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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Der russische Gemeindebesitz in der Gegenwart

Experiment sein würde, das in Rußland bisher überhaupt zur Ausführung
gekommen wäre, den jetzigen Ansprüchen und Ansichten der ungeheuern Masse
der Bauern in Betreff des zugeteilten Landes rücksichtslos entgegen zu treten.
Allerdings haben die Bauern niemals etwas dagegen einzuwenden, daß zu
ihren Gunsten aus fremdem Leder Riemen geschnitten werden, oder ihnen, den
erwähnten Wünschen entsprechend, der noch übrige Gutsbesitz geschenkt wird,
aber auf die Zumutung, auf ihre durch die bisherigen 28jährigen Zahlungen
erworbenen Ansprüche zu Gunsten solcher 'zu verzichten, die keinen Kopeken
zu den Ablösuugsgelderu bezahlt haben, dürften sie gegenwärtig eine Ant¬
wort geben, die mit den Ansichten der bisherigen Bauernfrennde über den
Gemeindebesitz uicht ganz übereinstimmte. Schon die letzten Jahre haben
gelehrt, daß mit dem angeblich jeder Autorität willig folgenden russischen
Bauer selbst da nicht zu spaßen ist, wo es sich bloß um eingebildeten
Besitz handelt. So sehr man sich anch Mühe gegeben hat, derartiges zu
vertuschen, so ist es doch bekannt genug, daß die Bauern ans zahlreichen
Plätzen, wo ihnen jedes Recht ans das benutzte Gutseigentum fehlte, da sie
das Gut weder gekauft noch gepachtet noch längere Zeit ungestört besessen
hatten, einfach darauf hin, daß ihnen einer ihrer Freunde gesagt hatte, daß es
ihnen gehöre oder gehören müsse, selbst der bewaffneten Macht ganz offnen
Widerstand leisteten. Verschiedene von solchen Borfällen, die im westlichen
Europa unbedingt zu schwerer Bestrafung geführt hätten, find hier ohne jede
weitere Folge geblieben, weil man sehr gut wußte, welche Stimmung das von
Hoch und Niedrig mehr als zwanzig Jahre lang betriebene Verhätscheln der
Bauern bei ihnen erzeugt hat.

Darauf, daß die russische Regierung deu heißblütigen Anhängern des
teilbaren Gemeindebesitzes zuliebe den schweren Fehler begehen und der
Masse der Bauern entgegentreten werde, die unter den schwierigsten Verhält¬
nissen auf ihrem Grundbesitz ausgehalten hat, läßt sich in keiner Weise
rechnen. Nicht allein ihre ganze Haltung seit Aufhebung der Leibeigenschaft,
sondern anch alle Gründe der Vernunft und Klugheit sprechen dagegen. Es
ist bekannt genug, daß sowohl vor wie nach dem Jahre 18V1 die Einführung
des persönlichen Besitzes bei den befreiten Bauern nicht allein von einer
großen Partei in Rußland, fondern noch weit mehr von den Westeuropäern
als das einzige Mittel bezeichnet wurde, die russische Volkswirtschaft vor dem
Untergange zu retten, und die Beibehaltung des teilbaren Gemeindebesitzes als
ein schwerer Mißgriff galt.

Wir gestehen offen, daß wir längere Zeit selbst die letztere Ansicht teilte,?,
bis uus ein längerer Verkehr mit den russischen Bauern und die Beobachtung
der gesamten Zustände zu der Überzeugung brachte, daß die Antwort, die ein
russischer Minister einem Korrespondenten auf die Bemerkung, der russische
Bauernstand bestehe infolge des teilbaren Gemeindebesitzes und der vollen


Der russische Gemeindebesitz in der Gegenwart

Experiment sein würde, das in Rußland bisher überhaupt zur Ausführung
gekommen wäre, den jetzigen Ansprüchen und Ansichten der ungeheuern Masse
der Bauern in Betreff des zugeteilten Landes rücksichtslos entgegen zu treten.
Allerdings haben die Bauern niemals etwas dagegen einzuwenden, daß zu
ihren Gunsten aus fremdem Leder Riemen geschnitten werden, oder ihnen, den
erwähnten Wünschen entsprechend, der noch übrige Gutsbesitz geschenkt wird,
aber auf die Zumutung, auf ihre durch die bisherigen 28jährigen Zahlungen
erworbenen Ansprüche zu Gunsten solcher 'zu verzichten, die keinen Kopeken
zu den Ablösuugsgelderu bezahlt haben, dürften sie gegenwärtig eine Ant¬
wort geben, die mit den Ansichten der bisherigen Bauernfrennde über den
Gemeindebesitz uicht ganz übereinstimmte. Schon die letzten Jahre haben
gelehrt, daß mit dem angeblich jeder Autorität willig folgenden russischen
Bauer selbst da nicht zu spaßen ist, wo es sich bloß um eingebildeten
Besitz handelt. So sehr man sich anch Mühe gegeben hat, derartiges zu
vertuschen, so ist es doch bekannt genug, daß die Bauern ans zahlreichen
Plätzen, wo ihnen jedes Recht ans das benutzte Gutseigentum fehlte, da sie
das Gut weder gekauft noch gepachtet noch längere Zeit ungestört besessen
hatten, einfach darauf hin, daß ihnen einer ihrer Freunde gesagt hatte, daß es
ihnen gehöre oder gehören müsse, selbst der bewaffneten Macht ganz offnen
Widerstand leisteten. Verschiedene von solchen Borfällen, die im westlichen
Europa unbedingt zu schwerer Bestrafung geführt hätten, find hier ohne jede
weitere Folge geblieben, weil man sehr gut wußte, welche Stimmung das von
Hoch und Niedrig mehr als zwanzig Jahre lang betriebene Verhätscheln der
Bauern bei ihnen erzeugt hat.

Darauf, daß die russische Regierung deu heißblütigen Anhängern des
teilbaren Gemeindebesitzes zuliebe den schweren Fehler begehen und der
Masse der Bauern entgegentreten werde, die unter den schwierigsten Verhält¬
nissen auf ihrem Grundbesitz ausgehalten hat, läßt sich in keiner Weise
rechnen. Nicht allein ihre ganze Haltung seit Aufhebung der Leibeigenschaft,
sondern anch alle Gründe der Vernunft und Klugheit sprechen dagegen. Es
ist bekannt genug, daß sowohl vor wie nach dem Jahre 18V1 die Einführung
des persönlichen Besitzes bei den befreiten Bauern nicht allein von einer
großen Partei in Rußland, fondern noch weit mehr von den Westeuropäern
als das einzige Mittel bezeichnet wurde, die russische Volkswirtschaft vor dem
Untergange zu retten, und die Beibehaltung des teilbaren Gemeindebesitzes als
ein schwerer Mißgriff galt.

Wir gestehen offen, daß wir längere Zeit selbst die letztere Ansicht teilte,?,
bis uus ein längerer Verkehr mit den russischen Bauern und die Beobachtung
der gesamten Zustände zu der Überzeugung brachte, daß die Antwort, die ein
russischer Minister einem Korrespondenten auf die Bemerkung, der russische
Bauernstand bestehe infolge des teilbaren Gemeindebesitzes und der vollen


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[0311] Der russische Gemeindebesitz in der Gegenwart Experiment sein würde, das in Rußland bisher überhaupt zur Ausführung gekommen wäre, den jetzigen Ansprüchen und Ansichten der ungeheuern Masse der Bauern in Betreff des zugeteilten Landes rücksichtslos entgegen zu treten. Allerdings haben die Bauern niemals etwas dagegen einzuwenden, daß zu ihren Gunsten aus fremdem Leder Riemen geschnitten werden, oder ihnen, den erwähnten Wünschen entsprechend, der noch übrige Gutsbesitz geschenkt wird, aber auf die Zumutung, auf ihre durch die bisherigen 28jährigen Zahlungen erworbenen Ansprüche zu Gunsten solcher 'zu verzichten, die keinen Kopeken zu den Ablösuugsgelderu bezahlt haben, dürften sie gegenwärtig eine Ant¬ wort geben, die mit den Ansichten der bisherigen Bauernfrennde über den Gemeindebesitz uicht ganz übereinstimmte. Schon die letzten Jahre haben gelehrt, daß mit dem angeblich jeder Autorität willig folgenden russischen Bauer selbst da nicht zu spaßen ist, wo es sich bloß um eingebildeten Besitz handelt. So sehr man sich anch Mühe gegeben hat, derartiges zu vertuschen, so ist es doch bekannt genug, daß die Bauern ans zahlreichen Plätzen, wo ihnen jedes Recht ans das benutzte Gutseigentum fehlte, da sie das Gut weder gekauft noch gepachtet noch längere Zeit ungestört besessen hatten, einfach darauf hin, daß ihnen einer ihrer Freunde gesagt hatte, daß es ihnen gehöre oder gehören müsse, selbst der bewaffneten Macht ganz offnen Widerstand leisteten. Verschiedene von solchen Borfällen, die im westlichen Europa unbedingt zu schwerer Bestrafung geführt hätten, find hier ohne jede weitere Folge geblieben, weil man sehr gut wußte, welche Stimmung das von Hoch und Niedrig mehr als zwanzig Jahre lang betriebene Verhätscheln der Bauern bei ihnen erzeugt hat. Darauf, daß die russische Regierung deu heißblütigen Anhängern des teilbaren Gemeindebesitzes zuliebe den schweren Fehler begehen und der Masse der Bauern entgegentreten werde, die unter den schwierigsten Verhält¬ nissen auf ihrem Grundbesitz ausgehalten hat, läßt sich in keiner Weise rechnen. Nicht allein ihre ganze Haltung seit Aufhebung der Leibeigenschaft, sondern anch alle Gründe der Vernunft und Klugheit sprechen dagegen. Es ist bekannt genug, daß sowohl vor wie nach dem Jahre 18V1 die Einführung des persönlichen Besitzes bei den befreiten Bauern nicht allein von einer großen Partei in Rußland, fondern noch weit mehr von den Westeuropäern als das einzige Mittel bezeichnet wurde, die russische Volkswirtschaft vor dem Untergange zu retten, und die Beibehaltung des teilbaren Gemeindebesitzes als ein schwerer Mißgriff galt. Wir gestehen offen, daß wir längere Zeit selbst die letztere Ansicht teilte,?, bis uus ein längerer Verkehr mit den russischen Bauern und die Beobachtung der gesamten Zustände zu der Überzeugung brachte, daß die Antwort, die ein russischer Minister einem Korrespondenten auf die Bemerkung, der russische Bauernstand bestehe infolge des teilbaren Gemeindebesitzes und der vollen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/311>, abgerufen am 05.02.2025.