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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Vorurteile auf dein Gebiete der Sprache"

daß das Französische, und gar erst das Englische, eine sehr leichte Sprache
sei. Und doch hätte eine einfache Überlegung bald eines Bessern belehren
können. Sie hätte jedermann sagen müssen, daß diese rein formalen Dinge
von ganz untergeordneter Bedeutung siud, daß der Reichtum an Flexionen wohl
für den Philologen einen Gegenstand interessanter Beobachtung bildet, für die
Schule jedoch eine leicht zu entbehrende, ja sogar eine recht hinderliche Sache
ist, der fast kein andrer Bildungswert innewohnt, als der einer Übung des
Gedächtnisses. "Es liegt sehr wenig daran -- sagt Lotze (Mikrokosmus III,
289) -- wie viele Kasus und Modi sich erhalten haben: zum Ausdruck aller
denkbaren Beziehungen würden sie doch nicht ausreichen; sie aber bis zur
Deckung der meisten Bedürfnisse zu vermehren, ist an sich kein edleres Prinzip
der Sprachbildnttg, als das andre, zu dem bei steigenden Anforderungen an
Feinheit des Ausdrucks zuletzt doch immer gegriffen wurde, ich meine die
selbständige Bezeichnung der Verhältnisse durch eigne Worte." Und hier ge¬
statte man mir eine kleine Abschweifung von meinem Thema. Ich halte eine
straffe Betreibung der Grammatik in jeder Sprache für unbedingt notwendig,
aber man sehe nur nicht einzig und allein in ihr das wahre Heil und bilde
sich vor allem nicht ein, daß durch eine eingehende Behandlung dieser Seite
wirklich Ersprießliches, was sich nicht durch etwas Besseres ersetzen ließe, er¬
reicht werden könne. Mnu kann getrost behaupten , daß eine allzu ausführ¬
liche Behandlung der Grammatik, besonders wenn sie vom Lesen getrennt wird,
das Eindringen in den Sprachgeist geradezu hindre und wichtigern Sachen den
Boden entziehe. Das Leben der Sprache zeigt sich noch in vielen andern
Dingen, die außerhalb der Grammatik liegen, in dem eigentümlichen Van
und der Verknüpfung der Sätze, in den synonymischen Ausdrücken, in den
idiomatischen Wendungen und noch in vielem andern, was nur durch ein
eifriges Studium an der Hand zusammenhängenden Lesens beobachtet werden
kann. Diese Ansicht wird hentzutnge von dem größten Teile der Philologen
geteilt. Sie ist auch praktisch schon durchgeführt. Man denke nnr an die
Zeit, wo man den großen lateinischen "Zumpt" wälzte -- mit den damaligen
Geuusregclu kann man noch heute auch Nichtphilvlogen ein Vergnügen be¬
reiten --, und betrachte dann so viele der heutigen lateinischen Grammatiker
in ihrer handlichen Form und ihrem immer mehr abnehmenden Umfang.

Doch ich höre bereits einen andern Einwurf: Die neuern Sprachen be¬
sitzen kein geeignetes Material zu formaler Bildung. Wie eine solche Be¬
hauptung sich heute noch halten und so viele Nachbeter finden kann, wie
Männer der Wissenschaft mit hochangesehenen Namen sie aussprechen können,
erschien mir lange als ein Rätsel und würde mir auch heute noch als ein
solches erscheine", wenn ich nicht wüßte, daß gerade in Sachen des Unterrichts
die persönliche Erfahrung und der frühere nachlässige Betrieb gewisser Unter¬
richtsfächer Ansichten, oder sagen wir lieber Vorurteile, hat entstehen lassen,


Vorurteile auf dein Gebiete der Sprache»

daß das Französische, und gar erst das Englische, eine sehr leichte Sprache
sei. Und doch hätte eine einfache Überlegung bald eines Bessern belehren
können. Sie hätte jedermann sagen müssen, daß diese rein formalen Dinge
von ganz untergeordneter Bedeutung siud, daß der Reichtum an Flexionen wohl
für den Philologen einen Gegenstand interessanter Beobachtung bildet, für die
Schule jedoch eine leicht zu entbehrende, ja sogar eine recht hinderliche Sache
ist, der fast kein andrer Bildungswert innewohnt, als der einer Übung des
Gedächtnisses. „Es liegt sehr wenig daran — sagt Lotze (Mikrokosmus III,
289) — wie viele Kasus und Modi sich erhalten haben: zum Ausdruck aller
denkbaren Beziehungen würden sie doch nicht ausreichen; sie aber bis zur
Deckung der meisten Bedürfnisse zu vermehren, ist an sich kein edleres Prinzip
der Sprachbildnttg, als das andre, zu dem bei steigenden Anforderungen an
Feinheit des Ausdrucks zuletzt doch immer gegriffen wurde, ich meine die
selbständige Bezeichnung der Verhältnisse durch eigne Worte." Und hier ge¬
statte man mir eine kleine Abschweifung von meinem Thema. Ich halte eine
straffe Betreibung der Grammatik in jeder Sprache für unbedingt notwendig,
aber man sehe nur nicht einzig und allein in ihr das wahre Heil und bilde
sich vor allem nicht ein, daß durch eine eingehende Behandlung dieser Seite
wirklich Ersprießliches, was sich nicht durch etwas Besseres ersetzen ließe, er¬
reicht werden könne. Mnu kann getrost behaupten , daß eine allzu ausführ¬
liche Behandlung der Grammatik, besonders wenn sie vom Lesen getrennt wird,
das Eindringen in den Sprachgeist geradezu hindre und wichtigern Sachen den
Boden entziehe. Das Leben der Sprache zeigt sich noch in vielen andern
Dingen, die außerhalb der Grammatik liegen, in dem eigentümlichen Van
und der Verknüpfung der Sätze, in den synonymischen Ausdrücken, in den
idiomatischen Wendungen und noch in vielem andern, was nur durch ein
eifriges Studium an der Hand zusammenhängenden Lesens beobachtet werden
kann. Diese Ansicht wird hentzutnge von dem größten Teile der Philologen
geteilt. Sie ist auch praktisch schon durchgeführt. Man denke nnr an die
Zeit, wo man den großen lateinischen „Zumpt" wälzte — mit den damaligen
Geuusregclu kann man noch heute auch Nichtphilvlogen ein Vergnügen be¬
reiten —, und betrachte dann so viele der heutigen lateinischen Grammatiker
in ihrer handlichen Form und ihrem immer mehr abnehmenden Umfang.

Doch ich höre bereits einen andern Einwurf: Die neuern Sprachen be¬
sitzen kein geeignetes Material zu formaler Bildung. Wie eine solche Be¬
hauptung sich heute noch halten und so viele Nachbeter finden kann, wie
Männer der Wissenschaft mit hochangesehenen Namen sie aussprechen können,
erschien mir lange als ein Rätsel und würde mir auch heute noch als ein
solches erscheine», wenn ich nicht wüßte, daß gerade in Sachen des Unterrichts
die persönliche Erfahrung und der frühere nachlässige Betrieb gewisser Unter¬
richtsfächer Ansichten, oder sagen wir lieber Vorurteile, hat entstehen lassen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/141>, abgerufen am 30.06.2024.