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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Goethes Wettkampf mit den griechischen Dichtern

Dagegen wandte er seine Aufmerksamkeit noch wiederholt den griechi¬
schen Sagenstoffen zu, die einen Kreis tragischer Gegenstände bilden. Im
Jahre 1781, also noch in der frischen Erinnerung an den Genuß, den ihm
die Bearbeitung der Iphigenie bereitet hatte, ergriff ihn eine Sage, die er
dem Hygin entnommen hatte, so mächtig, daß er gleich an die Arbeit ging.
Allein so schnell gedieh das Werk nicht. Erst nach zwei Jahren hatte er den
ersten Alt ganz und den zweiten zum Teil vollendet, und das ist alles, was
vom "Elpenor" vorliegt. Das Bruchstück läßt deutlich erkennen, warum die
Arbeit ins Stocken geriet: der Gegenstand war zu gräßlich, dies trat in der
weitern Entwicklung der Handlung immer deutlicher hervor. In Häufung von
Greueln ist die Fabel der Tcmtalossage verwandt. Eine unglückliche Königin,
deren Gemahl von Meuchelmördern umgebracht, deren einziger Sohn von
Räubern entführt worden ist, erzieht den Sohn ihres Schwagers als ihren
Erben, überhäuft ihn mit aller Liebe und läßt ihn, als er endlich in das
Vaterhaus zurückkehren soll, schwören, daß er nicht ruhen wolle, bis er ihren
Schmerz und ihr Elend an den Anstiftern des Unheils gerächt habe. Die
letzten Szenen lasten schon durchblicken, daß Elpenors Vater selbst der Meuchel¬
mörder und Räuber ist. Da wären denn freilich, wie Goethe scherzend sagt, zu¬
letzt mir zwei Leichen auf der Bühne geblieben. Das war kein Stoff für ihn.

Bald nach seinem Eintritt in Italien, während er sich auf die Umarbei¬
tung seiner "Iphigenie auf Tauris" vorbereitete, auf dem Wege von Cento nach
Bologna, drängte sich ans demselben Sagenkreise ein neuer Stoff seiner Phantasie
auf: Iphigenie in Delphi. "Elektra," so erzählt er in der Italienischen Reise,
"in gewisser Hoffnung, daß Orest das Bild der Taurischen Diana nach Delphi
bringen werde, erscheint in dein Tempel des Apoll und widmet die grausame
Axt, die so viel Unheil in Pelops Hause angerichtet, als schließliches Sühn¬
opfer dem Gotte. Zu ihr tritt, leider, einer der Griechen und erzählt, wie er
Orest und Pylades nach Tauris begleitet, die beiden Freunde zum Tode führen
sehen und sich glücklich gerettet. Die leidenschaftliche Elektra kennt sich selbst
nicht und weiß uicht, ob sie gegen Götter oder Menschen ihre Wut richten
soll. Indessen sind Iphigenie, Orest und Pylades gleichfalls nach Delphi
gekommen. Jphigeniens heilige Ruhe kontrastirt gar merkwürdig mit Elektrens
irdischer Leidenschaft, als die beiden Gestalten wechselseitig unerkannt zusammen¬
treffen. Der entflohene Grieche erblickt Iphigenien, erkennt die Priesterin,
welche die Freunde geopfert, und entdeckt es Elektren. Diese ist im Begriff,
mit demselben Beil, das sie dem Altare wieder entreißt, Iphigenien zu ermorden,
als eine glückliche Wendung dieses letzte schreckliche Übel von den Geschwistern
abwendet. Wenn diese Szene gelingt, so ist nicht leicht etwas Größeres und
Rührenderes auf dem Theater gesehen worden." Und an Frau vou Stein
schreibt er aus Bologna: "Heute früh hatte ich das Glück von Cento herüber¬
fahrend zwischen Schlaf und Wachen den Plan zur Iphigenie auf Delphos


Goethes Wettkampf mit den griechischen Dichtern

Dagegen wandte er seine Aufmerksamkeit noch wiederholt den griechi¬
schen Sagenstoffen zu, die einen Kreis tragischer Gegenstände bilden. Im
Jahre 1781, also noch in der frischen Erinnerung an den Genuß, den ihm
die Bearbeitung der Iphigenie bereitet hatte, ergriff ihn eine Sage, die er
dem Hygin entnommen hatte, so mächtig, daß er gleich an die Arbeit ging.
Allein so schnell gedieh das Werk nicht. Erst nach zwei Jahren hatte er den
ersten Alt ganz und den zweiten zum Teil vollendet, und das ist alles, was
vom „Elpenor" vorliegt. Das Bruchstück läßt deutlich erkennen, warum die
Arbeit ins Stocken geriet: der Gegenstand war zu gräßlich, dies trat in der
weitern Entwicklung der Handlung immer deutlicher hervor. In Häufung von
Greueln ist die Fabel der Tcmtalossage verwandt. Eine unglückliche Königin,
deren Gemahl von Meuchelmördern umgebracht, deren einziger Sohn von
Räubern entführt worden ist, erzieht den Sohn ihres Schwagers als ihren
Erben, überhäuft ihn mit aller Liebe und läßt ihn, als er endlich in das
Vaterhaus zurückkehren soll, schwören, daß er nicht ruhen wolle, bis er ihren
Schmerz und ihr Elend an den Anstiftern des Unheils gerächt habe. Die
letzten Szenen lasten schon durchblicken, daß Elpenors Vater selbst der Meuchel¬
mörder und Räuber ist. Da wären denn freilich, wie Goethe scherzend sagt, zu¬
letzt mir zwei Leichen auf der Bühne geblieben. Das war kein Stoff für ihn.

Bald nach seinem Eintritt in Italien, während er sich auf die Umarbei¬
tung seiner „Iphigenie auf Tauris" vorbereitete, auf dem Wege von Cento nach
Bologna, drängte sich ans demselben Sagenkreise ein neuer Stoff seiner Phantasie
auf: Iphigenie in Delphi. „Elektra," so erzählt er in der Italienischen Reise,
„in gewisser Hoffnung, daß Orest das Bild der Taurischen Diana nach Delphi
bringen werde, erscheint in dein Tempel des Apoll und widmet die grausame
Axt, die so viel Unheil in Pelops Hause angerichtet, als schließliches Sühn¬
opfer dem Gotte. Zu ihr tritt, leider, einer der Griechen und erzählt, wie er
Orest und Pylades nach Tauris begleitet, die beiden Freunde zum Tode führen
sehen und sich glücklich gerettet. Die leidenschaftliche Elektra kennt sich selbst
nicht und weiß uicht, ob sie gegen Götter oder Menschen ihre Wut richten
soll. Indessen sind Iphigenie, Orest und Pylades gleichfalls nach Delphi
gekommen. Jphigeniens heilige Ruhe kontrastirt gar merkwürdig mit Elektrens
irdischer Leidenschaft, als die beiden Gestalten wechselseitig unerkannt zusammen¬
treffen. Der entflohene Grieche erblickt Iphigenien, erkennt die Priesterin,
welche die Freunde geopfert, und entdeckt es Elektren. Diese ist im Begriff,
mit demselben Beil, das sie dem Altare wieder entreißt, Iphigenien zu ermorden,
als eine glückliche Wendung dieses letzte schreckliche Übel von den Geschwistern
abwendet. Wenn diese Szene gelingt, so ist nicht leicht etwas Größeres und
Rührenderes auf dem Theater gesehen worden." Und an Frau vou Stein
schreibt er aus Bologna: „Heute früh hatte ich das Glück von Cento herüber¬
fahrend zwischen Schlaf und Wachen den Plan zur Iphigenie auf Delphos


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[0563] Goethes Wettkampf mit den griechischen Dichtern Dagegen wandte er seine Aufmerksamkeit noch wiederholt den griechi¬ schen Sagenstoffen zu, die einen Kreis tragischer Gegenstände bilden. Im Jahre 1781, also noch in der frischen Erinnerung an den Genuß, den ihm die Bearbeitung der Iphigenie bereitet hatte, ergriff ihn eine Sage, die er dem Hygin entnommen hatte, so mächtig, daß er gleich an die Arbeit ging. Allein so schnell gedieh das Werk nicht. Erst nach zwei Jahren hatte er den ersten Alt ganz und den zweiten zum Teil vollendet, und das ist alles, was vom „Elpenor" vorliegt. Das Bruchstück läßt deutlich erkennen, warum die Arbeit ins Stocken geriet: der Gegenstand war zu gräßlich, dies trat in der weitern Entwicklung der Handlung immer deutlicher hervor. In Häufung von Greueln ist die Fabel der Tcmtalossage verwandt. Eine unglückliche Königin, deren Gemahl von Meuchelmördern umgebracht, deren einziger Sohn von Räubern entführt worden ist, erzieht den Sohn ihres Schwagers als ihren Erben, überhäuft ihn mit aller Liebe und läßt ihn, als er endlich in das Vaterhaus zurückkehren soll, schwören, daß er nicht ruhen wolle, bis er ihren Schmerz und ihr Elend an den Anstiftern des Unheils gerächt habe. Die letzten Szenen lasten schon durchblicken, daß Elpenors Vater selbst der Meuchel¬ mörder und Räuber ist. Da wären denn freilich, wie Goethe scherzend sagt, zu¬ letzt mir zwei Leichen auf der Bühne geblieben. Das war kein Stoff für ihn. Bald nach seinem Eintritt in Italien, während er sich auf die Umarbei¬ tung seiner „Iphigenie auf Tauris" vorbereitete, auf dem Wege von Cento nach Bologna, drängte sich ans demselben Sagenkreise ein neuer Stoff seiner Phantasie auf: Iphigenie in Delphi. „Elektra," so erzählt er in der Italienischen Reise, „in gewisser Hoffnung, daß Orest das Bild der Taurischen Diana nach Delphi bringen werde, erscheint in dein Tempel des Apoll und widmet die grausame Axt, die so viel Unheil in Pelops Hause angerichtet, als schließliches Sühn¬ opfer dem Gotte. Zu ihr tritt, leider, einer der Griechen und erzählt, wie er Orest und Pylades nach Tauris begleitet, die beiden Freunde zum Tode führen sehen und sich glücklich gerettet. Die leidenschaftliche Elektra kennt sich selbst nicht und weiß uicht, ob sie gegen Götter oder Menschen ihre Wut richten soll. Indessen sind Iphigenie, Orest und Pylades gleichfalls nach Delphi gekommen. Jphigeniens heilige Ruhe kontrastirt gar merkwürdig mit Elektrens irdischer Leidenschaft, als die beiden Gestalten wechselseitig unerkannt zusammen¬ treffen. Der entflohene Grieche erblickt Iphigenien, erkennt die Priesterin, welche die Freunde geopfert, und entdeckt es Elektren. Diese ist im Begriff, mit demselben Beil, das sie dem Altare wieder entreißt, Iphigenien zu ermorden, als eine glückliche Wendung dieses letzte schreckliche Übel von den Geschwistern abwendet. Wenn diese Szene gelingt, so ist nicht leicht etwas Größeres und Rührenderes auf dem Theater gesehen worden." Und an Frau vou Stein schreibt er aus Bologna: „Heute früh hatte ich das Glück von Cento herüber¬ fahrend zwischen Schlaf und Wachen den Plan zur Iphigenie auf Delphos

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/563>, abgerufen am 05.02.2025.