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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Das neue Gymnasium

dann auch desto weniger zu sagen. Wäre es nicht ein leichtes, die Frage auch
für die Töchterschule zu bejahen? Und doch wird niemand daraus einen An¬
spruch auf Gleichberechtigung gründen wollen.

Etwas ist immerhin gewonnen. Man darf doch nun nicht mehr fragen:
humanistische oder realistische, geschichtliche oder moderne Bildung? Ideal oder
gemeiner Nutzen? Widerwillig Homer präparirend oder begeistert der Lösung
einer mathematischen Aufgabe nachsinnend? und wie alle die stumpfen, aber
doch weithin schallenden Schlagworte lauteten, sondern: wie führen wir unsre
Jugend am besten, das heißt am leichtesten und zugleich am tiefsten in das
geistig geschichtliche Leben der Menschheit ein? Doch wie gesagt, für diesmal
hat Paulsen sein Hauptthema um einen Ton tiefer gestimmt: kann das Real¬
gymnasium eine humanistische Bildung geben?

Paulsen geht, um den Nachweis der Möglichkeit zu erbringen, eine Reihe
von Unterrichtsgegenstünden dnrch. Zuerst das Deutsche: vortreffliche Bemer-
kungen, namentlich im Anschluß an den bekannten Aufsatz von Münch. Dann
nebenbei, aber mit überraschender Entschiedenheit, die philosophische Pro-
püdeutik. Dann die neueren Sprachen. Dann das Lateinische, das er beinah
als notwendiges Übel anzusehen scheint. Endlich das Griechische, das er zwar
für ein hohes Gut, aber, seltsam genug, nicht für "notwendig" halt. Hier
full sich der Schüler an Übersetzungen genügen lassen. Warum? uicht etwa,
weil Paulsen "die unmittelbare Berührung mit einem dnrch Jahrtausende
reichenden Leben" ^) geringschätzte, aber das Realgymnasium hat zum Be¬
trieb des Griechischen keine Zeit mehr! Das kommt davon, wenn der Politiker
dem Philosophen das Konzept verdirbt. Das Griechische kam bei der Teilung
der Erde zuletzt, nicht dein Werte nach, sondern, ich weiß nicht, ob der zeitlichen
Entfernung wegen, oder weil die griechische Kultur seiner Zeit über Rom zu
uus kam (S. 60). Gleichviel: "Das Realgymnasium hat mit dem, was es
lehrt, soviel zu thun, daß es nicht neue Dinge dazu sich aufladen kann." Hier
hat sich Paulsen die Sache doch etwas leicht gemacht. Vielleicht gestattet
er mir einmal, das, was er selber im Eingange seines Vortrags den Ver¬
fechtern einer vorwiegend mathematisch-naturwissenschaftlichen Jugendbildung
entgegenhält, auf die Forderung eines vorwiegend, wenn anch nicht der Stunden¬
zahl nach, auf die neueren Sprachen gegründeten Bildung anzuwenden. Der
Pädagoge Paulsen würde sich mit dem Politiker Paulsen etwa so auseinander¬
zusetzen haben.

Der Politiker (Seite 55): Der Einfluß der französischen und englischen
Litteratur auf die Entwicklung der deutschen geht tiefer als der der antiken.
Die Wirkuug Shakespeares auf unsre großen Dichter ist doch wohl tiefer und
breiter als die des Homer und des Sophokles. Und so wird auch keines antiken



*) S. 38. Vgl. Deutsches Wvcheublntt 11. S. 63.
Das neue Gymnasium

dann auch desto weniger zu sagen. Wäre es nicht ein leichtes, die Frage auch
für die Töchterschule zu bejahen? Und doch wird niemand daraus einen An¬
spruch auf Gleichberechtigung gründen wollen.

Etwas ist immerhin gewonnen. Man darf doch nun nicht mehr fragen:
humanistische oder realistische, geschichtliche oder moderne Bildung? Ideal oder
gemeiner Nutzen? Widerwillig Homer präparirend oder begeistert der Lösung
einer mathematischen Aufgabe nachsinnend? und wie alle die stumpfen, aber
doch weithin schallenden Schlagworte lauteten, sondern: wie führen wir unsre
Jugend am besten, das heißt am leichtesten und zugleich am tiefsten in das
geistig geschichtliche Leben der Menschheit ein? Doch wie gesagt, für diesmal
hat Paulsen sein Hauptthema um einen Ton tiefer gestimmt: kann das Real¬
gymnasium eine humanistische Bildung geben?

Paulsen geht, um den Nachweis der Möglichkeit zu erbringen, eine Reihe
von Unterrichtsgegenstünden dnrch. Zuerst das Deutsche: vortreffliche Bemer-
kungen, namentlich im Anschluß an den bekannten Aufsatz von Münch. Dann
nebenbei, aber mit überraschender Entschiedenheit, die philosophische Pro-
püdeutik. Dann die neueren Sprachen. Dann das Lateinische, das er beinah
als notwendiges Übel anzusehen scheint. Endlich das Griechische, das er zwar
für ein hohes Gut, aber, seltsam genug, nicht für „notwendig" halt. Hier
full sich der Schüler an Übersetzungen genügen lassen. Warum? uicht etwa,
weil Paulsen „die unmittelbare Berührung mit einem dnrch Jahrtausende
reichenden Leben" ^) geringschätzte, aber das Realgymnasium hat zum Be¬
trieb des Griechischen keine Zeit mehr! Das kommt davon, wenn der Politiker
dem Philosophen das Konzept verdirbt. Das Griechische kam bei der Teilung
der Erde zuletzt, nicht dein Werte nach, sondern, ich weiß nicht, ob der zeitlichen
Entfernung wegen, oder weil die griechische Kultur seiner Zeit über Rom zu
uus kam (S. 60). Gleichviel: „Das Realgymnasium hat mit dem, was es
lehrt, soviel zu thun, daß es nicht neue Dinge dazu sich aufladen kann." Hier
hat sich Paulsen die Sache doch etwas leicht gemacht. Vielleicht gestattet
er mir einmal, das, was er selber im Eingange seines Vortrags den Ver¬
fechtern einer vorwiegend mathematisch-naturwissenschaftlichen Jugendbildung
entgegenhält, auf die Forderung eines vorwiegend, wenn anch nicht der Stunden¬
zahl nach, auf die neueren Sprachen gegründeten Bildung anzuwenden. Der
Pädagoge Paulsen würde sich mit dem Politiker Paulsen etwa so auseinander¬
zusetzen haben.

Der Politiker (Seite 55): Der Einfluß der französischen und englischen
Litteratur auf die Entwicklung der deutschen geht tiefer als der der antiken.
Die Wirkuug Shakespeares auf unsre großen Dichter ist doch wohl tiefer und
breiter als die des Homer und des Sophokles. Und so wird auch keines antiken



*) S. 38. Vgl. Deutsches Wvcheublntt 11. S. 63.
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[0600] Das neue Gymnasium dann auch desto weniger zu sagen. Wäre es nicht ein leichtes, die Frage auch für die Töchterschule zu bejahen? Und doch wird niemand daraus einen An¬ spruch auf Gleichberechtigung gründen wollen. Etwas ist immerhin gewonnen. Man darf doch nun nicht mehr fragen: humanistische oder realistische, geschichtliche oder moderne Bildung? Ideal oder gemeiner Nutzen? Widerwillig Homer präparirend oder begeistert der Lösung einer mathematischen Aufgabe nachsinnend? und wie alle die stumpfen, aber doch weithin schallenden Schlagworte lauteten, sondern: wie führen wir unsre Jugend am besten, das heißt am leichtesten und zugleich am tiefsten in das geistig geschichtliche Leben der Menschheit ein? Doch wie gesagt, für diesmal hat Paulsen sein Hauptthema um einen Ton tiefer gestimmt: kann das Real¬ gymnasium eine humanistische Bildung geben? Paulsen geht, um den Nachweis der Möglichkeit zu erbringen, eine Reihe von Unterrichtsgegenstünden dnrch. Zuerst das Deutsche: vortreffliche Bemer- kungen, namentlich im Anschluß an den bekannten Aufsatz von Münch. Dann nebenbei, aber mit überraschender Entschiedenheit, die philosophische Pro- püdeutik. Dann die neueren Sprachen. Dann das Lateinische, das er beinah als notwendiges Übel anzusehen scheint. Endlich das Griechische, das er zwar für ein hohes Gut, aber, seltsam genug, nicht für „notwendig" halt. Hier full sich der Schüler an Übersetzungen genügen lassen. Warum? uicht etwa, weil Paulsen „die unmittelbare Berührung mit einem dnrch Jahrtausende reichenden Leben" ^) geringschätzte, aber das Realgymnasium hat zum Be¬ trieb des Griechischen keine Zeit mehr! Das kommt davon, wenn der Politiker dem Philosophen das Konzept verdirbt. Das Griechische kam bei der Teilung der Erde zuletzt, nicht dein Werte nach, sondern, ich weiß nicht, ob der zeitlichen Entfernung wegen, oder weil die griechische Kultur seiner Zeit über Rom zu uus kam (S. 60). Gleichviel: „Das Realgymnasium hat mit dem, was es lehrt, soviel zu thun, daß es nicht neue Dinge dazu sich aufladen kann." Hier hat sich Paulsen die Sache doch etwas leicht gemacht. Vielleicht gestattet er mir einmal, das, was er selber im Eingange seines Vortrags den Ver¬ fechtern einer vorwiegend mathematisch-naturwissenschaftlichen Jugendbildung entgegenhält, auf die Forderung eines vorwiegend, wenn anch nicht der Stunden¬ zahl nach, auf die neueren Sprachen gegründeten Bildung anzuwenden. Der Pädagoge Paulsen würde sich mit dem Politiker Paulsen etwa so auseinander¬ zusetzen haben. Der Politiker (Seite 55): Der Einfluß der französischen und englischen Litteratur auf die Entwicklung der deutschen geht tiefer als der der antiken. Die Wirkuug Shakespeares auf unsre großen Dichter ist doch wohl tiefer und breiter als die des Homer und des Sophokles. Und so wird auch keines antiken *) S. 38. Vgl. Deutsches Wvcheublntt 11. S. 63.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/600>, abgerufen am 10.02.2025.