Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das alte Dorf in deutscher Landschaft und sein Ende

im ganzen und großen wenig verändert: nur die Hecken und Zäune, die in
früherer Zeit, wie bei allen Germanen, die großen Abteilungen der Feldmark,
die Zeigen, schieden, sind verschwunden, das Brachfeld, das vordem öde lag,
ist mit Futter- und Wurzelgewächsen bestellt, "besömmert," und eine geordnete
Forstwirtschaft hat den fröhlichen Laubwald immer mehr durch den finstern
Tann ersetzt. Auch das Dorf ist sich in seinem Anblick seit dein Ende des
Mittelalters ziemlich gleich geblieben, abgesehen von der Verdrängung des
Strohdaches, die schon in der Mitte unsers Jahrhunderts in dein größten
Teile Deutschlands zum Abschluß gekommen sein wird. Bis auf die neueste
Zeit ist diese ganze Entwicklung eine ruhige, langsame und naturgemäße
gewesen, die den Boden ihres Ursprunges nie unter dem Fuße verlor und in
den seltensten Fällen einen vollständigen und entschlossenen Bruch mit der
Überlieferung der Bäter erkennen läßt. Man hat allerdings behaupten wollen,
daß beispielsweise der mitteldeutsche Hofbau mit seiner Mehrzahl von Gebäuden
in weiten Strichen, wo nicht gar überall, an die Stelle älterer Einbänden
etwa nach Art der sächsischen getreten sei, aber man ist den Beweis bisher
schuldig geblieben. Aber seit dem Anfange unsers Jahrhunderts ist das voll¬
ständig anders geworden, es hat sich in weiten Strichen in verhältnismäßig
kurzer Zeit mit der alten Landschaft und dem alten Dorfe eine Umwälzung
teils vollzogen, teils angebahnt, wie sie umfassender, einschneidender und ge¬
waltsamer auf friedlichem Wege kaum gedacht werden kann. Veränderungen,
zu denen es früher Jahrhunderte brauchte, vollziehen sich in Jahrzehnte", der
Faden der Entwicklung, den die Hand der Zeit gemächlich abrollen ließ, wird
ungeduldig zerrissen, und es truü sich ereignen, daß die Wissenschaft in dein
Augenblick, wo sie von der im Werke begriffenen Umgestaltung einer alten
Banart ztmnde erhielt, schon nicht mehr in der Lage ist, sie zu untersuchen,
dn die alten Bauten mit reißender Schnelligkeit verschwunden sind. Diese
Umgestaltungen betreffen die Landschaft wie das Dorf. Die Ursachen sind für
beide verschieden, und für das Dorf insbesondre sind ihrer mehrere, wenn sie
auch sämtlich ans eine Wurzel zurückzuführen sind, auf die plötzlichen und
riesenhaften Fortschritte in dem wirtschaftlichem und mechanischen Erkennen
und Vermögen, den ungeahnten Aufschwung der Naturwissenschaften, der das
Auge dermaßen blendete, daß es auf eine Zeit laug den Maßstab für den
Wert der andern Güter verlor. Daneben die individualistische oder soll man
sagen ntvmistische Zeitströmung, jene Richtung, die jedes aus der Vorzeit über¬
kommene Band, jede Gebundenheit an sich, ja jede Überlieferung, die den
Menschen an die Vergangenheit bindet, als lästigen Ballast und schädlichen
Schlendrian verdammt, um den einzelnen desto hilf- und haltloser dem ehernen
Gesetze ihrer Weltordnung auszuliefern. Beides vereinigte sich in einem Bette
zu einer gewaltigen Flutwoge, die alles bedrohte, was uicht vor ihrer
Majestät mit dem Meterstab Gewehr Präsentiren konnte und keine Schranke:'.


Das alte Dorf in deutscher Landschaft und sein Ende

im ganzen und großen wenig verändert: nur die Hecken und Zäune, die in
früherer Zeit, wie bei allen Germanen, die großen Abteilungen der Feldmark,
die Zeigen, schieden, sind verschwunden, das Brachfeld, das vordem öde lag,
ist mit Futter- und Wurzelgewächsen bestellt, „besömmert," und eine geordnete
Forstwirtschaft hat den fröhlichen Laubwald immer mehr durch den finstern
Tann ersetzt. Auch das Dorf ist sich in seinem Anblick seit dein Ende des
Mittelalters ziemlich gleich geblieben, abgesehen von der Verdrängung des
Strohdaches, die schon in der Mitte unsers Jahrhunderts in dein größten
Teile Deutschlands zum Abschluß gekommen sein wird. Bis auf die neueste
Zeit ist diese ganze Entwicklung eine ruhige, langsame und naturgemäße
gewesen, die den Boden ihres Ursprunges nie unter dem Fuße verlor und in
den seltensten Fällen einen vollständigen und entschlossenen Bruch mit der
Überlieferung der Bäter erkennen läßt. Man hat allerdings behaupten wollen,
daß beispielsweise der mitteldeutsche Hofbau mit seiner Mehrzahl von Gebäuden
in weiten Strichen, wo nicht gar überall, an die Stelle älterer Einbänden
etwa nach Art der sächsischen getreten sei, aber man ist den Beweis bisher
schuldig geblieben. Aber seit dem Anfange unsers Jahrhunderts ist das voll¬
ständig anders geworden, es hat sich in weiten Strichen in verhältnismäßig
kurzer Zeit mit der alten Landschaft und dem alten Dorfe eine Umwälzung
teils vollzogen, teils angebahnt, wie sie umfassender, einschneidender und ge¬
waltsamer auf friedlichem Wege kaum gedacht werden kann. Veränderungen,
zu denen es früher Jahrhunderte brauchte, vollziehen sich in Jahrzehnte», der
Faden der Entwicklung, den die Hand der Zeit gemächlich abrollen ließ, wird
ungeduldig zerrissen, und es truü sich ereignen, daß die Wissenschaft in dein
Augenblick, wo sie von der im Werke begriffenen Umgestaltung einer alten
Banart ztmnde erhielt, schon nicht mehr in der Lage ist, sie zu untersuchen,
dn die alten Bauten mit reißender Schnelligkeit verschwunden sind. Diese
Umgestaltungen betreffen die Landschaft wie das Dorf. Die Ursachen sind für
beide verschieden, und für das Dorf insbesondre sind ihrer mehrere, wenn sie
auch sämtlich ans eine Wurzel zurückzuführen sind, auf die plötzlichen und
riesenhaften Fortschritte in dem wirtschaftlichem und mechanischen Erkennen
und Vermögen, den ungeahnten Aufschwung der Naturwissenschaften, der das
Auge dermaßen blendete, daß es auf eine Zeit laug den Maßstab für den
Wert der andern Güter verlor. Daneben die individualistische oder soll man
sagen ntvmistische Zeitströmung, jene Richtung, die jedes aus der Vorzeit über¬
kommene Band, jede Gebundenheit an sich, ja jede Überlieferung, die den
Menschen an die Vergangenheit bindet, als lästigen Ballast und schädlichen
Schlendrian verdammt, um den einzelnen desto hilf- und haltloser dem ehernen
Gesetze ihrer Weltordnung auszuliefern. Beides vereinigte sich in einem Bette
zu einer gewaltigen Flutwoge, die alles bedrohte, was uicht vor ihrer
Majestät mit dem Meterstab Gewehr Präsentiren konnte und keine Schranke:'.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0456" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/205187"/>
          <fw type="header" place="top"> Das alte Dorf in deutscher Landschaft und sein Ende</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1277" prev="#ID_1276" next="#ID_1278"> im ganzen und großen wenig verändert: nur die Hecken und Zäune, die in<lb/>
früherer Zeit, wie bei allen Germanen, die großen Abteilungen der Feldmark,<lb/>
die Zeigen, schieden, sind verschwunden, das Brachfeld, das vordem öde lag,<lb/>
ist mit Futter- und Wurzelgewächsen bestellt, &#x201E;besömmert," und eine geordnete<lb/>
Forstwirtschaft hat den fröhlichen Laubwald immer mehr durch den finstern<lb/>
Tann ersetzt. Auch das Dorf ist sich in seinem Anblick seit dein Ende des<lb/>
Mittelalters ziemlich gleich geblieben, abgesehen von der Verdrängung des<lb/>
Strohdaches, die schon in der Mitte unsers Jahrhunderts in dein größten<lb/>
Teile Deutschlands zum Abschluß gekommen sein wird. Bis auf die neueste<lb/>
Zeit ist diese ganze Entwicklung eine ruhige, langsame und naturgemäße<lb/>
gewesen, die den Boden ihres Ursprunges nie unter dem Fuße verlor und in<lb/>
den seltensten Fällen einen vollständigen und entschlossenen Bruch mit der<lb/>
Überlieferung der Bäter erkennen läßt. Man hat allerdings behaupten wollen,<lb/>
daß beispielsweise der mitteldeutsche Hofbau mit seiner Mehrzahl von Gebäuden<lb/>
in weiten Strichen, wo nicht gar überall, an die Stelle älterer Einbänden<lb/>
etwa nach Art der sächsischen getreten sei, aber man ist den Beweis bisher<lb/>
schuldig geblieben. Aber seit dem Anfange unsers Jahrhunderts ist das voll¬<lb/>
ständig anders geworden, es hat sich in weiten Strichen in verhältnismäßig<lb/>
kurzer Zeit mit der alten Landschaft und dem alten Dorfe eine Umwälzung<lb/>
teils vollzogen, teils angebahnt, wie sie umfassender, einschneidender und ge¬<lb/>
waltsamer auf friedlichem Wege kaum gedacht werden kann. Veränderungen,<lb/>
zu denen es früher Jahrhunderte brauchte, vollziehen sich in Jahrzehnte», der<lb/>
Faden der Entwicklung, den die Hand der Zeit gemächlich abrollen ließ, wird<lb/>
ungeduldig zerrissen, und es truü sich ereignen, daß die Wissenschaft in dein<lb/>
Augenblick, wo sie von der im Werke begriffenen Umgestaltung einer alten<lb/>
Banart ztmnde erhielt, schon nicht mehr in der Lage ist, sie zu untersuchen,<lb/>
dn die alten Bauten mit reißender Schnelligkeit verschwunden sind. Diese<lb/>
Umgestaltungen betreffen die Landschaft wie das Dorf. Die Ursachen sind für<lb/>
beide verschieden, und für das Dorf insbesondre sind ihrer mehrere, wenn sie<lb/>
auch sämtlich ans eine Wurzel zurückzuführen sind, auf die plötzlichen und<lb/>
riesenhaften Fortschritte in dem wirtschaftlichem und mechanischen Erkennen<lb/>
und Vermögen, den ungeahnten Aufschwung der Naturwissenschaften, der das<lb/>
Auge dermaßen blendete, daß es auf eine Zeit laug den Maßstab für den<lb/>
Wert der andern Güter verlor. Daneben die individualistische oder soll man<lb/>
sagen ntvmistische Zeitströmung, jene Richtung, die jedes aus der Vorzeit über¬<lb/>
kommene Band, jede Gebundenheit an sich, ja jede Überlieferung, die den<lb/>
Menschen an die Vergangenheit bindet, als lästigen Ballast und schädlichen<lb/>
Schlendrian verdammt, um den einzelnen desto hilf- und haltloser dem ehernen<lb/>
Gesetze ihrer Weltordnung auszuliefern. Beides vereinigte sich in einem Bette<lb/>
zu einer gewaltigen Flutwoge, die alles bedrohte, was uicht vor ihrer<lb/>
Majestät mit dem Meterstab Gewehr Präsentiren konnte und keine Schranke:'.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0456] Das alte Dorf in deutscher Landschaft und sein Ende im ganzen und großen wenig verändert: nur die Hecken und Zäune, die in früherer Zeit, wie bei allen Germanen, die großen Abteilungen der Feldmark, die Zeigen, schieden, sind verschwunden, das Brachfeld, das vordem öde lag, ist mit Futter- und Wurzelgewächsen bestellt, „besömmert," und eine geordnete Forstwirtschaft hat den fröhlichen Laubwald immer mehr durch den finstern Tann ersetzt. Auch das Dorf ist sich in seinem Anblick seit dein Ende des Mittelalters ziemlich gleich geblieben, abgesehen von der Verdrängung des Strohdaches, die schon in der Mitte unsers Jahrhunderts in dein größten Teile Deutschlands zum Abschluß gekommen sein wird. Bis auf die neueste Zeit ist diese ganze Entwicklung eine ruhige, langsame und naturgemäße gewesen, die den Boden ihres Ursprunges nie unter dem Fuße verlor und in den seltensten Fällen einen vollständigen und entschlossenen Bruch mit der Überlieferung der Bäter erkennen läßt. Man hat allerdings behaupten wollen, daß beispielsweise der mitteldeutsche Hofbau mit seiner Mehrzahl von Gebäuden in weiten Strichen, wo nicht gar überall, an die Stelle älterer Einbänden etwa nach Art der sächsischen getreten sei, aber man ist den Beweis bisher schuldig geblieben. Aber seit dem Anfange unsers Jahrhunderts ist das voll¬ ständig anders geworden, es hat sich in weiten Strichen in verhältnismäßig kurzer Zeit mit der alten Landschaft und dem alten Dorfe eine Umwälzung teils vollzogen, teils angebahnt, wie sie umfassender, einschneidender und ge¬ waltsamer auf friedlichem Wege kaum gedacht werden kann. Veränderungen, zu denen es früher Jahrhunderte brauchte, vollziehen sich in Jahrzehnte», der Faden der Entwicklung, den die Hand der Zeit gemächlich abrollen ließ, wird ungeduldig zerrissen, und es truü sich ereignen, daß die Wissenschaft in dein Augenblick, wo sie von der im Werke begriffenen Umgestaltung einer alten Banart ztmnde erhielt, schon nicht mehr in der Lage ist, sie zu untersuchen, dn die alten Bauten mit reißender Schnelligkeit verschwunden sind. Diese Umgestaltungen betreffen die Landschaft wie das Dorf. Die Ursachen sind für beide verschieden, und für das Dorf insbesondre sind ihrer mehrere, wenn sie auch sämtlich ans eine Wurzel zurückzuführen sind, auf die plötzlichen und riesenhaften Fortschritte in dem wirtschaftlichem und mechanischen Erkennen und Vermögen, den ungeahnten Aufschwung der Naturwissenschaften, der das Auge dermaßen blendete, daß es auf eine Zeit laug den Maßstab für den Wert der andern Güter verlor. Daneben die individualistische oder soll man sagen ntvmistische Zeitströmung, jene Richtung, die jedes aus der Vorzeit über¬ kommene Band, jede Gebundenheit an sich, ja jede Überlieferung, die den Menschen an die Vergangenheit bindet, als lästigen Ballast und schädlichen Schlendrian verdammt, um den einzelnen desto hilf- und haltloser dem ehernen Gesetze ihrer Weltordnung auszuliefern. Beides vereinigte sich in einem Bette zu einer gewaltigen Flutwoge, die alles bedrohte, was uicht vor ihrer Majestät mit dem Meterstab Gewehr Präsentiren konnte und keine Schranke:'.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/456
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/456>, abgerufen am 05.02.2025.