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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Der russische Gemeindebesitz in der Gegenwart

der russische Großgrundbesitz in einer nichts weniger als beneidenswerten
Lage befindet.

Eine wesentliche Besserung haben dadurch insbesondere die politischen
Zustände im Innern erfahren. Bis zu der mehrfach erwähnten kaiserlichen
Erklärung vom 21. Mai 1883 herrschte unter der gesamten russischen Bevölke¬
rung eine Unsicherheit und Ungewißheit über das Kommende, die vollständig
geeignet war, bei einem Mißgriff die schwersten Verwicklungen hervorzurufen.
Auf den durch die Gleichgültigkeit der Regierung gegenüber dem Treibe"? der
liberalen Presse und infolgedessen auch der Bauern im höchsten Grade erbitterten
Großgrundbesitz hatte eS allerdings einen günstigen Eindruck gemacht, daß
unmittelbar nach dem Regierungswechsel dieser Presse jede weitere Agitation
zu Gunsten der Bauern untersagt wurde, aber immerhin wußte noch niemand,
was es schließlich werden sollte, ob die oberste Gewalt deu Forderungen der
Bauern und ihrer Freunde, den übrig gebliebenen Großgrundbesitz noch weiter
zu teilen, erfüllen oder zum Schutze der Besitzer auftreten würde.

Die Bauern waren bis zur Krönung des neuen Kaisers ihrer Sache so
sicher, daß ihre Wünsche in Erfüllung gehen würden, daß es bedenklich war,
ihnen in dieser Beziehung zu widersprechen. Die geringste Veranlassung Hütte
damals genügt, um die Massen gegen die Besitzenden in Bewegung zu setzen;
eine große Täuschung war es dagegen, zu glauben, daß die Bauern bewußt
gegen den Kaiser und dessen Befehle austreten würden. Allerdings konnte
niemand sagen, was geworden wäre, wenn erst eine aufständische Bewegung
gegen die Besitzenden im Gange war; das ganze Verhalten und Auftreten der
Bauern stützte sich jedoch stets auf die Überzeugung, daß ihnen der Kaiser
das ganze Besitztum der Edelleute geschenkt habe und man sie nur mir das
Ihrige betrüge,, wolle. Diese unglückliche Überzeugung war nicht allein durch
die Agitation ihrer Freunde, sondern auch durch die Art und Weise der Be¬
freiung sowie die Gleichgültigkeit der Behörden ihrem Treiben gegenüber hervor¬
gerufen worden, und keine Vorstellung oder Maßregel der Regierung ist bisher
im Staude gewesen, sie vollständig auszurotten; ernstliche Unruhen uuter deu
Bauern sind jedoch uicht mehr zu befürchten.

Die ungeheure Mehrzahl derselben ist durch jene kaiserliche Erklärung
wirklich zu dein Bewußtsein gekommen, daß sie ans weitere Schenkung von
Gutsland nicht mehr zu rechnen hat, und da sie sich zugleich im Besitz eines
Areals befindet, das mehr als dreimal so groß als die Kulturfläche des
deutschen Reiches ist, so ist auch für die nächsten Jahrzehnte kein zwingender
Grund vorhanden, Kopf und Kragen zu riskiren, um in deu Besitz des noch
übrigen Gutslandes zu kommen. Gleichzeitig verstärkt sich im Laufe der Zeit
das Bewußtsein, jetzt wirklich Eigentümer des überwiesenen Landes zu fein,
bei dieser Mehrheit so weit, daß sich die russische Negierung unter allen Um¬
ständen auf sie verlassen kann, sodaß es uicht die geringsten Schwierigkeiten


Der russische Gemeindebesitz in der Gegenwart

der russische Großgrundbesitz in einer nichts weniger als beneidenswerten
Lage befindet.

Eine wesentliche Besserung haben dadurch insbesondere die politischen
Zustände im Innern erfahren. Bis zu der mehrfach erwähnten kaiserlichen
Erklärung vom 21. Mai 1883 herrschte unter der gesamten russischen Bevölke¬
rung eine Unsicherheit und Ungewißheit über das Kommende, die vollständig
geeignet war, bei einem Mißgriff die schwersten Verwicklungen hervorzurufen.
Auf den durch die Gleichgültigkeit der Regierung gegenüber dem Treibe«? der
liberalen Presse und infolgedessen auch der Bauern im höchsten Grade erbitterten
Großgrundbesitz hatte eS allerdings einen günstigen Eindruck gemacht, daß
unmittelbar nach dem Regierungswechsel dieser Presse jede weitere Agitation
zu Gunsten der Bauern untersagt wurde, aber immerhin wußte noch niemand,
was es schließlich werden sollte, ob die oberste Gewalt deu Forderungen der
Bauern und ihrer Freunde, den übrig gebliebenen Großgrundbesitz noch weiter
zu teilen, erfüllen oder zum Schutze der Besitzer auftreten würde.

Die Bauern waren bis zur Krönung des neuen Kaisers ihrer Sache so
sicher, daß ihre Wünsche in Erfüllung gehen würden, daß es bedenklich war,
ihnen in dieser Beziehung zu widersprechen. Die geringste Veranlassung Hütte
damals genügt, um die Massen gegen die Besitzenden in Bewegung zu setzen;
eine große Täuschung war es dagegen, zu glauben, daß die Bauern bewußt
gegen den Kaiser und dessen Befehle austreten würden. Allerdings konnte
niemand sagen, was geworden wäre, wenn erst eine aufständische Bewegung
gegen die Besitzenden im Gange war; das ganze Verhalten und Auftreten der
Bauern stützte sich jedoch stets auf die Überzeugung, daß ihnen der Kaiser
das ganze Besitztum der Edelleute geschenkt habe und man sie nur mir das
Ihrige betrüge,, wolle. Diese unglückliche Überzeugung war nicht allein durch
die Agitation ihrer Freunde, sondern auch durch die Art und Weise der Be¬
freiung sowie die Gleichgültigkeit der Behörden ihrem Treiben gegenüber hervor¬
gerufen worden, und keine Vorstellung oder Maßregel der Regierung ist bisher
im Staude gewesen, sie vollständig auszurotten; ernstliche Unruhen uuter deu
Bauern sind jedoch uicht mehr zu befürchten.

Die ungeheure Mehrzahl derselben ist durch jene kaiserliche Erklärung
wirklich zu dein Bewußtsein gekommen, daß sie ans weitere Schenkung von
Gutsland nicht mehr zu rechnen hat, und da sie sich zugleich im Besitz eines
Areals befindet, das mehr als dreimal so groß als die Kulturfläche des
deutschen Reiches ist, so ist auch für die nächsten Jahrzehnte kein zwingender
Grund vorhanden, Kopf und Kragen zu riskiren, um in deu Besitz des noch
übrigen Gutslandes zu kommen. Gleichzeitig verstärkt sich im Laufe der Zeit
das Bewußtsein, jetzt wirklich Eigentümer des überwiesenen Landes zu fein,
bei dieser Mehrheit so weit, daß sich die russische Negierung unter allen Um¬
ständen auf sie verlassen kann, sodaß es uicht die geringsten Schwierigkeiten


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[0316] Der russische Gemeindebesitz in der Gegenwart der russische Großgrundbesitz in einer nichts weniger als beneidenswerten Lage befindet. Eine wesentliche Besserung haben dadurch insbesondere die politischen Zustände im Innern erfahren. Bis zu der mehrfach erwähnten kaiserlichen Erklärung vom 21. Mai 1883 herrschte unter der gesamten russischen Bevölke¬ rung eine Unsicherheit und Ungewißheit über das Kommende, die vollständig geeignet war, bei einem Mißgriff die schwersten Verwicklungen hervorzurufen. Auf den durch die Gleichgültigkeit der Regierung gegenüber dem Treibe«? der liberalen Presse und infolgedessen auch der Bauern im höchsten Grade erbitterten Großgrundbesitz hatte eS allerdings einen günstigen Eindruck gemacht, daß unmittelbar nach dem Regierungswechsel dieser Presse jede weitere Agitation zu Gunsten der Bauern untersagt wurde, aber immerhin wußte noch niemand, was es schließlich werden sollte, ob die oberste Gewalt deu Forderungen der Bauern und ihrer Freunde, den übrig gebliebenen Großgrundbesitz noch weiter zu teilen, erfüllen oder zum Schutze der Besitzer auftreten würde. Die Bauern waren bis zur Krönung des neuen Kaisers ihrer Sache so sicher, daß ihre Wünsche in Erfüllung gehen würden, daß es bedenklich war, ihnen in dieser Beziehung zu widersprechen. Die geringste Veranlassung Hütte damals genügt, um die Massen gegen die Besitzenden in Bewegung zu setzen; eine große Täuschung war es dagegen, zu glauben, daß die Bauern bewußt gegen den Kaiser und dessen Befehle austreten würden. Allerdings konnte niemand sagen, was geworden wäre, wenn erst eine aufständische Bewegung gegen die Besitzenden im Gange war; das ganze Verhalten und Auftreten der Bauern stützte sich jedoch stets auf die Überzeugung, daß ihnen der Kaiser das ganze Besitztum der Edelleute geschenkt habe und man sie nur mir das Ihrige betrüge,, wolle. Diese unglückliche Überzeugung war nicht allein durch die Agitation ihrer Freunde, sondern auch durch die Art und Weise der Be¬ freiung sowie die Gleichgültigkeit der Behörden ihrem Treiben gegenüber hervor¬ gerufen worden, und keine Vorstellung oder Maßregel der Regierung ist bisher im Staude gewesen, sie vollständig auszurotten; ernstliche Unruhen uuter deu Bauern sind jedoch uicht mehr zu befürchten. Die ungeheure Mehrzahl derselben ist durch jene kaiserliche Erklärung wirklich zu dein Bewußtsein gekommen, daß sie ans weitere Schenkung von Gutsland nicht mehr zu rechnen hat, und da sie sich zugleich im Besitz eines Areals befindet, das mehr als dreimal so groß als die Kulturfläche des deutschen Reiches ist, so ist auch für die nächsten Jahrzehnte kein zwingender Grund vorhanden, Kopf und Kragen zu riskiren, um in deu Besitz des noch übrigen Gutslandes zu kommen. Gleichzeitig verstärkt sich im Laufe der Zeit das Bewußtsein, jetzt wirklich Eigentümer des überwiesenen Landes zu fein, bei dieser Mehrheit so weit, daß sich die russische Negierung unter allen Um¬ ständen auf sie verlassen kann, sodaß es uicht die geringsten Schwierigkeiten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/316>, abgerufen am 05.02.2025.