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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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er nicht hinreichende Kräfte besitzt, sich und seinen Angehörigen den not¬
dürftigsten Lebensunterhalt zu verschaffen, wahrend die bloße Besorgnis vor
künftiger Verarmung des Znziehende" den Gemeindevorstand nicht zur Zurück¬
weisung berechtigt. Mängeln diese Nachweise, deren Erbringnng immer sehr
schwierig bleiben wird, so kann die Fortsetzung des Aufenthaltes erst versagt
werden, wenn sich nach dein Anzüge die Notwendigkeit einer öffentlichen Unter¬
stützung ergiebt, bevor der neu anziehende um dem Aufenthaltsorte einen
Unterstützungswohnsitz erworben hat und die Gemeinde nachweisen kann, daß
diese Unterstützung aus andern Gründen als wegen einer vorübergehenden
Arbeitsunfähigkeit notwendig geworden ist. Nichtdentsche erlangen dagegen die
Naturalisation erst nach vvrgnngigem Angehör der Gemeinde oder des Orts-
armenverbandes der beabsichtigten Niederlassung, wenn sie verfügungsfühig,
unbescholten sind und an dem betreffenden Orte eine eigne Wohnung oder ein
Unterkommen finden und sich lind ihre Augehörigen zu ernähren im Stande sind.

Die Heimatsgesetzgebnng Baierns läßt den Aufenthaltsgemeinden einen
größeren Spielraum.

In England gewährt schon ein einjähriger Aufenthalt in einem Kreis-
armenverbcmde den Schutz gegen Ausweisung, und das Niederlassnngsrechr
mit Anspruch auf Armenunterstützung kann von Einheimischen wie Fremden,
abgesehen von Geburt und sonstigen natürlichen Entstehnngsgründen, schon
durch vierzigtägigen Wohnsitz in einem Orte, verbunden mit den gesetzlichen
Merkmalen einer dauernden Ansässigkeit kath Lehrlingschaft, Grundbesitz,
Wohnungsmiete, Zahlung von ordentlichen Kvmmnnalsteuern) erworben werden.
Dieser Leichtigkeit der Niederlassung an fremdem Orte, verbunden mit dem
Umstände, daß der Grundbesitz in die Hände einer verhältnismäßig kleinen
Zahl von Großbegüterten gekommen ist, eine Überzahl sich dagegen auf den
Erwerb von beweglichem Gute angewiesen sieht, erklärt die zahlreichen Gro߬
städte in England und ihr reißendes Anwachsen, vor allein das Londons.

Dein platten Lande erwächst aus diesem Umstände natürlich schwerer
Schaden, indem er die Zahl der notwendigen Arbeiter vermindert und dadurch
die Produktion und die ihr dienenden Gewerbe benachteiligt und verteuert.

Es wird daher in den verschiednen Staaten früher oder später wohl noch
dazu kommen müssen, daß man den gleich einem Magneteisenberg anziehenden
Riesenstädten gegenüber eigene Gesetze erläßt, die den Zuzug im Interesse
dieser Städte sowohl wie der Zuzügler selbst müßige und verringert und die
mau auf andre Städte ausdehnt, wenn sie von ähnlichem Notstände bedroht
sind. Ein solches Notstandsgesetz wäre für London und Paris wohl schon
längst am Platze; aber auch das Wachstum unsrer Reichshauptstadt Berlin
hat seit 1871 solche Verhältnisse angenommen und wird bei Fortdauer der
heutigen Strömung so zunehmen, daß dem ernsthafte" Politiker besonders in,
Hinblick ans die schlimmen Wohnungsverhältnisse der untern Stände schwere


er nicht hinreichende Kräfte besitzt, sich und seinen Angehörigen den not¬
dürftigsten Lebensunterhalt zu verschaffen, wahrend die bloße Besorgnis vor
künftiger Verarmung des Znziehende» den Gemeindevorstand nicht zur Zurück¬
weisung berechtigt. Mängeln diese Nachweise, deren Erbringnng immer sehr
schwierig bleiben wird, so kann die Fortsetzung des Aufenthaltes erst versagt
werden, wenn sich nach dein Anzüge die Notwendigkeit einer öffentlichen Unter¬
stützung ergiebt, bevor der neu anziehende um dem Aufenthaltsorte einen
Unterstützungswohnsitz erworben hat und die Gemeinde nachweisen kann, daß
diese Unterstützung aus andern Gründen als wegen einer vorübergehenden
Arbeitsunfähigkeit notwendig geworden ist. Nichtdentsche erlangen dagegen die
Naturalisation erst nach vvrgnngigem Angehör der Gemeinde oder des Orts-
armenverbandes der beabsichtigten Niederlassung, wenn sie verfügungsfühig,
unbescholten sind und an dem betreffenden Orte eine eigne Wohnung oder ein
Unterkommen finden und sich lind ihre Augehörigen zu ernähren im Stande sind.

Die Heimatsgesetzgebnng Baierns läßt den Aufenthaltsgemeinden einen
größeren Spielraum.

In England gewährt schon ein einjähriger Aufenthalt in einem Kreis-
armenverbcmde den Schutz gegen Ausweisung, und das Niederlassnngsrechr
mit Anspruch auf Armenunterstützung kann von Einheimischen wie Fremden,
abgesehen von Geburt und sonstigen natürlichen Entstehnngsgründen, schon
durch vierzigtägigen Wohnsitz in einem Orte, verbunden mit den gesetzlichen
Merkmalen einer dauernden Ansässigkeit kath Lehrlingschaft, Grundbesitz,
Wohnungsmiete, Zahlung von ordentlichen Kvmmnnalsteuern) erworben werden.
Dieser Leichtigkeit der Niederlassung an fremdem Orte, verbunden mit dem
Umstände, daß der Grundbesitz in die Hände einer verhältnismäßig kleinen
Zahl von Großbegüterten gekommen ist, eine Überzahl sich dagegen auf den
Erwerb von beweglichem Gute angewiesen sieht, erklärt die zahlreichen Gro߬
städte in England und ihr reißendes Anwachsen, vor allein das Londons.

Dein platten Lande erwächst aus diesem Umstände natürlich schwerer
Schaden, indem er die Zahl der notwendigen Arbeiter vermindert und dadurch
die Produktion und die ihr dienenden Gewerbe benachteiligt und verteuert.

Es wird daher in den verschiednen Staaten früher oder später wohl noch
dazu kommen müssen, daß man den gleich einem Magneteisenberg anziehenden
Riesenstädten gegenüber eigene Gesetze erläßt, die den Zuzug im Interesse
dieser Städte sowohl wie der Zuzügler selbst müßige und verringert und die
mau auf andre Städte ausdehnt, wenn sie von ähnlichem Notstände bedroht
sind. Ein solches Notstandsgesetz wäre für London und Paris wohl schon
längst am Platze; aber auch das Wachstum unsrer Reichshauptstadt Berlin
hat seit 1871 solche Verhältnisse angenommen und wird bei Fortdauer der
heutigen Strömung so zunehmen, daß dem ernsthafte« Politiker besonders in,
Hinblick ans die schlimmen Wohnungsverhältnisse der untern Stände schwere


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[0218] er nicht hinreichende Kräfte besitzt, sich und seinen Angehörigen den not¬ dürftigsten Lebensunterhalt zu verschaffen, wahrend die bloße Besorgnis vor künftiger Verarmung des Znziehende» den Gemeindevorstand nicht zur Zurück¬ weisung berechtigt. Mängeln diese Nachweise, deren Erbringnng immer sehr schwierig bleiben wird, so kann die Fortsetzung des Aufenthaltes erst versagt werden, wenn sich nach dein Anzüge die Notwendigkeit einer öffentlichen Unter¬ stützung ergiebt, bevor der neu anziehende um dem Aufenthaltsorte einen Unterstützungswohnsitz erworben hat und die Gemeinde nachweisen kann, daß diese Unterstützung aus andern Gründen als wegen einer vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit notwendig geworden ist. Nichtdentsche erlangen dagegen die Naturalisation erst nach vvrgnngigem Angehör der Gemeinde oder des Orts- armenverbandes der beabsichtigten Niederlassung, wenn sie verfügungsfühig, unbescholten sind und an dem betreffenden Orte eine eigne Wohnung oder ein Unterkommen finden und sich lind ihre Augehörigen zu ernähren im Stande sind. Die Heimatsgesetzgebnng Baierns läßt den Aufenthaltsgemeinden einen größeren Spielraum. In England gewährt schon ein einjähriger Aufenthalt in einem Kreis- armenverbcmde den Schutz gegen Ausweisung, und das Niederlassnngsrechr mit Anspruch auf Armenunterstützung kann von Einheimischen wie Fremden, abgesehen von Geburt und sonstigen natürlichen Entstehnngsgründen, schon durch vierzigtägigen Wohnsitz in einem Orte, verbunden mit den gesetzlichen Merkmalen einer dauernden Ansässigkeit kath Lehrlingschaft, Grundbesitz, Wohnungsmiete, Zahlung von ordentlichen Kvmmnnalsteuern) erworben werden. Dieser Leichtigkeit der Niederlassung an fremdem Orte, verbunden mit dem Umstände, daß der Grundbesitz in die Hände einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Großbegüterten gekommen ist, eine Überzahl sich dagegen auf den Erwerb von beweglichem Gute angewiesen sieht, erklärt die zahlreichen Gro߬ städte in England und ihr reißendes Anwachsen, vor allein das Londons. Dein platten Lande erwächst aus diesem Umstände natürlich schwerer Schaden, indem er die Zahl der notwendigen Arbeiter vermindert und dadurch die Produktion und die ihr dienenden Gewerbe benachteiligt und verteuert. Es wird daher in den verschiednen Staaten früher oder später wohl noch dazu kommen müssen, daß man den gleich einem Magneteisenberg anziehenden Riesenstädten gegenüber eigene Gesetze erläßt, die den Zuzug im Interesse dieser Städte sowohl wie der Zuzügler selbst müßige und verringert und die mau auf andre Städte ausdehnt, wenn sie von ähnlichem Notstände bedroht sind. Ein solches Notstandsgesetz wäre für London und Paris wohl schon längst am Platze; aber auch das Wachstum unsrer Reichshauptstadt Berlin hat seit 1871 solche Verhältnisse angenommen und wird bei Fortdauer der heutigen Strömung so zunehmen, daß dem ernsthafte« Politiker besonders in, Hinblick ans die schlimmen Wohnungsverhältnisse der untern Stände schwere

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/218>, abgerufen am 10.02.2025.