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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Das Anwachsen der Großstädte

(Land und Leute) bezeichnend "riesige Enzyklopädien der Sitte wie der
Kunst und des Gewerbfleißes des ganzen zivilisirten Europas", aber "das
gesunde Gedeihen der bürgerlichen Gesellschaft begehrt das mittlere harmonische
Maß selbst im Wachstum der menschlichen Siedelungen."

Die Wirksamkeit der angeführten gemeinnützigen Anstalten hat nämlich
auch ihre Grenze, während von den Annehmlichkeiten, hauptsächlich aber von
der durch die Großstadt bewirkten Steigerung in den Arbeits- und Erwerbsgelegen¬
heiten leider eine Unmasse Existenzen angelockt werden, die an diesen Vorteilen
wenig oder gar nicht teilnehmen können, dagegen entweder in Elend nud Ent¬
behrung ein jammervolles Dasein führen, von Tag zu Tag vergeblich ans
Besserung oder plötzliche Glücksfälle hoffend, oder gar in unredlicher Weise
um ihre Existenz ringen: die Großstadt tauscht dagegen das Elend, ver¬
dorbene Luft, verkommene Sitten, Unsicherheit, Krankheiten und Epidemien
aller Art ein und kann den Zuzüglern doch nicht Ersatz für den Erwerb
verschaffen, den sie ans dem Lande, wenn auch in bescheidener Art, gefunden
hätten. Je mehr sich die Großstadt über das natürliche Verhältnis
ausdehnt, desto schwieriger wird insbesondere die entsprechende Befriedigung
der sanitären Aufgaben wie die Sorge für genügende Krankcuhilfe, Armeu-
verpflcgung, Kaualisirung, Totenbestattung, Abfuhr der Auswurfstoffe, Be¬
kämpfung von Epidemien; insbesondere werden die Wohnungsverhältnisse der
zahlreichsten ärmsten Klasse immer ""genügender, indem -- wie die Statistik
zeigt -- die Vermehrung der kleinen Wohnungen in keinem Verhältnisse zu
der Vermehrung der Bevölkerung in diesen Städten steht, so daß aus Mangel
an genügendem Angebot die hohen Mietpreise dieser kleinen Wohnungen zu
unerträglichen Verhältnissen, namentlich zu der Einrichtung der Schlaflente
und zur Nberfüllung führen (Ludwig Fuld, Die Wvhnnngsnot der ärmeren
Klaffen, in den deutschen Zeit- und Streitfragen 188!>, Heft 47).

Betrachtet man, namentlich im Sommer, von einer benachbarten Höhe
den Dunstkreis einer solchen Großstadt, so schaudert es einen vor dem Brodem
von Staub und Rauch, den die großstädtischen Lungen einatmen, besonders
die Lungen derer, die in einer solchen Stadt die heiße Zeit verleben müssen.

Wie sehr aber der durchschnittliche Wohlstand in diesen Städten abnimmt,
zeigt sich z. B. selbst in dein sonst so behäbigen Frankfurt a. M., wo im
Jahre 1846 nur die Hälfte der Familien, im Jahre 1888 schon 66 Prozent
von ihnen ohne Dienstboten bleiben mußten, sich in dieser wichtigen Beziehung
daher nicht über die ländlichen Familien erheben konnten, die doch ohne Dienst¬
boten weit behaglicher durchkommen, als die unbemittelten Bewohner der
Großstadt in ihren meistenteils unbequemen und ganz entlegenen Quartieren.

In welcher Progression alle diese Mißstände in den Millionenstädten zu¬
nehmen, und wie sehr man unwillkürlich an das Schicksal Babhlons gemahnt
wird, wenn man z. B. das Anwachsen von London betrachtet, das jetzt schon


Das Anwachsen der Großstädte

(Land und Leute) bezeichnend „riesige Enzyklopädien der Sitte wie der
Kunst und des Gewerbfleißes des ganzen zivilisirten Europas", aber „das
gesunde Gedeihen der bürgerlichen Gesellschaft begehrt das mittlere harmonische
Maß selbst im Wachstum der menschlichen Siedelungen."

Die Wirksamkeit der angeführten gemeinnützigen Anstalten hat nämlich
auch ihre Grenze, während von den Annehmlichkeiten, hauptsächlich aber von
der durch die Großstadt bewirkten Steigerung in den Arbeits- und Erwerbsgelegen¬
heiten leider eine Unmasse Existenzen angelockt werden, die an diesen Vorteilen
wenig oder gar nicht teilnehmen können, dagegen entweder in Elend nud Ent¬
behrung ein jammervolles Dasein führen, von Tag zu Tag vergeblich ans
Besserung oder plötzliche Glücksfälle hoffend, oder gar in unredlicher Weise
um ihre Existenz ringen: die Großstadt tauscht dagegen das Elend, ver¬
dorbene Luft, verkommene Sitten, Unsicherheit, Krankheiten und Epidemien
aller Art ein und kann den Zuzüglern doch nicht Ersatz für den Erwerb
verschaffen, den sie ans dem Lande, wenn auch in bescheidener Art, gefunden
hätten. Je mehr sich die Großstadt über das natürliche Verhältnis
ausdehnt, desto schwieriger wird insbesondere die entsprechende Befriedigung
der sanitären Aufgaben wie die Sorge für genügende Krankcuhilfe, Armeu-
verpflcgung, Kaualisirung, Totenbestattung, Abfuhr der Auswurfstoffe, Be¬
kämpfung von Epidemien; insbesondere werden die Wohnungsverhältnisse der
zahlreichsten ärmsten Klasse immer »»genügender, indem — wie die Statistik
zeigt — die Vermehrung der kleinen Wohnungen in keinem Verhältnisse zu
der Vermehrung der Bevölkerung in diesen Städten steht, so daß aus Mangel
an genügendem Angebot die hohen Mietpreise dieser kleinen Wohnungen zu
unerträglichen Verhältnissen, namentlich zu der Einrichtung der Schlaflente
und zur Nberfüllung führen (Ludwig Fuld, Die Wvhnnngsnot der ärmeren
Klaffen, in den deutschen Zeit- und Streitfragen 188!>, Heft 47).

Betrachtet man, namentlich im Sommer, von einer benachbarten Höhe
den Dunstkreis einer solchen Großstadt, so schaudert es einen vor dem Brodem
von Staub und Rauch, den die großstädtischen Lungen einatmen, besonders
die Lungen derer, die in einer solchen Stadt die heiße Zeit verleben müssen.

Wie sehr aber der durchschnittliche Wohlstand in diesen Städten abnimmt,
zeigt sich z. B. selbst in dein sonst so behäbigen Frankfurt a. M., wo im
Jahre 1846 nur die Hälfte der Familien, im Jahre 1888 schon 66 Prozent
von ihnen ohne Dienstboten bleiben mußten, sich in dieser wichtigen Beziehung
daher nicht über die ländlichen Familien erheben konnten, die doch ohne Dienst¬
boten weit behaglicher durchkommen, als die unbemittelten Bewohner der
Großstadt in ihren meistenteils unbequemen und ganz entlegenen Quartieren.

In welcher Progression alle diese Mißstände in den Millionenstädten zu¬
nehmen, und wie sehr man unwillkürlich an das Schicksal Babhlons gemahnt
wird, wenn man z. B. das Anwachsen von London betrachtet, das jetzt schon


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[0216] Das Anwachsen der Großstädte (Land und Leute) bezeichnend „riesige Enzyklopädien der Sitte wie der Kunst und des Gewerbfleißes des ganzen zivilisirten Europas", aber „das gesunde Gedeihen der bürgerlichen Gesellschaft begehrt das mittlere harmonische Maß selbst im Wachstum der menschlichen Siedelungen." Die Wirksamkeit der angeführten gemeinnützigen Anstalten hat nämlich auch ihre Grenze, während von den Annehmlichkeiten, hauptsächlich aber von der durch die Großstadt bewirkten Steigerung in den Arbeits- und Erwerbsgelegen¬ heiten leider eine Unmasse Existenzen angelockt werden, die an diesen Vorteilen wenig oder gar nicht teilnehmen können, dagegen entweder in Elend nud Ent¬ behrung ein jammervolles Dasein führen, von Tag zu Tag vergeblich ans Besserung oder plötzliche Glücksfälle hoffend, oder gar in unredlicher Weise um ihre Existenz ringen: die Großstadt tauscht dagegen das Elend, ver¬ dorbene Luft, verkommene Sitten, Unsicherheit, Krankheiten und Epidemien aller Art ein und kann den Zuzüglern doch nicht Ersatz für den Erwerb verschaffen, den sie ans dem Lande, wenn auch in bescheidener Art, gefunden hätten. Je mehr sich die Großstadt über das natürliche Verhältnis ausdehnt, desto schwieriger wird insbesondere die entsprechende Befriedigung der sanitären Aufgaben wie die Sorge für genügende Krankcuhilfe, Armeu- verpflcgung, Kaualisirung, Totenbestattung, Abfuhr der Auswurfstoffe, Be¬ kämpfung von Epidemien; insbesondere werden die Wohnungsverhältnisse der zahlreichsten ärmsten Klasse immer »»genügender, indem — wie die Statistik zeigt — die Vermehrung der kleinen Wohnungen in keinem Verhältnisse zu der Vermehrung der Bevölkerung in diesen Städten steht, so daß aus Mangel an genügendem Angebot die hohen Mietpreise dieser kleinen Wohnungen zu unerträglichen Verhältnissen, namentlich zu der Einrichtung der Schlaflente und zur Nberfüllung führen (Ludwig Fuld, Die Wvhnnngsnot der ärmeren Klaffen, in den deutschen Zeit- und Streitfragen 188!>, Heft 47). Betrachtet man, namentlich im Sommer, von einer benachbarten Höhe den Dunstkreis einer solchen Großstadt, so schaudert es einen vor dem Brodem von Staub und Rauch, den die großstädtischen Lungen einatmen, besonders die Lungen derer, die in einer solchen Stadt die heiße Zeit verleben müssen. Wie sehr aber der durchschnittliche Wohlstand in diesen Städten abnimmt, zeigt sich z. B. selbst in dein sonst so behäbigen Frankfurt a. M., wo im Jahre 1846 nur die Hälfte der Familien, im Jahre 1888 schon 66 Prozent von ihnen ohne Dienstboten bleiben mußten, sich in dieser wichtigen Beziehung daher nicht über die ländlichen Familien erheben konnten, die doch ohne Dienst¬ boten weit behaglicher durchkommen, als die unbemittelten Bewohner der Großstadt in ihren meistenteils unbequemen und ganz entlegenen Quartieren. In welcher Progression alle diese Mißstände in den Millionenstädten zu¬ nehmen, und wie sehr man unwillkürlich an das Schicksal Babhlons gemahnt wird, wenn man z. B. das Anwachsen von London betrachtet, das jetzt schon

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/216>, abgerufen am 05.02.2025.