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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Line Mobilmachung des deutschen Reiches vor 200 Jahren

Zügen selbst den Angehörigen des Heeres bekannt ist, so hat doch sowohl das
Heer selbst wie das gesamte deutsche Volk das Zutrauen zu der obersten Lei¬
tung des Heeres, das der Mobilmachungsplan die Prüfung eines Ernstfalles
glänzend bestehen werde, ist er doch bis in die kleinsten Einzelheiten hinein
ausgearbeitet. Für jeden Truppenkörper bis zur Kompagnie, Schwadron oder
Batterie herab sind die Bestimmungen für den Kriegsfall festgesetzt; ein Zaudern,
eine Unsicherheit giebt es nicht; jedem ist sein Posten zugewiesen; jeder weiß,
was er zu thun, an welchen Ort er sich zu begeben hat. Bedroht ein Feind
das deutsche Reich, so fliegt mit Blitzesschnelle die telegraphische Mobil-
machnngsordre nach allen Garnisonen, und nach wenigen Tagen steht das
deutsche Heer schlagfertig an der Grenze, das Vaterland, den heimischen Herd
zu schützen, des Vaterlandes Ehre und Ansehen aufrecht zu erhalten.

So ist es heute. Welch andres Bild zeigt sich uns, wenn wir zwei
Jahrhunderte zurückblicken! Auch damals galt es, die deutsche Grenze zu
schützen gegen den Erbfeind jenseits des Rheins. Es galt, den stolzen König
Ludwig XIV. von Frankreich, der durch seine berüchtigten Rennionskammern
schon so viel deutsches Gebiet, u. a. Straßburg mit dem Elsaß, an sich gebracht
hatte, vom. weitern Vordringen in Deutschland abzuhalten und die Mord¬
brennerbanden, die Ludwigs Minister Louvois gegen das deutsche Land los¬
gelassen hatte, aus deu rheinischen Gebieten wieder zu vertreiben. Wie ein
Mann würde sich heute das deutsche Volk erheben; damals währte es fast ein
Jahr, ehe sich das heilige römische Reich deutscher Nation aufraffte, um dein
kecken Eroberer entgegenzutreten. Daß Ludwig XIV. es wagen konnte, unge¬
straft sich deutsches Gebiet anzueignen, ungestraft die schöne Pfalz, das blühende
Schwaben zu verwüsten, daran trug nicht zum kleinsten Teil der Umstand die
Schuld, daß das deutsche Reich als solches über keine Militärmacht zu ver¬
fügen hatte.

Der westfälische Frieden 1648 hatte die deutschen Fürsten fast vollkommen
selbständig gemacht, den leichten Bau des Reiches noch mehr gelockert und die
unmittelbare Einwirkung des deutschen Kaisers auf das Volk auf das geringste
Maß eingeschränkt. Das Bewußtsein war dein deutschen Volke vollständig
abhanden gekommen, daß es selbst mit Gut und Blut einzustehen habe für
die Erhaltung des Reiches; daß es selbst zu den Waffen zu greifen habe,
wenn der Kaiser zum Reichskriege aufforderte. Das Kriegswesen war zum
Handwerk herabgesunken, das bezahlte Söldner besorgten. Der Bauer wollte
seineu Hof, seinen Pflug nicht mehr verlassen, die Städter nicht die sichern
Mauern und Wälle, um sich mit der Waffe um die kaiserliche Fahne zu
Scharen. Die Fürsten und die reichsunmittelbaren Edelleute erkannten kaum
noch dem Kaiser die Berechtigung zu, sie zum Kriege aufzurufen, und die
lcmdsässigen Adlichen und Ritter folgten Wohl der Fahne ihres Landesherrn,
aber nicht mehr dem kaiserlichen Banner. Die Rcichskriegsverfassung war


Line Mobilmachung des deutschen Reiches vor 200 Jahren

Zügen selbst den Angehörigen des Heeres bekannt ist, so hat doch sowohl das
Heer selbst wie das gesamte deutsche Volk das Zutrauen zu der obersten Lei¬
tung des Heeres, das der Mobilmachungsplan die Prüfung eines Ernstfalles
glänzend bestehen werde, ist er doch bis in die kleinsten Einzelheiten hinein
ausgearbeitet. Für jeden Truppenkörper bis zur Kompagnie, Schwadron oder
Batterie herab sind die Bestimmungen für den Kriegsfall festgesetzt; ein Zaudern,
eine Unsicherheit giebt es nicht; jedem ist sein Posten zugewiesen; jeder weiß,
was er zu thun, an welchen Ort er sich zu begeben hat. Bedroht ein Feind
das deutsche Reich, so fliegt mit Blitzesschnelle die telegraphische Mobil-
machnngsordre nach allen Garnisonen, und nach wenigen Tagen steht das
deutsche Heer schlagfertig an der Grenze, das Vaterland, den heimischen Herd
zu schützen, des Vaterlandes Ehre und Ansehen aufrecht zu erhalten.

So ist es heute. Welch andres Bild zeigt sich uns, wenn wir zwei
Jahrhunderte zurückblicken! Auch damals galt es, die deutsche Grenze zu
schützen gegen den Erbfeind jenseits des Rheins. Es galt, den stolzen König
Ludwig XIV. von Frankreich, der durch seine berüchtigten Rennionskammern
schon so viel deutsches Gebiet, u. a. Straßburg mit dem Elsaß, an sich gebracht
hatte, vom. weitern Vordringen in Deutschland abzuhalten und die Mord¬
brennerbanden, die Ludwigs Minister Louvois gegen das deutsche Land los¬
gelassen hatte, aus deu rheinischen Gebieten wieder zu vertreiben. Wie ein
Mann würde sich heute das deutsche Volk erheben; damals währte es fast ein
Jahr, ehe sich das heilige römische Reich deutscher Nation aufraffte, um dein
kecken Eroberer entgegenzutreten. Daß Ludwig XIV. es wagen konnte, unge¬
straft sich deutsches Gebiet anzueignen, ungestraft die schöne Pfalz, das blühende
Schwaben zu verwüsten, daran trug nicht zum kleinsten Teil der Umstand die
Schuld, daß das deutsche Reich als solches über keine Militärmacht zu ver¬
fügen hatte.

Der westfälische Frieden 1648 hatte die deutschen Fürsten fast vollkommen
selbständig gemacht, den leichten Bau des Reiches noch mehr gelockert und die
unmittelbare Einwirkung des deutschen Kaisers auf das Volk auf das geringste
Maß eingeschränkt. Das Bewußtsein war dein deutschen Volke vollständig
abhanden gekommen, daß es selbst mit Gut und Blut einzustehen habe für
die Erhaltung des Reiches; daß es selbst zu den Waffen zu greifen habe,
wenn der Kaiser zum Reichskriege aufforderte. Das Kriegswesen war zum
Handwerk herabgesunken, das bezahlte Söldner besorgten. Der Bauer wollte
seineu Hof, seinen Pflug nicht mehr verlassen, die Städter nicht die sichern
Mauern und Wälle, um sich mit der Waffe um die kaiserliche Fahne zu
Scharen. Die Fürsten und die reichsunmittelbaren Edelleute erkannten kaum
noch dem Kaiser die Berechtigung zu, sie zum Kriege aufzurufen, und die
lcmdsässigen Adlichen und Ritter folgten Wohl der Fahne ihres Landesherrn,
aber nicht mehr dem kaiserlichen Banner. Die Rcichskriegsverfassung war


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[0419] Line Mobilmachung des deutschen Reiches vor 200 Jahren Zügen selbst den Angehörigen des Heeres bekannt ist, so hat doch sowohl das Heer selbst wie das gesamte deutsche Volk das Zutrauen zu der obersten Lei¬ tung des Heeres, das der Mobilmachungsplan die Prüfung eines Ernstfalles glänzend bestehen werde, ist er doch bis in die kleinsten Einzelheiten hinein ausgearbeitet. Für jeden Truppenkörper bis zur Kompagnie, Schwadron oder Batterie herab sind die Bestimmungen für den Kriegsfall festgesetzt; ein Zaudern, eine Unsicherheit giebt es nicht; jedem ist sein Posten zugewiesen; jeder weiß, was er zu thun, an welchen Ort er sich zu begeben hat. Bedroht ein Feind das deutsche Reich, so fliegt mit Blitzesschnelle die telegraphische Mobil- machnngsordre nach allen Garnisonen, und nach wenigen Tagen steht das deutsche Heer schlagfertig an der Grenze, das Vaterland, den heimischen Herd zu schützen, des Vaterlandes Ehre und Ansehen aufrecht zu erhalten. So ist es heute. Welch andres Bild zeigt sich uns, wenn wir zwei Jahrhunderte zurückblicken! Auch damals galt es, die deutsche Grenze zu schützen gegen den Erbfeind jenseits des Rheins. Es galt, den stolzen König Ludwig XIV. von Frankreich, der durch seine berüchtigten Rennionskammern schon so viel deutsches Gebiet, u. a. Straßburg mit dem Elsaß, an sich gebracht hatte, vom. weitern Vordringen in Deutschland abzuhalten und die Mord¬ brennerbanden, die Ludwigs Minister Louvois gegen das deutsche Land los¬ gelassen hatte, aus deu rheinischen Gebieten wieder zu vertreiben. Wie ein Mann würde sich heute das deutsche Volk erheben; damals währte es fast ein Jahr, ehe sich das heilige römische Reich deutscher Nation aufraffte, um dein kecken Eroberer entgegenzutreten. Daß Ludwig XIV. es wagen konnte, unge¬ straft sich deutsches Gebiet anzueignen, ungestraft die schöne Pfalz, das blühende Schwaben zu verwüsten, daran trug nicht zum kleinsten Teil der Umstand die Schuld, daß das deutsche Reich als solches über keine Militärmacht zu ver¬ fügen hatte. Der westfälische Frieden 1648 hatte die deutschen Fürsten fast vollkommen selbständig gemacht, den leichten Bau des Reiches noch mehr gelockert und die unmittelbare Einwirkung des deutschen Kaisers auf das Volk auf das geringste Maß eingeschränkt. Das Bewußtsein war dein deutschen Volke vollständig abhanden gekommen, daß es selbst mit Gut und Blut einzustehen habe für die Erhaltung des Reiches; daß es selbst zu den Waffen zu greifen habe, wenn der Kaiser zum Reichskriege aufforderte. Das Kriegswesen war zum Handwerk herabgesunken, das bezahlte Söldner besorgten. Der Bauer wollte seineu Hof, seinen Pflug nicht mehr verlassen, die Städter nicht die sichern Mauern und Wälle, um sich mit der Waffe um die kaiserliche Fahne zu Scharen. Die Fürsten und die reichsunmittelbaren Edelleute erkannten kaum noch dem Kaiser die Berechtigung zu, sie zum Kriege aufzurufen, und die lcmdsässigen Adlichen und Ritter folgten Wohl der Fahne ihres Landesherrn, aber nicht mehr dem kaiserlichen Banner. Die Rcichskriegsverfassung war

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/419>, abgerufen am 05.02.2025.