigste für seine Schüler auszuwählen.

Mit dein, was ich eben ausgesprochen habe, stelle ich mich in einigen
Punkten in öffnen Gegensatz zu den Ansichten, die neuerdings Th. Mommsen
in seinein Briefwechsel mit F. Jonas (Weidmanns Lehrerkalender 1889/1890)
kundgegeben hat. Wenn er von „wirklicher Beherrschung" oder vom „völlige»
Beherrschen" einer fremden Sprache spricht, so ist mir das einfach »»verständlich,
und vollends unbegreiflich, wenn er eine solche Fähigkeit von den Schülern
verlangt. Mag das Lehrer- und Schülermaterial noch so vorzüglich sei», es
ist eben etwas Unmögliches, was man hier verlangt. Der Irrtum kommt
offenbar vom Lateinschreiben her, vom Schreiben in einer toten Sprache,
und von da hat er sich übertragen auf das Gebiet der neuern Sprachen,
auf jenes gefährliche Gebiet, wo ohne weiteres eine Kritik durch Angehörige
der betreffenden Sprache erfolgen kann. Wie diese Kritik bis jetzt ausgefallen
ist, habe ich oben gezeigt. Sie ist außerordentlich lehrreich und veranlaßt
vielleicht auch klassische Philologen, einen Schluß nach Analogie zu ziehen.

Noch ans einige andre Punkte möchte ich hier eingehen. Ich greife zuerst
das „Denken in einer fremden Sprache" heraus. Viele, glaube ich, stellen sich
auch dieses Denken viel zu einfach vor. Wenn wir als Primaner einen latei¬
nischen Aufsatz zu machen hatten, so erhielten wir die sehr verständige An¬
weisung, ihn ja nicht erst deutsch zu entwerfen, sondern gleich lateinisch darauf
los zu schreiben. Diese Vorschrift drückte ungefähr dasselbe aus, wie „lateinisch
denken." Im Grunde genommen hieß es nichts weiter als: Laßt euch ja nicht
auf einen Vergleich mit dem Deutschen oder auf ein Ausgehen vom Deutschen
ein, dieses Deutsch könnte euch veranlassen, eine unlateinische Redensart zu
gebrauchen, indem ihr wörtlich übersetzt; schöpft einzig und allein aus euerm
Vorrat an lateinischen Wörtern und Redensarten und sucht anzubringen, was
euch in Bezug auf Satzbildung und Satzverknüpfnng in Fleisch und Blut über¬
gegangen ist. Eine solche Vorschrift war durchaus zweckmäßig. Ganz freilich
konnte man sie nicht immer befolgen. Zuweilen war man ans einen schönen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/142>, abgerufen am 30.06.2024.