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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Vorurteile ans dein Gebiete der Sprachen

10

Der Bericht hat gleichwohl die Zeit noch nicht für gekommen erachtet,
an die Zivilprozeßordnung bessernde Hand anzulegen. Zur Erläuterung
dient vielleicht ein kleines Bekenntnis, das in dem Berichte selbst sich findet.
Der Herr Minister sagt, die Rückgängigmachung der Kassentrcnuung von den
Gerichten (deren Mißstände der frühere Bericht als bereits überwunden be¬
zeichnet hatte, die aber dann doch nicht aufrecht erhalten werden konnte) sei
für ihn ein schwerer, nur durch die äußerste Notwendigkeit abgedrnngener
Schritt gewesen. Warum aber brauchte es für einen wohlwollenden Staats¬
mann, was doch ohne Zweifel Herr von Friedberg ist, ein schwerer Schritt
zu sein, einen argen Mißstand, der vielen Menschen zur Qual gereichte, aus
der Welt zu schaffen? Ohne Zweifel wurde er ihm nur deshalb schwer, weil
es bei vielen als ein Grundsatz der Staatsweisheit gilt, eine einmal getroffene
Einrichtung, anch wenn sie sich als von Hans ans verfehlt erweist, doch so
lange wie möglich aufrecht zu halten. Vielleicht ist aber doch ein Staatsmann
noch größer, der den Mut hat, sobald es das öffentliche Wohl erheischt, einen
verfehlten Schritt ohne Säumen zurück zu thun.

Schäden des Staatslebens lassen sich mit Krankheiten vergleichen. Es
giebt Krankheiten, die man ohne Gefahr "dilatorisch" behandeln kann. Es
giebt aber auch solche, die, wenn der Arzt nicht zeitig eingreift, unheilbar und
für den Kranken verderblich werden. Ich fürchte, daß der Zustand unsers
Prozesses eine Krankheit dieser Art sei. Es ist traurig, wenn in einem solchen
Falle der berufene Arzt sich und andre über die Schwere des Leidens hinwegtäuscht.

Übrigens könnte man an der Art und Weise, wie mit dieser Zivilproze߬
ordnung das deutsche Volk in seinen heiligsten Interessen getäuscht worden
ist, auch für andre Fälle etwas lernen. Ob es geschehen wird, steht freilich
dahin.




Vorurteile auf dem Gebiete der sprachen

el dem lebhaften Interesse, das man heute einer Schulreform
entgegenbringt, ist es uicht zu verwundern , daß sich allmählich
eine sehr umfangreiche Litteratur über diesen Gegenstand gebildet
hat, und daß man in ihr den allerverschiedensten, manchmal auch
den allerseltsamsten Ansichten begegnet. Gewisse Schlagwörter
werden, besonders wenn sie von großen Männern herrühren, sehr häufig dabei
als unwiderlegbare Wahrheiten hingestellt, als "Axiome," an denen zu rütteln


Grenzboten IV l"89 17
Vorurteile ans dein Gebiete der Sprachen

10

Der Bericht hat gleichwohl die Zeit noch nicht für gekommen erachtet,
an die Zivilprozeßordnung bessernde Hand anzulegen. Zur Erläuterung
dient vielleicht ein kleines Bekenntnis, das in dem Berichte selbst sich findet.
Der Herr Minister sagt, die Rückgängigmachung der Kassentrcnuung von den
Gerichten (deren Mißstände der frühere Bericht als bereits überwunden be¬
zeichnet hatte, die aber dann doch nicht aufrecht erhalten werden konnte) sei
für ihn ein schwerer, nur durch die äußerste Notwendigkeit abgedrnngener
Schritt gewesen. Warum aber brauchte es für einen wohlwollenden Staats¬
mann, was doch ohne Zweifel Herr von Friedberg ist, ein schwerer Schritt
zu sein, einen argen Mißstand, der vielen Menschen zur Qual gereichte, aus
der Welt zu schaffen? Ohne Zweifel wurde er ihm nur deshalb schwer, weil
es bei vielen als ein Grundsatz der Staatsweisheit gilt, eine einmal getroffene
Einrichtung, anch wenn sie sich als von Hans ans verfehlt erweist, doch so
lange wie möglich aufrecht zu halten. Vielleicht ist aber doch ein Staatsmann
noch größer, der den Mut hat, sobald es das öffentliche Wohl erheischt, einen
verfehlten Schritt ohne Säumen zurück zu thun.

Schäden des Staatslebens lassen sich mit Krankheiten vergleichen. Es
giebt Krankheiten, die man ohne Gefahr „dilatorisch" behandeln kann. Es
giebt aber auch solche, die, wenn der Arzt nicht zeitig eingreift, unheilbar und
für den Kranken verderblich werden. Ich fürchte, daß der Zustand unsers
Prozesses eine Krankheit dieser Art sei. Es ist traurig, wenn in einem solchen
Falle der berufene Arzt sich und andre über die Schwere des Leidens hinwegtäuscht.

Übrigens könnte man an der Art und Weise, wie mit dieser Zivilproze߬
ordnung das deutsche Volk in seinen heiligsten Interessen getäuscht worden
ist, auch für andre Fälle etwas lernen. Ob es geschehen wird, steht freilich
dahin.




Vorurteile auf dem Gebiete der sprachen

el dem lebhaften Interesse, das man heute einer Schulreform
entgegenbringt, ist es uicht zu verwundern , daß sich allmählich
eine sehr umfangreiche Litteratur über diesen Gegenstand gebildet
hat, und daß man in ihr den allerverschiedensten, manchmal auch
den allerseltsamsten Ansichten begegnet. Gewisse Schlagwörter
werden, besonders wenn sie von großen Männern herrühren, sehr häufig dabei
als unwiderlegbare Wahrheiten hingestellt, als „Axiome," an denen zu rütteln


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[0137] Vorurteile ans dein Gebiete der Sprachen 10 Der Bericht hat gleichwohl die Zeit noch nicht für gekommen erachtet, an die Zivilprozeßordnung bessernde Hand anzulegen. Zur Erläuterung dient vielleicht ein kleines Bekenntnis, das in dem Berichte selbst sich findet. Der Herr Minister sagt, die Rückgängigmachung der Kassentrcnuung von den Gerichten (deren Mißstände der frühere Bericht als bereits überwunden be¬ zeichnet hatte, die aber dann doch nicht aufrecht erhalten werden konnte) sei für ihn ein schwerer, nur durch die äußerste Notwendigkeit abgedrnngener Schritt gewesen. Warum aber brauchte es für einen wohlwollenden Staats¬ mann, was doch ohne Zweifel Herr von Friedberg ist, ein schwerer Schritt zu sein, einen argen Mißstand, der vielen Menschen zur Qual gereichte, aus der Welt zu schaffen? Ohne Zweifel wurde er ihm nur deshalb schwer, weil es bei vielen als ein Grundsatz der Staatsweisheit gilt, eine einmal getroffene Einrichtung, anch wenn sie sich als von Hans ans verfehlt erweist, doch so lange wie möglich aufrecht zu halten. Vielleicht ist aber doch ein Staatsmann noch größer, der den Mut hat, sobald es das öffentliche Wohl erheischt, einen verfehlten Schritt ohne Säumen zurück zu thun. Schäden des Staatslebens lassen sich mit Krankheiten vergleichen. Es giebt Krankheiten, die man ohne Gefahr „dilatorisch" behandeln kann. Es giebt aber auch solche, die, wenn der Arzt nicht zeitig eingreift, unheilbar und für den Kranken verderblich werden. Ich fürchte, daß der Zustand unsers Prozesses eine Krankheit dieser Art sei. Es ist traurig, wenn in einem solchen Falle der berufene Arzt sich und andre über die Schwere des Leidens hinwegtäuscht. Übrigens könnte man an der Art und Weise, wie mit dieser Zivilproze߬ ordnung das deutsche Volk in seinen heiligsten Interessen getäuscht worden ist, auch für andre Fälle etwas lernen. Ob es geschehen wird, steht freilich dahin. Vorurteile auf dem Gebiete der sprachen el dem lebhaften Interesse, das man heute einer Schulreform entgegenbringt, ist es uicht zu verwundern , daß sich allmählich eine sehr umfangreiche Litteratur über diesen Gegenstand gebildet hat, und daß man in ihr den allerverschiedensten, manchmal auch den allerseltsamsten Ansichten begegnet. Gewisse Schlagwörter werden, besonders wenn sie von großen Männern herrühren, sehr häufig dabei als unwiderlegbare Wahrheiten hingestellt, als „Axiome," an denen zu rütteln Grenzboten IV l»89 17

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/137>, abgerufen am 30.06.2024.