Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.Das Anwachsen der Großstädte drei Millionen Einwohner mehr hat als Babylon zur Zeit seiner höchsten Aber wie helfen? Es ist ja nicht zu verkennen, daß die freie Ein¬ So hoch die Freizügigkeit an sich zu schätzen ist, so sehr rechtfertigt es Grenzten II 18L9 27
Das Anwachsen der Großstädte drei Millionen Einwohner mehr hat als Babylon zur Zeit seiner höchsten Aber wie helfen? Es ist ja nicht zu verkennen, daß die freie Ein¬ So hoch die Freizügigkeit an sich zu schätzen ist, so sehr rechtfertigt es Grenzten II 18L9 27
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0217" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/204948"/> <fw type="header" place="top"> Das Anwachsen der Großstädte</fw><lb/> <p xml:id="ID_555" prev="#ID_554"> drei Millionen Einwohner mehr hat als Babylon zur Zeit seiner höchsten<lb/> Blüte unter Nebukadnezar, das kann keinem ernsten Beobachter entgehen.<lb/> Riehl (Land und Leute) sagte schon 1861 in drastischer Weise: „Die gesunde<lb/> Eigenart Altenglands wird in London begraben, Paris ist das ewig eiternde<lb/> Geschwür Frankreichs", und China nennt er „als Urheimat der einförmig zeutrali-<lb/> sirten unermeßlichen Großstädte, überhaupt den Orient, das Land der poli¬<lb/> tischen und sozialen Erstarrung." — „Die Herrschaft der Großstädte wird<lb/> zuletzt gleichbedeutend werden mit der Herrschaft des Proletariats."</p><lb/> <p xml:id="ID_556"> Aber wie helfen? Es ist ja nicht zu verkennen, daß die freie Ein¬<lb/> wanderung in Städte für die begabteren, zum Kampfe ums Dasein von Natur<lb/> gerüsteteren Menschen große Vorteile bietet, indem leichtere Arbeit, größere Unge-<lb/> bundenheit des Lebens, die verschiedenartigste Arbeits- und Erwerbsgelegenheit eine<lb/> schnellere und bessere Verwertung der Arbeitskraft und leichteres Fortkommen<lb/> und Gedeihen verheißen. Aber wie wenig wirklich unternehmende Köpfe siegen<lb/> thatsächlich in diesem Getriebe, und wie gefährlich ist für die gewissenloseren<lb/> der Antrieb, sich in den Großstädten zu sammeln, wo nur auf Diebs- und<lb/> sonstige Verbrecherbanden, auf das gefährliche Gesindel der Louis?c. stoßen,<lb/> während die große Ueberzahl der auf harte Arbeit angewiesenen Menschen, die<lb/> Durchschnittsmenschen, dem raschen Pulse des großstädtischen Lebens nicht zu<lb/> folgen vermögen, zurückbleiben, zur Seite geworfen werden und einem Nvmadeu-<lb/> tnm verfallen!</p><lb/> <p xml:id="ID_557" next="#ID_558"> So hoch die Freizügigkeit an sich zu schätzen ist, so sehr rechtfertigt es<lb/> sich also doch, an Beschränkungen für deu besonderen Fall zu denken, da,<lb/> wie Adolf Wagner sagt, die meisten Menschen Mittelschlag sind. Er empfiehlt<lb/> zur Verminderung der Überspekulation und der Krisen zunächst eine ge-<lb/> meinwirtschafliche Organisation der Volkswirtschaft (Verstaatlichung der Ver¬<lb/> kehrsanstalten, Vermeidung der Konzentration aller obersten Behörden und<lb/> starke Arbeitermassen beschäftigender Produktionsbetriebe in den Hauptstädten),<lb/> dann Reformen im privatwirtschaftlichen System besonders in den Be¬<lb/> ziehungen zwischen Arbeitern und Arbeitgebern, in der Gewerbeverfassung<lb/> und im Armenpflegerecht; also Überwälzuug der Folgen der Freizügigkeit<lb/> auf Arbeitgeber und Arbeiter, namentlich in der Armenlast und in Für¬<lb/> sorge für Arbeiterwohnungen, dann Einengung des Aktiengesellschaftswesens<lb/> und sonstige „retardirende Gewichte." Ein wichtiger Schritt ist hierin schon in<lb/> der Kranken-, Unfall- und bald wohl auch in der Alters- und Jnvnliditätsver-<lb/> sicherung des Deutschen Reiches geschehen. Von unmittelbaren Beschränkungen<lb/> empfiehlt Wagner zunächst die Verlängerung der Frist sür Erwerbung des Unter-<lb/> stützungswohnsitzes, der heutzutage im deutschen Reiche (mit Ausnahme Baierns)<lb/> nach zwei Jahren «unterbrochenen, freiwilligen Aufenthaltes im Ortsarmen-<lb/> verbande gewonnen wird. Nach dein deutscheu Freiziigigkeitsgesetze kann eilte<lb/> Gemeinde einen nen anziehenden abweisen, wenn sie nachweisen kann, daß</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzten II 18L9 27</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0217]
Das Anwachsen der Großstädte
drei Millionen Einwohner mehr hat als Babylon zur Zeit seiner höchsten
Blüte unter Nebukadnezar, das kann keinem ernsten Beobachter entgehen.
Riehl (Land und Leute) sagte schon 1861 in drastischer Weise: „Die gesunde
Eigenart Altenglands wird in London begraben, Paris ist das ewig eiternde
Geschwür Frankreichs", und China nennt er „als Urheimat der einförmig zeutrali-
sirten unermeßlichen Großstädte, überhaupt den Orient, das Land der poli¬
tischen und sozialen Erstarrung." — „Die Herrschaft der Großstädte wird
zuletzt gleichbedeutend werden mit der Herrschaft des Proletariats."
Aber wie helfen? Es ist ja nicht zu verkennen, daß die freie Ein¬
wanderung in Städte für die begabteren, zum Kampfe ums Dasein von Natur
gerüsteteren Menschen große Vorteile bietet, indem leichtere Arbeit, größere Unge-
bundenheit des Lebens, die verschiedenartigste Arbeits- und Erwerbsgelegenheit eine
schnellere und bessere Verwertung der Arbeitskraft und leichteres Fortkommen
und Gedeihen verheißen. Aber wie wenig wirklich unternehmende Köpfe siegen
thatsächlich in diesem Getriebe, und wie gefährlich ist für die gewissenloseren
der Antrieb, sich in den Großstädten zu sammeln, wo nur auf Diebs- und
sonstige Verbrecherbanden, auf das gefährliche Gesindel der Louis?c. stoßen,
während die große Ueberzahl der auf harte Arbeit angewiesenen Menschen, die
Durchschnittsmenschen, dem raschen Pulse des großstädtischen Lebens nicht zu
folgen vermögen, zurückbleiben, zur Seite geworfen werden und einem Nvmadeu-
tnm verfallen!
So hoch die Freizügigkeit an sich zu schätzen ist, so sehr rechtfertigt es
sich also doch, an Beschränkungen für deu besonderen Fall zu denken, da,
wie Adolf Wagner sagt, die meisten Menschen Mittelschlag sind. Er empfiehlt
zur Verminderung der Überspekulation und der Krisen zunächst eine ge-
meinwirtschafliche Organisation der Volkswirtschaft (Verstaatlichung der Ver¬
kehrsanstalten, Vermeidung der Konzentration aller obersten Behörden und
starke Arbeitermassen beschäftigender Produktionsbetriebe in den Hauptstädten),
dann Reformen im privatwirtschaftlichen System besonders in den Be¬
ziehungen zwischen Arbeitern und Arbeitgebern, in der Gewerbeverfassung
und im Armenpflegerecht; also Überwälzuug der Folgen der Freizügigkeit
auf Arbeitgeber und Arbeiter, namentlich in der Armenlast und in Für¬
sorge für Arbeiterwohnungen, dann Einengung des Aktiengesellschaftswesens
und sonstige „retardirende Gewichte." Ein wichtiger Schritt ist hierin schon in
der Kranken-, Unfall- und bald wohl auch in der Alters- und Jnvnliditätsver-
sicherung des Deutschen Reiches geschehen. Von unmittelbaren Beschränkungen
empfiehlt Wagner zunächst die Verlängerung der Frist sür Erwerbung des Unter-
stützungswohnsitzes, der heutzutage im deutschen Reiche (mit Ausnahme Baierns)
nach zwei Jahren «unterbrochenen, freiwilligen Aufenthaltes im Ortsarmen-
verbande gewonnen wird. Nach dein deutscheu Freiziigigkeitsgesetze kann eilte
Gemeinde einen nen anziehenden abweisen, wenn sie nachweisen kann, daß
Grenzten II 18L9 27
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