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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Der russische Gemeindebesitz in der Gegenwart

Selbstverwaltung durchgehende aus Proletariern, vor etwa fünfzehn Jahren
gab, unbedingt richtig war. "Die kaiserliche Regierung -- sagte der Minister
damals -- giebt sich in Betreff der Zustände ans dem flachen Lande nicht den
geringsten Täuschungen hin, sie ist sich aber trotzdem bewußt, auf dem richtigen
Wege zu sein, wenn sie den gegenwärtigen Entwicklungsprozeß in keiner Weise
stört. Durch Einführung einer Besitzform, die den russischen Bauern fremd
ist, für die überhaupt alle Vorbedingungen fehlen, würde sie nichts weiter als
ein riesiges vollkommen besitzloses und dann erst wirklich gefährliches Prole¬
tariat, also Zustände schaffen, deren Folgen sich nicht übersehen ließen."

In der That würden drei Viertel der russischen Bauern nach einigen
Jahren aus Bettlern bestanden haben, wenn sie mit der Freiheit zugleich die
vollständig freie Verfügung über das zugeteilte Land erhalten hätten; dies
mußte auf jede Weise verhindert werden. Da sich erwarten ließ, was auch
gegenwärtig vollkommen zu Tage tritt, daß die häufigen Teilungen des Grund¬
besitzes nach einiger Zeit ganz von selbst aufhören würden, so galt es nur, die
beginnende Reaktion gegen diese Teilungen, so weit als nötig, zu unterstützen,
um dann später dem Gemeindebesitz eine Form zu geben, die alle Vorteile des
westeuropäischen persönlichen Grundbesitzes ohne dessen Schattenseiten enthält.
Schon gegenwärtig würde es keine Schwierigkeiten mehr bieten, die Anteile
des Gemeindebesitzes als nicht weiter teilbar und als Eigentum derer zu
erklären, die die Auskanfssummen darauf bisher geleistet haben, doch empfiehlt
es sich entschieden, mit dem Ordnen dieser Angelegenheit noch einige Zeit zu
warten. Die Überzeugung, durch die geleisteten Zahlungen besondre Rechte
auf das zugeteilte Lund erworben zu haben, die ohne Entschädigung von keiner
Seite angegriffen werden können, wird nach weiteren zehn Jahren allgemein
so fest sitzen, daß die Regierung das, was ihr noch nötig scheint, dann ohne
jedes Bedenke,? zur Ausführung bringen kaun.

Eine ganz bedeutende Unterstützung, um bei dieser endgiltigen Regelung
der bäuerlichen Grundbesitzverhältnisse die richtigen Wege zu gehen, bieten der
russischen Regierung die reichen Erfahrungen, die sie mit den deutschen Kolo¬
nisten machen konnte. Ob bei der Gründung dieser Kolonien neben der Absicht,
den russischen Baktern Muster und Beispiele vor die Augen zu stellen, um sie
zur Nachahmung anzuspornen -- eine Absicht, die sich, beiläufig bemerkt, bis
jetzt ni tenter Beziehung verwirklicht hat --, gleichzeitig auch darauf aus¬
gegangen wurde, Experimente mit den verschiedensten Besitzformen zu machen,
um dann später die zuverlässigste für die russischen Bnueru zu wählen, mag
dahingestellt bleiben; jedenfalls bietet sich nach dem mehr als hundertjährigen
Bestehen der deutschen Kolonien nun die reichste Gelegenheit, über die ver¬
schiedenen Besitzformen mit Zuverlässigkeit zu urteilen.

Das jämmerlichste Ergebnis, oder eigentlich gar keins, da die ganze
Bude muh kurzer Zeit aus dein Leime ging, haben diejenigen deutschen


Der russische Gemeindebesitz in der Gegenwart

Selbstverwaltung durchgehende aus Proletariern, vor etwa fünfzehn Jahren
gab, unbedingt richtig war. „Die kaiserliche Regierung — sagte der Minister
damals — giebt sich in Betreff der Zustände ans dem flachen Lande nicht den
geringsten Täuschungen hin, sie ist sich aber trotzdem bewußt, auf dem richtigen
Wege zu sein, wenn sie den gegenwärtigen Entwicklungsprozeß in keiner Weise
stört. Durch Einführung einer Besitzform, die den russischen Bauern fremd
ist, für die überhaupt alle Vorbedingungen fehlen, würde sie nichts weiter als
ein riesiges vollkommen besitzloses und dann erst wirklich gefährliches Prole¬
tariat, also Zustände schaffen, deren Folgen sich nicht übersehen ließen."

In der That würden drei Viertel der russischen Bauern nach einigen
Jahren aus Bettlern bestanden haben, wenn sie mit der Freiheit zugleich die
vollständig freie Verfügung über das zugeteilte Land erhalten hätten; dies
mußte auf jede Weise verhindert werden. Da sich erwarten ließ, was auch
gegenwärtig vollkommen zu Tage tritt, daß die häufigen Teilungen des Grund¬
besitzes nach einiger Zeit ganz von selbst aufhören würden, so galt es nur, die
beginnende Reaktion gegen diese Teilungen, so weit als nötig, zu unterstützen,
um dann später dem Gemeindebesitz eine Form zu geben, die alle Vorteile des
westeuropäischen persönlichen Grundbesitzes ohne dessen Schattenseiten enthält.
Schon gegenwärtig würde es keine Schwierigkeiten mehr bieten, die Anteile
des Gemeindebesitzes als nicht weiter teilbar und als Eigentum derer zu
erklären, die die Auskanfssummen darauf bisher geleistet haben, doch empfiehlt
es sich entschieden, mit dem Ordnen dieser Angelegenheit noch einige Zeit zu
warten. Die Überzeugung, durch die geleisteten Zahlungen besondre Rechte
auf das zugeteilte Lund erworben zu haben, die ohne Entschädigung von keiner
Seite angegriffen werden können, wird nach weiteren zehn Jahren allgemein
so fest sitzen, daß die Regierung das, was ihr noch nötig scheint, dann ohne
jedes Bedenke,? zur Ausführung bringen kaun.

Eine ganz bedeutende Unterstützung, um bei dieser endgiltigen Regelung
der bäuerlichen Grundbesitzverhältnisse die richtigen Wege zu gehen, bieten der
russischen Regierung die reichen Erfahrungen, die sie mit den deutschen Kolo¬
nisten machen konnte. Ob bei der Gründung dieser Kolonien neben der Absicht,
den russischen Baktern Muster und Beispiele vor die Augen zu stellen, um sie
zur Nachahmung anzuspornen — eine Absicht, die sich, beiläufig bemerkt, bis
jetzt ni tenter Beziehung verwirklicht hat —, gleichzeitig auch darauf aus¬
gegangen wurde, Experimente mit den verschiedensten Besitzformen zu machen,
um dann später die zuverlässigste für die russischen Bnueru zu wählen, mag
dahingestellt bleiben; jedenfalls bietet sich nach dem mehr als hundertjährigen
Bestehen der deutschen Kolonien nun die reichste Gelegenheit, über die ver¬
schiedenen Besitzformen mit Zuverlässigkeit zu urteilen.

Das jämmerlichste Ergebnis, oder eigentlich gar keins, da die ganze
Bude muh kurzer Zeit aus dein Leime ging, haben diejenigen deutschen


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[0312] Der russische Gemeindebesitz in der Gegenwart Selbstverwaltung durchgehende aus Proletariern, vor etwa fünfzehn Jahren gab, unbedingt richtig war. „Die kaiserliche Regierung — sagte der Minister damals — giebt sich in Betreff der Zustände ans dem flachen Lande nicht den geringsten Täuschungen hin, sie ist sich aber trotzdem bewußt, auf dem richtigen Wege zu sein, wenn sie den gegenwärtigen Entwicklungsprozeß in keiner Weise stört. Durch Einführung einer Besitzform, die den russischen Bauern fremd ist, für die überhaupt alle Vorbedingungen fehlen, würde sie nichts weiter als ein riesiges vollkommen besitzloses und dann erst wirklich gefährliches Prole¬ tariat, also Zustände schaffen, deren Folgen sich nicht übersehen ließen." In der That würden drei Viertel der russischen Bauern nach einigen Jahren aus Bettlern bestanden haben, wenn sie mit der Freiheit zugleich die vollständig freie Verfügung über das zugeteilte Land erhalten hätten; dies mußte auf jede Weise verhindert werden. Da sich erwarten ließ, was auch gegenwärtig vollkommen zu Tage tritt, daß die häufigen Teilungen des Grund¬ besitzes nach einiger Zeit ganz von selbst aufhören würden, so galt es nur, die beginnende Reaktion gegen diese Teilungen, so weit als nötig, zu unterstützen, um dann später dem Gemeindebesitz eine Form zu geben, die alle Vorteile des westeuropäischen persönlichen Grundbesitzes ohne dessen Schattenseiten enthält. Schon gegenwärtig würde es keine Schwierigkeiten mehr bieten, die Anteile des Gemeindebesitzes als nicht weiter teilbar und als Eigentum derer zu erklären, die die Auskanfssummen darauf bisher geleistet haben, doch empfiehlt es sich entschieden, mit dem Ordnen dieser Angelegenheit noch einige Zeit zu warten. Die Überzeugung, durch die geleisteten Zahlungen besondre Rechte auf das zugeteilte Lund erworben zu haben, die ohne Entschädigung von keiner Seite angegriffen werden können, wird nach weiteren zehn Jahren allgemein so fest sitzen, daß die Regierung das, was ihr noch nötig scheint, dann ohne jedes Bedenke,? zur Ausführung bringen kaun. Eine ganz bedeutende Unterstützung, um bei dieser endgiltigen Regelung der bäuerlichen Grundbesitzverhältnisse die richtigen Wege zu gehen, bieten der russischen Regierung die reichen Erfahrungen, die sie mit den deutschen Kolo¬ nisten machen konnte. Ob bei der Gründung dieser Kolonien neben der Absicht, den russischen Baktern Muster und Beispiele vor die Augen zu stellen, um sie zur Nachahmung anzuspornen — eine Absicht, die sich, beiläufig bemerkt, bis jetzt ni tenter Beziehung verwirklicht hat —, gleichzeitig auch darauf aus¬ gegangen wurde, Experimente mit den verschiedensten Besitzformen zu machen, um dann später die zuverlässigste für die russischen Bnueru zu wählen, mag dahingestellt bleiben; jedenfalls bietet sich nach dem mehr als hundertjährigen Bestehen der deutschen Kolonien nun die reichste Gelegenheit, über die ver¬ schiedenen Besitzformen mit Zuverlässigkeit zu urteilen. Das jämmerlichste Ergebnis, oder eigentlich gar keins, da die ganze Bude muh kurzer Zeit aus dein Leime ging, haben diejenigen deutschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/312>, abgerufen am 05.02.2025.