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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Vorurteile auf dein Gebiete der Tpracheu

einfach Vermessenheit wäre. Und doch sollte nur bei der Wichtigkeit des
Gegenstandes so vorsichtig wie nur irgend möglich sein. Man sollte nie einen
Schluß ziehen, ehe man nicht die Vordersätze genau geprüft hat.

Keine Frage in dem Schulstreite bewegt die Gemüter mehr, als die nach
dem Werte der klassischen und der modernen Sprachen. Wollte man alles zu¬
sammenstellen, was über diesen Punkt schon geschrieben worden ist, so käme
eine stattliche Bibliothek heraus, deren Ordnung freilich durchaus nicht so
einfach wäre, als es auf den ersten Blick erscheint. Man könnte nach ver-
schiednen Gesichtspunkten dabei verfahren, unter anderm auch nach dem, ob ein
Verfasser wirklich genügende Kenntnisse besitzt, um über klassische und moderne
Sprachen zugleich ein Urteil zu fällen, oder -- und das kommt leider ziemlich
häufig vor -- ob nur eine einseitige Kenntnis vorhanden ist, und ob deshalb
seine Ausführungen? bei der Entscheidung der Frage überhaupt in Betracht
kommen können.

Eine sehr verbreitete Ansicht geht dahin, daß die neuern Sprachen im
Verhältnis zum Griechischen und Lateinischen außerordentlich leicht seien, mit
andern Worten, daß ihr Bilduugswert in rein sprachlicher Hinsicht sehr unter¬
geordnet sei. Und nicht allein um Französisch und Englisch denkt man dabei,
nein, auch unsre Muttersprache muß es sich gefallen lassen, ihnen beigesellt zu
werden. Wie konnte nur auch die deutsche Sprache zum Gegenstande der
Reflexion mache" oder an ihr dann und wann ein bißchen Formenlehre und
Syntax studiren! Man hat es ja im Lateinischen gelernt, man braucht ja
nur das eine oder das andre Gesetz auf das Deutsche zu übertragen! Und nun
gar erst Französisch und Englisch! Es ist ja so leicht, in diesen Sprachen zu
"konversiren"! Schlimmsten Falles geht man ein Jahr ins Ausland, dann ist
gar kein Zweifel, daß nur das fremde "Idiom" vollkommen beherrscht. Schwer
kann die Sache im Grunde genommen doch nicht sein. Der Friseur, bei dem
man sich die Haare schneiden läßt, unterhielt sich ja neulich flott mit dem
blauäugigen Sohne Albions, und der Oberkellner, wie man mit eiguen Ohren
gehört hat, beantwortete vortrefflich alle Fragen des Franzosen.

Ich spreche diese Sätze in vollem Ernst ans: viele Leute bilden sich
wirklich ihr Urteil ans solchen Thatsachen. Ihre Zahl ist nicht gering, und
sie finden sich ebenso sehr unter den Gebildeten wie unter den Ungebildeten,
denn leider Gottes ist der Sinn sür Spracherscheinungen und die Fähigkeit, ein
Urteil über Sprachdinge abzugeben, außerordentlich gering. Mit solchen Leuten
ist nicht zu rechten. Sie finden die Beherrschung einer fremden Sprache schon
in den banausischen Redensarten der "Ungewöhnlichsten Umgangssprache, und
sie würden es wahrscheinlich nicht glauben, daß zu dieser ihrer "Beherrschung"
ein Paar hundert Wörter und Redensarten ausreichen.

Viel schlimmer ist aber ein andrer Irrtum.. In einer Gesellschaft, in der
alle Stände vertreten waren, kam neulich die Rede auf die Übersetzungsübungen,


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einfach Vermessenheit wäre. Und doch sollte nur bei der Wichtigkeit des
Gegenstandes so vorsichtig wie nur irgend möglich sein. Man sollte nie einen
Schluß ziehen, ehe man nicht die Vordersätze genau geprüft hat.

Keine Frage in dem Schulstreite bewegt die Gemüter mehr, als die nach
dem Werte der klassischen und der modernen Sprachen. Wollte man alles zu¬
sammenstellen, was über diesen Punkt schon geschrieben worden ist, so käme
eine stattliche Bibliothek heraus, deren Ordnung freilich durchaus nicht so
einfach wäre, als es auf den ersten Blick erscheint. Man könnte nach ver-
schiednen Gesichtspunkten dabei verfahren, unter anderm auch nach dem, ob ein
Verfasser wirklich genügende Kenntnisse besitzt, um über klassische und moderne
Sprachen zugleich ein Urteil zu fällen, oder — und das kommt leider ziemlich
häufig vor — ob nur eine einseitige Kenntnis vorhanden ist, und ob deshalb
seine Ausführungen? bei der Entscheidung der Frage überhaupt in Betracht
kommen können.

Eine sehr verbreitete Ansicht geht dahin, daß die neuern Sprachen im
Verhältnis zum Griechischen und Lateinischen außerordentlich leicht seien, mit
andern Worten, daß ihr Bilduugswert in rein sprachlicher Hinsicht sehr unter¬
geordnet sei. Und nicht allein um Französisch und Englisch denkt man dabei,
nein, auch unsre Muttersprache muß es sich gefallen lassen, ihnen beigesellt zu
werden. Wie konnte nur auch die deutsche Sprache zum Gegenstande der
Reflexion mache» oder an ihr dann und wann ein bißchen Formenlehre und
Syntax studiren! Man hat es ja im Lateinischen gelernt, man braucht ja
nur das eine oder das andre Gesetz auf das Deutsche zu übertragen! Und nun
gar erst Französisch und Englisch! Es ist ja so leicht, in diesen Sprachen zu
„konversiren"! Schlimmsten Falles geht man ein Jahr ins Ausland, dann ist
gar kein Zweifel, daß nur das fremde „Idiom" vollkommen beherrscht. Schwer
kann die Sache im Grunde genommen doch nicht sein. Der Friseur, bei dem
man sich die Haare schneiden läßt, unterhielt sich ja neulich flott mit dem
blauäugigen Sohne Albions, und der Oberkellner, wie man mit eiguen Ohren
gehört hat, beantwortete vortrefflich alle Fragen des Franzosen.

Ich spreche diese Sätze in vollem Ernst ans: viele Leute bilden sich
wirklich ihr Urteil ans solchen Thatsachen. Ihre Zahl ist nicht gering, und
sie finden sich ebenso sehr unter den Gebildeten wie unter den Ungebildeten,
denn leider Gottes ist der Sinn sür Spracherscheinungen und die Fähigkeit, ein
Urteil über Sprachdinge abzugeben, außerordentlich gering. Mit solchen Leuten
ist nicht zu rechten. Sie finden die Beherrschung einer fremden Sprache schon
in den banausischen Redensarten der «Ungewöhnlichsten Umgangssprache, und
sie würden es wahrscheinlich nicht glauben, daß zu dieser ihrer „Beherrschung"
ein Paar hundert Wörter und Redensarten ausreichen.

Viel schlimmer ist aber ein andrer Irrtum.. In einer Gesellschaft, in der
alle Stände vertreten waren, kam neulich die Rede auf die Übersetzungsübungen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/138>, abgerufen am 30.06.2024.