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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Das alte Dorf in deutscher Landschaft und sein Lüde

denn die Bache, diese Wildlinge, die sich vermaßen, ungekämmt und ungewaschen
sich im Felde herumzutreiben, sie sind eingefangen und müssen sich bequemen,
glatt und fein säuberlich in künstlichen Gruben ihren Weg streng vorschrifts¬
mäßig geradeaus zu nehme". Wie man die heutige Menschheit gedrillt hat
bis zum Säugling herab, der, sobald er nur zappeln kann, in den Kinder¬
garten gesteckt wird, so kommt die Reihe auch ans Feld. Ebenso wie den
Bächen, ist es ihren Spiel- und Schicksalsgenossen ergangen, den Feldwegen,
die häufig am Räude eines umbuschten, von Weiden beschatteten Wasserlaufs
in gewundenem Lauf durch Feld, Wiese und Wald behaglich dahinschlenderten.
"Hermann und Dorothea," sagt Ernst Rndorff,*) "treffen einander zukünftig
auf dem Koppelweg, das heißt, einem endlos in schnurgerader Richtung das
ebne oder unebne Terrain durchschneidenden Ackerfuhrweg, dem sein Msr sgo,
der Kvppelgrabeu, das moderne substitue für den ehemaligen Wiesenbach,
getreulich zur Seite läuft." Und, fügen wir hinzu, das liebende Paar würde
nicht in der Lage sein, im Schutz einer Hecke oder eines Gebüsches die ersten
Küsse zu täuschen, selbst wenn der Dichter es ihnen erlaubte, denn der Feld¬
messer gestattet es nicht. Wo ist es überhaupt möglich, in der afrikanischen
Ackerwüste von heutzutage, wie sie sich etwa zwischen Harz und Elbe breit
macht, selbst mit bewaffnetem Auge einen Baum oder Strauch in der Land¬
schaft zu entdecken? Die Grenzraine, die vordem die einzelnen Gewanne oder
in manchen Gegenden gar die einzelnen Ackerstücke schieden, sind umgepflügt;
die krausen Büsche auf diesen Rainen, unter denen nach dem. Volksglauben am
Unterrhein die "weißen Weiber" aus dem Gefolge der alten Götter ihre Woh¬
nung hatten, find ausgerodet, die in der alten Flur verstreuten Bäume sind
von der Axt gefallen. Wo findet der Arbeiter um die Mittagsglut ein Gebüsch,
um im Schatten zu rasten? Wo der Sperber, die Weihe und andres Gevögel,
das dem Ungeziefer der Felder nachstellt, einen Baum, um zu horsten? Die
Verkuppelung hat die Landschaft an das schalste Nützlichkeitspriuzip verkuppelt,
und selbst diese Nützlichkeit ist zum Teil von sehr fragwürdiger Natur. So
hat man im Eichsfelde die Beobachtung gemacht, daß jetzt auf alle drei Jahre
ein "Mäusejahr" fällt, ein Jahr, in welchem ein beträchtliches Teil der Ernte
den Mäusen zur Beute wird. Auch hat man bemerkt, daß die Überschwem¬
mungen im Gebiet der Verkoppelungen heftiger auftreten als früher, offenbar
weil die herabfallenden Niederschläge nicht mehr durch das Gewirr von
krummen Wasserläufen festgehalten werden, sondern in den glatten Kanälen
pfeilschnell zusammenfließen. Aber nicht nur das tote Inventar verliert sich
aus der Flur, sondern auch das lebende. Infolge der Geineinheitsteilnngeil
und der Stallfütterung sind die Viehherden, die die Landschaft fo malerisch
belebten, verschwunden von den Kühen bis zu den Gänsen herab, höchstens



*) E. Rndorff, Antrag ans Schutz der landschaftlichen Natur. Berlin, Mittler, 1833.
Das alte Dorf in deutscher Landschaft und sein Lüde

denn die Bache, diese Wildlinge, die sich vermaßen, ungekämmt und ungewaschen
sich im Felde herumzutreiben, sie sind eingefangen und müssen sich bequemen,
glatt und fein säuberlich in künstlichen Gruben ihren Weg streng vorschrifts¬
mäßig geradeaus zu nehme«. Wie man die heutige Menschheit gedrillt hat
bis zum Säugling herab, der, sobald er nur zappeln kann, in den Kinder¬
garten gesteckt wird, so kommt die Reihe auch ans Feld. Ebenso wie den
Bächen, ist es ihren Spiel- und Schicksalsgenossen ergangen, den Feldwegen,
die häufig am Räude eines umbuschten, von Weiden beschatteten Wasserlaufs
in gewundenem Lauf durch Feld, Wiese und Wald behaglich dahinschlenderten.
„Hermann und Dorothea," sagt Ernst Rndorff,*) „treffen einander zukünftig
auf dem Koppelweg, das heißt, einem endlos in schnurgerader Richtung das
ebne oder unebne Terrain durchschneidenden Ackerfuhrweg, dem sein Msr sgo,
der Kvppelgrabeu, das moderne substitue für den ehemaligen Wiesenbach,
getreulich zur Seite läuft." Und, fügen wir hinzu, das liebende Paar würde
nicht in der Lage sein, im Schutz einer Hecke oder eines Gebüsches die ersten
Küsse zu täuschen, selbst wenn der Dichter es ihnen erlaubte, denn der Feld¬
messer gestattet es nicht. Wo ist es überhaupt möglich, in der afrikanischen
Ackerwüste von heutzutage, wie sie sich etwa zwischen Harz und Elbe breit
macht, selbst mit bewaffnetem Auge einen Baum oder Strauch in der Land¬
schaft zu entdecken? Die Grenzraine, die vordem die einzelnen Gewanne oder
in manchen Gegenden gar die einzelnen Ackerstücke schieden, sind umgepflügt;
die krausen Büsche auf diesen Rainen, unter denen nach dem. Volksglauben am
Unterrhein die „weißen Weiber" aus dem Gefolge der alten Götter ihre Woh¬
nung hatten, find ausgerodet, die in der alten Flur verstreuten Bäume sind
von der Axt gefallen. Wo findet der Arbeiter um die Mittagsglut ein Gebüsch,
um im Schatten zu rasten? Wo der Sperber, die Weihe und andres Gevögel,
das dem Ungeziefer der Felder nachstellt, einen Baum, um zu horsten? Die
Verkuppelung hat die Landschaft an das schalste Nützlichkeitspriuzip verkuppelt,
und selbst diese Nützlichkeit ist zum Teil von sehr fragwürdiger Natur. So
hat man im Eichsfelde die Beobachtung gemacht, daß jetzt auf alle drei Jahre
ein „Mäusejahr" fällt, ein Jahr, in welchem ein beträchtliches Teil der Ernte
den Mäusen zur Beute wird. Auch hat man bemerkt, daß die Überschwem¬
mungen im Gebiet der Verkoppelungen heftiger auftreten als früher, offenbar
weil die herabfallenden Niederschläge nicht mehr durch das Gewirr von
krummen Wasserläufen festgehalten werden, sondern in den glatten Kanälen
pfeilschnell zusammenfließen. Aber nicht nur das tote Inventar verliert sich
aus der Flur, sondern auch das lebende. Infolge der Geineinheitsteilnngeil
und der Stallfütterung sind die Viehherden, die die Landschaft fo malerisch
belebten, verschwunden von den Kühen bis zu den Gänsen herab, höchstens



*) E. Rndorff, Antrag ans Schutz der landschaftlichen Natur. Berlin, Mittler, 1833.
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[0458] Das alte Dorf in deutscher Landschaft und sein Lüde denn die Bache, diese Wildlinge, die sich vermaßen, ungekämmt und ungewaschen sich im Felde herumzutreiben, sie sind eingefangen und müssen sich bequemen, glatt und fein säuberlich in künstlichen Gruben ihren Weg streng vorschrifts¬ mäßig geradeaus zu nehme«. Wie man die heutige Menschheit gedrillt hat bis zum Säugling herab, der, sobald er nur zappeln kann, in den Kinder¬ garten gesteckt wird, so kommt die Reihe auch ans Feld. Ebenso wie den Bächen, ist es ihren Spiel- und Schicksalsgenossen ergangen, den Feldwegen, die häufig am Räude eines umbuschten, von Weiden beschatteten Wasserlaufs in gewundenem Lauf durch Feld, Wiese und Wald behaglich dahinschlenderten. „Hermann und Dorothea," sagt Ernst Rndorff,*) „treffen einander zukünftig auf dem Koppelweg, das heißt, einem endlos in schnurgerader Richtung das ebne oder unebne Terrain durchschneidenden Ackerfuhrweg, dem sein Msr sgo, der Kvppelgrabeu, das moderne substitue für den ehemaligen Wiesenbach, getreulich zur Seite läuft." Und, fügen wir hinzu, das liebende Paar würde nicht in der Lage sein, im Schutz einer Hecke oder eines Gebüsches die ersten Küsse zu täuschen, selbst wenn der Dichter es ihnen erlaubte, denn der Feld¬ messer gestattet es nicht. Wo ist es überhaupt möglich, in der afrikanischen Ackerwüste von heutzutage, wie sie sich etwa zwischen Harz und Elbe breit macht, selbst mit bewaffnetem Auge einen Baum oder Strauch in der Land¬ schaft zu entdecken? Die Grenzraine, die vordem die einzelnen Gewanne oder in manchen Gegenden gar die einzelnen Ackerstücke schieden, sind umgepflügt; die krausen Büsche auf diesen Rainen, unter denen nach dem. Volksglauben am Unterrhein die „weißen Weiber" aus dem Gefolge der alten Götter ihre Woh¬ nung hatten, find ausgerodet, die in der alten Flur verstreuten Bäume sind von der Axt gefallen. Wo findet der Arbeiter um die Mittagsglut ein Gebüsch, um im Schatten zu rasten? Wo der Sperber, die Weihe und andres Gevögel, das dem Ungeziefer der Felder nachstellt, einen Baum, um zu horsten? Die Verkuppelung hat die Landschaft an das schalste Nützlichkeitspriuzip verkuppelt, und selbst diese Nützlichkeit ist zum Teil von sehr fragwürdiger Natur. So hat man im Eichsfelde die Beobachtung gemacht, daß jetzt auf alle drei Jahre ein „Mäusejahr" fällt, ein Jahr, in welchem ein beträchtliches Teil der Ernte den Mäusen zur Beute wird. Auch hat man bemerkt, daß die Überschwem¬ mungen im Gebiet der Verkoppelungen heftiger auftreten als früher, offenbar weil die herabfallenden Niederschläge nicht mehr durch das Gewirr von krummen Wasserläufen festgehalten werden, sondern in den glatten Kanälen pfeilschnell zusammenfließen. Aber nicht nur das tote Inventar verliert sich aus der Flur, sondern auch das lebende. Infolge der Geineinheitsteilnngeil und der Stallfütterung sind die Viehherden, die die Landschaft fo malerisch belebten, verschwunden von den Kühen bis zu den Gänsen herab, höchstens *) E. Rndorff, Antrag ans Schutz der landschaftlichen Natur. Berlin, Mittler, 1833.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/458>, abgerufen am 05.02.2025.