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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Das neue Gymnasium

ästhetische, litterarische, moralische, pädagogische, soziale, politische Probleme
aufzulösen (praktisch wie theoretisch) in der Form mathematisch mechanischer
Probleme." "Die starren Denkformen der Mathematik und Mechanik helfen
hier nicht, es bedarf des beweglichen, dem Individuellen sich anschmiegenden
sympathischen Verständnisses." "Wie die Thätigkeit des Lehrers und des Er¬
ziehers, so beruht auch die Wirksamkeit des Seelsorgers und Arztes, des
Staatsmanns und Richters auf dem Besitz dieses beweglichen, der Mannig¬
faltigkeit der Umstände sich anschmiegenden Denkens."

Von diesem Standpunkt aus schildert nun Paulsen, mit einem Seitenblick
auf deu Rationalismus des vorigen Jahrhunderts und feine Folgen, die Gefahren
einer ausschließlich oder überwiegend mathematisch-physikalischen Bildung. Die
umgekehrte Einseitigkeit einer ausschließlich humanistischen Bildung scheint ihm
minder gefährlich, einmal weil ja die praktischen Aufgaben der gelehrten Be¬
rufe meist auf einem Gebiete liegen, wo "nicht das streng gebundene Denken
der mathematischen Physik, sondern nur der bewegliche Takt zu glücklichen
Losungen führt"; dann aber auch, weil nach Paniscus Ansicht die humanistischen
Übungen leichter die Stelle der andern vertreten können, als umgekehrt.

Hieran knüpft Paulsen in der Bnchansgabe seines Vortrags noch eine
andre Frage: In welchem von beiden Wissenschaftsgebieten kann man leichter
mit einer Erkenntnis zweiter Hand auskommen? Wo läßt sich am ehesten ein
gewisses, immerhin nutzbares Verständnis erzielen durch kurze Mitteilung der
Ergebnisse? Paulsen antwortet: in den Naturwissenschaften. Man mag dem
beistimmen oder nicht: für die Erziehung eines Menschenkindes, sür die An¬
leitung zu ehrlicher, gründlicher Geistesarbeit ist jedes Kompendium gewiß eher
schädlich als heilsam. Überhaupt sähe man gern Paniscus allgemein philo¬
sophischen Erörterungen tiefer in die eigentlichen Erziehungsfragen hineingeleitet.
So oft er diese im Vorbeigehen berührt, trifft er meines Erachtens das Rich¬
tige, mit einer Ausnahme, von der nachher noch zu reden sein wird. In den
humanistischen Fächern, meint Paulsen, dürfte es in der Regel leichter sein,
den Schüler zu einer gewissen Selbständigkeit des Arbeitens zu führen. "Die
ungenauen Wissenschaften stehen uns näher zu Herzen," so sprach einst Jakob
Grimm. Und was an ihnen, rein wissenschaftlich genommen, ein Nachteil sein
mag, das ist pädagogisch ein Vorzug. Gerade weil hier überall für Verschieden¬
heit der Ansichten Raum gelassen wird, sühlt sich der Schüler hier mehr als
anderswo aufgefordert, selber zu sehen und zu urteilen und fremde Urteile zu
Prüfen. So Paulsen.

Hiermit brechen aber die Philosophisch pädagogischen Erörterungen schon
ab; sehr zum Schaden der Sache, wie mich dünkt. Denn je mehr der Begriff
humanistischer Jugendbildung in Allgemeinheiten stecken bleibt, desto zuversicht¬
licher kann man wohl die Frage, ob das Realgymnasium nun eine humanistische
Bildung in dem bezeichneten Sinne zu geben vermöge, bejahen; aber es hat


Das neue Gymnasium

ästhetische, litterarische, moralische, pädagogische, soziale, politische Probleme
aufzulösen (praktisch wie theoretisch) in der Form mathematisch mechanischer
Probleme." „Die starren Denkformen der Mathematik und Mechanik helfen
hier nicht, es bedarf des beweglichen, dem Individuellen sich anschmiegenden
sympathischen Verständnisses." „Wie die Thätigkeit des Lehrers und des Er¬
ziehers, so beruht auch die Wirksamkeit des Seelsorgers und Arztes, des
Staatsmanns und Richters auf dem Besitz dieses beweglichen, der Mannig¬
faltigkeit der Umstände sich anschmiegenden Denkens."

Von diesem Standpunkt aus schildert nun Paulsen, mit einem Seitenblick
auf deu Rationalismus des vorigen Jahrhunderts und feine Folgen, die Gefahren
einer ausschließlich oder überwiegend mathematisch-physikalischen Bildung. Die
umgekehrte Einseitigkeit einer ausschließlich humanistischen Bildung scheint ihm
minder gefährlich, einmal weil ja die praktischen Aufgaben der gelehrten Be¬
rufe meist auf einem Gebiete liegen, wo „nicht das streng gebundene Denken
der mathematischen Physik, sondern nur der bewegliche Takt zu glücklichen
Losungen führt"; dann aber auch, weil nach Paniscus Ansicht die humanistischen
Übungen leichter die Stelle der andern vertreten können, als umgekehrt.

Hieran knüpft Paulsen in der Bnchansgabe seines Vortrags noch eine
andre Frage: In welchem von beiden Wissenschaftsgebieten kann man leichter
mit einer Erkenntnis zweiter Hand auskommen? Wo läßt sich am ehesten ein
gewisses, immerhin nutzbares Verständnis erzielen durch kurze Mitteilung der
Ergebnisse? Paulsen antwortet: in den Naturwissenschaften. Man mag dem
beistimmen oder nicht: für die Erziehung eines Menschenkindes, sür die An¬
leitung zu ehrlicher, gründlicher Geistesarbeit ist jedes Kompendium gewiß eher
schädlich als heilsam. Überhaupt sähe man gern Paniscus allgemein philo¬
sophischen Erörterungen tiefer in die eigentlichen Erziehungsfragen hineingeleitet.
So oft er diese im Vorbeigehen berührt, trifft er meines Erachtens das Rich¬
tige, mit einer Ausnahme, von der nachher noch zu reden sein wird. In den
humanistischen Fächern, meint Paulsen, dürfte es in der Regel leichter sein,
den Schüler zu einer gewissen Selbständigkeit des Arbeitens zu führen. „Die
ungenauen Wissenschaften stehen uns näher zu Herzen," so sprach einst Jakob
Grimm. Und was an ihnen, rein wissenschaftlich genommen, ein Nachteil sein
mag, das ist pädagogisch ein Vorzug. Gerade weil hier überall für Verschieden¬
heit der Ansichten Raum gelassen wird, sühlt sich der Schüler hier mehr als
anderswo aufgefordert, selber zu sehen und zu urteilen und fremde Urteile zu
Prüfen. So Paulsen.

Hiermit brechen aber die Philosophisch pädagogischen Erörterungen schon
ab; sehr zum Schaden der Sache, wie mich dünkt. Denn je mehr der Begriff
humanistischer Jugendbildung in Allgemeinheiten stecken bleibt, desto zuversicht¬
licher kann man wohl die Frage, ob das Realgymnasium nun eine humanistische
Bildung in dem bezeichneten Sinne zu geben vermöge, bejahen; aber es hat


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[0599] Das neue Gymnasium ästhetische, litterarische, moralische, pädagogische, soziale, politische Probleme aufzulösen (praktisch wie theoretisch) in der Form mathematisch mechanischer Probleme." „Die starren Denkformen der Mathematik und Mechanik helfen hier nicht, es bedarf des beweglichen, dem Individuellen sich anschmiegenden sympathischen Verständnisses." „Wie die Thätigkeit des Lehrers und des Er¬ ziehers, so beruht auch die Wirksamkeit des Seelsorgers und Arztes, des Staatsmanns und Richters auf dem Besitz dieses beweglichen, der Mannig¬ faltigkeit der Umstände sich anschmiegenden Denkens." Von diesem Standpunkt aus schildert nun Paulsen, mit einem Seitenblick auf deu Rationalismus des vorigen Jahrhunderts und feine Folgen, die Gefahren einer ausschließlich oder überwiegend mathematisch-physikalischen Bildung. Die umgekehrte Einseitigkeit einer ausschließlich humanistischen Bildung scheint ihm minder gefährlich, einmal weil ja die praktischen Aufgaben der gelehrten Be¬ rufe meist auf einem Gebiete liegen, wo „nicht das streng gebundene Denken der mathematischen Physik, sondern nur der bewegliche Takt zu glücklichen Losungen führt"; dann aber auch, weil nach Paniscus Ansicht die humanistischen Übungen leichter die Stelle der andern vertreten können, als umgekehrt. Hieran knüpft Paulsen in der Bnchansgabe seines Vortrags noch eine andre Frage: In welchem von beiden Wissenschaftsgebieten kann man leichter mit einer Erkenntnis zweiter Hand auskommen? Wo läßt sich am ehesten ein gewisses, immerhin nutzbares Verständnis erzielen durch kurze Mitteilung der Ergebnisse? Paulsen antwortet: in den Naturwissenschaften. Man mag dem beistimmen oder nicht: für die Erziehung eines Menschenkindes, sür die An¬ leitung zu ehrlicher, gründlicher Geistesarbeit ist jedes Kompendium gewiß eher schädlich als heilsam. Überhaupt sähe man gern Paniscus allgemein philo¬ sophischen Erörterungen tiefer in die eigentlichen Erziehungsfragen hineingeleitet. So oft er diese im Vorbeigehen berührt, trifft er meines Erachtens das Rich¬ tige, mit einer Ausnahme, von der nachher noch zu reden sein wird. In den humanistischen Fächern, meint Paulsen, dürfte es in der Regel leichter sein, den Schüler zu einer gewissen Selbständigkeit des Arbeitens zu führen. „Die ungenauen Wissenschaften stehen uns näher zu Herzen," so sprach einst Jakob Grimm. Und was an ihnen, rein wissenschaftlich genommen, ein Nachteil sein mag, das ist pädagogisch ein Vorzug. Gerade weil hier überall für Verschieden¬ heit der Ansichten Raum gelassen wird, sühlt sich der Schüler hier mehr als anderswo aufgefordert, selber zu sehen und zu urteilen und fremde Urteile zu Prüfen. So Paulsen. Hiermit brechen aber die Philosophisch pädagogischen Erörterungen schon ab; sehr zum Schaden der Sache, wie mich dünkt. Denn je mehr der Begriff humanistischer Jugendbildung in Allgemeinheiten stecken bleibt, desto zuversicht¬ licher kann man wohl die Frage, ob das Realgymnasium nun eine humanistische Bildung in dem bezeichneten Sinne zu geben vermöge, bejahen; aber es hat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/599>, abgerufen am 07.02.2025.