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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Junge Liebe

Riesenwrack, gebeugt und verwittert. Er war seiner Zeit der berüchtigste Rauf¬
bold der Gegend gewesen und konnte noch jetzt trotz seines hohen Alters, seiner
Krücke und seines verbundnen Auges sehr gefährlich sein, wenn ihm der Sinn
darnach stand.

Namentlich dieser Letzte war allmählich Marthas Herzensfreund und
Berater geworden, ihm vertraute sie ihre kleinen Geheimnisse und Sorgen an,
wenn sie sich am Abend auf seinen Schoß setzte und ihn an seinen starren,
grauen Bartstoppeln zauste. Selbst nachdem sie älter und erwachsener geworden
war, bewahrte sie diesem alten Raufbold, der im Grunde ein herzensgutes,
liebevolles Gemüt hatte, ihr kindliches Vertrauen. Sie gestattete ihm ver-
schiedne kleine Freiheiten und ließ sich ohne Scheu von ihm liebkosen und
küssen. Dafür brachte er ihr dann zuweilen in seiner tiefen Hosentasche,
deren bunten Inhalt sie stets aufs genauste untersuchte, irgend ein Stück
farbiges Band, eine Schnur Glasperlen und ähnliche Schätze mit, denn er
wußte, wie gern sie sich mit dergleichen schmückte.

An dem Tage, wo Martha konfirmirt werden sollte, begleitete sie der
ganze Klub in die Kirche. Es erregte natürlich nicht geringes Aussehen, als
der feierliche Auszug mit Lars Einauge an der Spitze und mit vier geborgten
Zylinderhüten nach dem Chor hinanfinarschirte und unter tiefem Schweigen in
einem der Stühle Platz nahmen. Martha selber trug ein schwarzes Kleid von
fast neuem Stoff. Über ihren Schultern lag ein gestricktes, weißwollnes Tuch,
das vor der Brust zusanmiengeknotet und mit einer Stahlnadel befestigt war.
Ins Haar hatte sie -- etwas kokett -- eine rote Rosenknospe gesteckt. Als
die Konfirmanden nach der Predigt zusammentraten, heftete sich unwillkürlich
manches Auge auf sie; nicht nur, weil ihr hübscher, blonder Kopf die Mehrzahl
der kleinen^ untersetzten, pausbäckigen, breitnasigen Patenkinder überragte,
zwischen denen sie ihren Platz hatte; im Gegensatz zu allen andern schaute sie
auch mit offnen, glückstrahlenden Augen frei um sich, und in ihrer ganzen,
fünfzehnjährigen Schönheit lag fast etwas Aristokratisches, das selbst in dem
viel zu langen Kleide einen herausfordernden Eindruck machte.

Mitten im Examen erhob sich eine männliche Gestalt in einem der hintern
Stühle und blieb dort, solange die feierliche Handlung währte, unbeweglich
stehn. Als Martha seiner ansichtig wurde, flog eine Wolke über ihr Antlitz,
und während des übrigen Teils des Gottesdienstes blickte sie nicht wieder
hin. Vermutlich war der Vorgang bemerkt worden, denn mehrere Köpfe
wandten sich nach dein Manne um, und ein paar Burschen stießen sich in
die Seite.

Der Aufgestaudue war ein großer, breitschulteriger, ein wenig dicknackiger
Bursche von einigen zwanzig Jahren, der sich mit ein paar kleinen, mißtranischen,
unruhigen Augen umsah, indem er gleichzeitig seinen großen, plumpen Mund
zum Lächeln verzog. Im Dorfe war er unter dem Namen "die Kruke" be-


Grenzbvten lV 1889 ^
Junge Liebe

Riesenwrack, gebeugt und verwittert. Er war seiner Zeit der berüchtigste Rauf¬
bold der Gegend gewesen und konnte noch jetzt trotz seines hohen Alters, seiner
Krücke und seines verbundnen Auges sehr gefährlich sein, wenn ihm der Sinn
darnach stand.

Namentlich dieser Letzte war allmählich Marthas Herzensfreund und
Berater geworden, ihm vertraute sie ihre kleinen Geheimnisse und Sorgen an,
wenn sie sich am Abend auf seinen Schoß setzte und ihn an seinen starren,
grauen Bartstoppeln zauste. Selbst nachdem sie älter und erwachsener geworden
war, bewahrte sie diesem alten Raufbold, der im Grunde ein herzensgutes,
liebevolles Gemüt hatte, ihr kindliches Vertrauen. Sie gestattete ihm ver-
schiedne kleine Freiheiten und ließ sich ohne Scheu von ihm liebkosen und
küssen. Dafür brachte er ihr dann zuweilen in seiner tiefen Hosentasche,
deren bunten Inhalt sie stets aufs genauste untersuchte, irgend ein Stück
farbiges Band, eine Schnur Glasperlen und ähnliche Schätze mit, denn er
wußte, wie gern sie sich mit dergleichen schmückte.

An dem Tage, wo Martha konfirmirt werden sollte, begleitete sie der
ganze Klub in die Kirche. Es erregte natürlich nicht geringes Aussehen, als
der feierliche Auszug mit Lars Einauge an der Spitze und mit vier geborgten
Zylinderhüten nach dem Chor hinanfinarschirte und unter tiefem Schweigen in
einem der Stühle Platz nahmen. Martha selber trug ein schwarzes Kleid von
fast neuem Stoff. Über ihren Schultern lag ein gestricktes, weißwollnes Tuch,
das vor der Brust zusanmiengeknotet und mit einer Stahlnadel befestigt war.
Ins Haar hatte sie — etwas kokett — eine rote Rosenknospe gesteckt. Als
die Konfirmanden nach der Predigt zusammentraten, heftete sich unwillkürlich
manches Auge auf sie; nicht nur, weil ihr hübscher, blonder Kopf die Mehrzahl
der kleinen^ untersetzten, pausbäckigen, breitnasigen Patenkinder überragte,
zwischen denen sie ihren Platz hatte; im Gegensatz zu allen andern schaute sie
auch mit offnen, glückstrahlenden Augen frei um sich, und in ihrer ganzen,
fünfzehnjährigen Schönheit lag fast etwas Aristokratisches, das selbst in dem
viel zu langen Kleide einen herausfordernden Eindruck machte.

Mitten im Examen erhob sich eine männliche Gestalt in einem der hintern
Stühle und blieb dort, solange die feierliche Handlung währte, unbeweglich
stehn. Als Martha seiner ansichtig wurde, flog eine Wolke über ihr Antlitz,
und während des übrigen Teils des Gottesdienstes blickte sie nicht wieder
hin. Vermutlich war der Vorgang bemerkt worden, denn mehrere Köpfe
wandten sich nach dein Manne um, und ein paar Burschen stießen sich in
die Seite.

Der Aufgestaudue war ein großer, breitschulteriger, ein wenig dicknackiger
Bursche von einigen zwanzig Jahren, der sich mit ein paar kleinen, mißtranischen,
unruhigen Augen umsah, indem er gleichzeitig seinen großen, plumpen Mund
zum Lächeln verzog. Im Dorfe war er unter dem Namen „die Kruke" be-


Grenzbvten lV 1889 ^
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[0105] Junge Liebe Riesenwrack, gebeugt und verwittert. Er war seiner Zeit der berüchtigste Rauf¬ bold der Gegend gewesen und konnte noch jetzt trotz seines hohen Alters, seiner Krücke und seines verbundnen Auges sehr gefährlich sein, wenn ihm der Sinn darnach stand. Namentlich dieser Letzte war allmählich Marthas Herzensfreund und Berater geworden, ihm vertraute sie ihre kleinen Geheimnisse und Sorgen an, wenn sie sich am Abend auf seinen Schoß setzte und ihn an seinen starren, grauen Bartstoppeln zauste. Selbst nachdem sie älter und erwachsener geworden war, bewahrte sie diesem alten Raufbold, der im Grunde ein herzensgutes, liebevolles Gemüt hatte, ihr kindliches Vertrauen. Sie gestattete ihm ver- schiedne kleine Freiheiten und ließ sich ohne Scheu von ihm liebkosen und küssen. Dafür brachte er ihr dann zuweilen in seiner tiefen Hosentasche, deren bunten Inhalt sie stets aufs genauste untersuchte, irgend ein Stück farbiges Band, eine Schnur Glasperlen und ähnliche Schätze mit, denn er wußte, wie gern sie sich mit dergleichen schmückte. An dem Tage, wo Martha konfirmirt werden sollte, begleitete sie der ganze Klub in die Kirche. Es erregte natürlich nicht geringes Aussehen, als der feierliche Auszug mit Lars Einauge an der Spitze und mit vier geborgten Zylinderhüten nach dem Chor hinanfinarschirte und unter tiefem Schweigen in einem der Stühle Platz nahmen. Martha selber trug ein schwarzes Kleid von fast neuem Stoff. Über ihren Schultern lag ein gestricktes, weißwollnes Tuch, das vor der Brust zusanmiengeknotet und mit einer Stahlnadel befestigt war. Ins Haar hatte sie — etwas kokett — eine rote Rosenknospe gesteckt. Als die Konfirmanden nach der Predigt zusammentraten, heftete sich unwillkürlich manches Auge auf sie; nicht nur, weil ihr hübscher, blonder Kopf die Mehrzahl der kleinen^ untersetzten, pausbäckigen, breitnasigen Patenkinder überragte, zwischen denen sie ihren Platz hatte; im Gegensatz zu allen andern schaute sie auch mit offnen, glückstrahlenden Augen frei um sich, und in ihrer ganzen, fünfzehnjährigen Schönheit lag fast etwas Aristokratisches, das selbst in dem viel zu langen Kleide einen herausfordernden Eindruck machte. Mitten im Examen erhob sich eine männliche Gestalt in einem der hintern Stühle und blieb dort, solange die feierliche Handlung währte, unbeweglich stehn. Als Martha seiner ansichtig wurde, flog eine Wolke über ihr Antlitz, und während des übrigen Teils des Gottesdienstes blickte sie nicht wieder hin. Vermutlich war der Vorgang bemerkt worden, denn mehrere Köpfe wandten sich nach dein Manne um, und ein paar Burschen stießen sich in die Seite. Der Aufgestaudue war ein großer, breitschulteriger, ein wenig dicknackiger Bursche von einigen zwanzig Jahren, der sich mit ein paar kleinen, mißtranischen, unruhigen Augen umsah, indem er gleichzeitig seinen großen, plumpen Mund zum Lächeln verzog. Im Dorfe war er unter dem Namen „die Kruke" be- Grenzbvten lV 1889 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/105>, abgerufen am 30.06.2024.