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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Das Anwachsen der Großstädte

Bedenken über die entstehenden gesundheitlichen, wirtschaftlichen und gesellschaft¬
lichen Gefahren nicht erspart bleiben können.

Gerade bei den Wvhnnngsverhnltnissen scheint uns nun der Hebel gegen
übermäßige Einwanderung angesetzt werden zu niüsseu. Abgesehen von den An-
forderungen, welche die Svzialpolitiker an den Staat, die Gesellschaft und an
die Thätigkeit der Einzelnen stellen, um eine Besserung der Wohnungsverhält¬
nisse in den Städten herbeizuführen, denkt man in Deutschland auch ernstlich
an Schaffung eines Neichsgesetzes, das den Gebrauch der Wohnungen regelt,
die Zahl der Personen für einen Raum von bestimmter Größe oder den
mindesten Luftraum für einen Einwohner festsetzt, Einschreiten ermöglicht gegen
gesundheitswidrige Wohnungen bis zur Schließung und Niederreißung und
zu diesem Zwecke deu Gemeinden Enteignungsrecht verleiht. Außerdem sollen
die Bedingungen des Mietvertrags staatlich festgestellt, Pfand- und Retentions-
recht des Vermieters eingeschränkt, endlich die Strafbarkeit von Übertretungen
der bezüglichen Vorschriften ausgesprochen werden.

England hat zwar bereits ein Gesetz, das die Ortsbehörden zum Ein¬
schreiten gegen ungesunde Wohnungen ermächtigt. Die Ausführung soll aber,
wie die der englischen Gesetze überhaupt, viel zu wünschen übrig lassen.

Da nnn der Prozentsatz der wohlfeilen kleinen Wohnungen in den Gro߬
städten sinkt, und dadurch immer menschenunwürdigere Räume zu Wohnungen
aufgesucht und immer mehr Bewohner und Schlaflente in einen Raum zu¬
sammengedrängt werden, so müßte neben der Sorge für gesunde Armen- und
Arbeiterwohnungen und neben dein gesetzlichen Einschreiten gegen gesundheits¬
widriges Wohnen zugleich der Zuzug, das Verbleiben in den fraglichen Gro߬
städten von dem Nachweise abhängig gemacht werden, daß der Einwandrer
eine für die Pflege der Gesundheit nach gesetzlichen Begriffen ausreichende
Wohnung zu mieten und zu behaupten im Stande ist.

Das Schließen und Niederreißen ungenügender Wohnungen wird auch so
lange auf dem Papiere stehen bleiben, bis man nicht durch Regelung und
Berminderuug des Zuzuges es ermöglicht, an solche gründliche Maßregeln
heranzutreten; denn man kann sie ernstlich doch nur dann in Betracht ziehen,
wenn mau hierdurch nicht zahlreiche Familien obdachlos macht, und das "Aus¬
waiden" von Großstädte", das man vor wenigen Jahren, in Neapel beim
Auftreten der Cholera ins Auge faßte, wird so lange ein schöner Gedanke
bleiben, als man durch fortwährenden Nachschub des neu einwandernden
Elendes an jeder anch nur zeitweiligen Umänderung der verpesteten Wohnstätten
gehindert wird.


I- Jaeger


Das Anwachsen der Großstädte

Bedenken über die entstehenden gesundheitlichen, wirtschaftlichen und gesellschaft¬
lichen Gefahren nicht erspart bleiben können.

Gerade bei den Wvhnnngsverhnltnissen scheint uns nun der Hebel gegen
übermäßige Einwanderung angesetzt werden zu niüsseu. Abgesehen von den An-
forderungen, welche die Svzialpolitiker an den Staat, die Gesellschaft und an
die Thätigkeit der Einzelnen stellen, um eine Besserung der Wohnungsverhält¬
nisse in den Städten herbeizuführen, denkt man in Deutschland auch ernstlich
an Schaffung eines Neichsgesetzes, das den Gebrauch der Wohnungen regelt,
die Zahl der Personen für einen Raum von bestimmter Größe oder den
mindesten Luftraum für einen Einwohner festsetzt, Einschreiten ermöglicht gegen
gesundheitswidrige Wohnungen bis zur Schließung und Niederreißung und
zu diesem Zwecke deu Gemeinden Enteignungsrecht verleiht. Außerdem sollen
die Bedingungen des Mietvertrags staatlich festgestellt, Pfand- und Retentions-
recht des Vermieters eingeschränkt, endlich die Strafbarkeit von Übertretungen
der bezüglichen Vorschriften ausgesprochen werden.

England hat zwar bereits ein Gesetz, das die Ortsbehörden zum Ein¬
schreiten gegen ungesunde Wohnungen ermächtigt. Die Ausführung soll aber,
wie die der englischen Gesetze überhaupt, viel zu wünschen übrig lassen.

Da nnn der Prozentsatz der wohlfeilen kleinen Wohnungen in den Gro߬
städten sinkt, und dadurch immer menschenunwürdigere Räume zu Wohnungen
aufgesucht und immer mehr Bewohner und Schlaflente in einen Raum zu¬
sammengedrängt werden, so müßte neben der Sorge für gesunde Armen- und
Arbeiterwohnungen und neben dein gesetzlichen Einschreiten gegen gesundheits¬
widriges Wohnen zugleich der Zuzug, das Verbleiben in den fraglichen Gro߬
städten von dem Nachweise abhängig gemacht werden, daß der Einwandrer
eine für die Pflege der Gesundheit nach gesetzlichen Begriffen ausreichende
Wohnung zu mieten und zu behaupten im Stande ist.

Das Schließen und Niederreißen ungenügender Wohnungen wird auch so
lange auf dem Papiere stehen bleiben, bis man nicht durch Regelung und
Berminderuug des Zuzuges es ermöglicht, an solche gründliche Maßregeln
heranzutreten; denn man kann sie ernstlich doch nur dann in Betracht ziehen,
wenn mau hierdurch nicht zahlreiche Familien obdachlos macht, und das „Aus¬
waiden" von Großstädte», das man vor wenigen Jahren, in Neapel beim
Auftreten der Cholera ins Auge faßte, wird so lange ein schöner Gedanke
bleiben, als man durch fortwährenden Nachschub des neu einwandernden
Elendes an jeder anch nur zeitweiligen Umänderung der verpesteten Wohnstätten
gehindert wird.


I- Jaeger


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[0219] Das Anwachsen der Großstädte Bedenken über die entstehenden gesundheitlichen, wirtschaftlichen und gesellschaft¬ lichen Gefahren nicht erspart bleiben können. Gerade bei den Wvhnnngsverhnltnissen scheint uns nun der Hebel gegen übermäßige Einwanderung angesetzt werden zu niüsseu. Abgesehen von den An- forderungen, welche die Svzialpolitiker an den Staat, die Gesellschaft und an die Thätigkeit der Einzelnen stellen, um eine Besserung der Wohnungsverhält¬ nisse in den Städten herbeizuführen, denkt man in Deutschland auch ernstlich an Schaffung eines Neichsgesetzes, das den Gebrauch der Wohnungen regelt, die Zahl der Personen für einen Raum von bestimmter Größe oder den mindesten Luftraum für einen Einwohner festsetzt, Einschreiten ermöglicht gegen gesundheitswidrige Wohnungen bis zur Schließung und Niederreißung und zu diesem Zwecke deu Gemeinden Enteignungsrecht verleiht. Außerdem sollen die Bedingungen des Mietvertrags staatlich festgestellt, Pfand- und Retentions- recht des Vermieters eingeschränkt, endlich die Strafbarkeit von Übertretungen der bezüglichen Vorschriften ausgesprochen werden. England hat zwar bereits ein Gesetz, das die Ortsbehörden zum Ein¬ schreiten gegen ungesunde Wohnungen ermächtigt. Die Ausführung soll aber, wie die der englischen Gesetze überhaupt, viel zu wünschen übrig lassen. Da nnn der Prozentsatz der wohlfeilen kleinen Wohnungen in den Gro߬ städten sinkt, und dadurch immer menschenunwürdigere Räume zu Wohnungen aufgesucht und immer mehr Bewohner und Schlaflente in einen Raum zu¬ sammengedrängt werden, so müßte neben der Sorge für gesunde Armen- und Arbeiterwohnungen und neben dein gesetzlichen Einschreiten gegen gesundheits¬ widriges Wohnen zugleich der Zuzug, das Verbleiben in den fraglichen Gro߬ städten von dem Nachweise abhängig gemacht werden, daß der Einwandrer eine für die Pflege der Gesundheit nach gesetzlichen Begriffen ausreichende Wohnung zu mieten und zu behaupten im Stande ist. Das Schließen und Niederreißen ungenügender Wohnungen wird auch so lange auf dem Papiere stehen bleiben, bis man nicht durch Regelung und Berminderuug des Zuzuges es ermöglicht, an solche gründliche Maßregeln heranzutreten; denn man kann sie ernstlich doch nur dann in Betracht ziehen, wenn mau hierdurch nicht zahlreiche Familien obdachlos macht, und das „Aus¬ waiden" von Großstädte», das man vor wenigen Jahren, in Neapel beim Auftreten der Cholera ins Auge faßte, wird so lange ein schöner Gedanke bleiben, als man durch fortwährenden Nachschub des neu einwandernden Elendes an jeder anch nur zeitweiligen Umänderung der verpesteten Wohnstätten gehindert wird. I- Jaeger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/219>, abgerufen am 05.02.2025.