Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

auszusprechen, erwiesen hat. Es darf zu Worte kommen, weil es die Macht
dazu hat, das Können, in Ermangelung dessen die meisten Menschen lieber "in
ihrer Qual verstummen", als daß sie dem, was sie innerlich bewegt, einen un¬
passenden, mißverständlichen und deshalb vielleicht sie kompromittirenden Aus¬
druck gaben. Um so freudiger stimmen sie dann dem bei, der für sie mitspricht,
indem er sein Innerstes enthüllt, denn in ihrem tiefsten Wesen sind die Menschen
ja alle derselbe eine Mensch. Ist so einmal die trennende Schranke, die das
eine Ich von dem andern sondert, aufgehoben, hat der Hörende in dem
Sprechenden sich selbst in seiner eigensten, wahrsten, vollendetsten Gestalt wieder¬
erkannt, dann kann der Dichter seines erhabenen Berufes freudig walten, unsers
Dankes gewiß sein.

Solche Allgewalt der Sympathie ergreift uns auch, wenn wir uns mit
dem vorliegenden Büchlein näher vertraut machen. Wir möchten der Verfasserin
das Vorurteil abbitten, das der erste Eindruck ihres Auftretens bei uns er¬
weckte, und wissen es ihr nun doppelt Dank, daß sie die ihrem Geschlechte
anhaftende Scheu, sich öffentlich auszusprechen, als Dichterin überwunden hat.
Erfahren wir doch durch sie, wie tief, wie rein, wie zart ein Frauenherz fühlt,
wie ernst sie es mit der Liebe nimmt, wie so ganz sie aufgeht in der heiligen,
opferfreudigen Empfindung für den Mann ihrer Wahl. Und als ihn der un¬
erbittliche Tod ihr genommen, welche unendlich rührenden Töne findet sie da,
um ihren Schmerz zu schildern. Eine ergreifendere Totenklage ist wohl nie
aus dem Munde eines Weibes erklungen, als in jenem , unter der Gesamt¬
überschrift "Asphodill" vereinigten Gedichten. Freilich ist es die tiefste Ver¬
zweiflung allein, die hier zum Ausdruck gelangt; aber der Schrei des Schmerzes
hat in der Poesie so gut sein Recht wie das Aufjubeln der Lust, und das
Heraussage" der innern Pein führt uns um ersten zur Entsagung und endlich
M jenem befreienden "Stirb und werde!", ohne das der Mensch doch immer
uur "ein trüber Gast ans der dunkeln Erde" bleiben muß.

Gleiche Wahrheit und Tiefe der Empfindung offenbart die Verfasserin,
Wo sie sich zu andern Gebieten des Seelenlebens wendet oder die Darstellung
objektiver parabolischer und legendärer Vorgänge unternimmt. Vielleicht bleibt
w einzelnen dieser Gedichte der tiefere Sinn zu sehr hinter der eigentlichen
Schilderung verborgen, wiewohl diese ihrerseits stets ein Muster von Klarheit
und Anschaulichkeit ist. Vielleicht auch befriedigt uns das, was uns als geistiges
Fazit geboten wird, nicht immer; denn es ist ein Unterschied, ob eine augen¬
blicklich subjektive Stimmung formulirt erscheint, oder ob uns eine auf Reflexion
beruhende und allgeureine Giltigkeit beanspruchende Wahrheit im poetischen
Gewände vorgeführt werden soll.

Als die Perle dieser Gedichte möchten wir das als "indische Legende"
bezeichnete "Die Büßer" betrachten. Der feine, graziöse Humor, der auch
manches der andern Gedichte wie mit einem goldigen Firnis überzieht, verbindet


auszusprechen, erwiesen hat. Es darf zu Worte kommen, weil es die Macht
dazu hat, das Können, in Ermangelung dessen die meisten Menschen lieber „in
ihrer Qual verstummen", als daß sie dem, was sie innerlich bewegt, einen un¬
passenden, mißverständlichen und deshalb vielleicht sie kompromittirenden Aus¬
druck gaben. Um so freudiger stimmen sie dann dem bei, der für sie mitspricht,
indem er sein Innerstes enthüllt, denn in ihrem tiefsten Wesen sind die Menschen
ja alle derselbe eine Mensch. Ist so einmal die trennende Schranke, die das
eine Ich von dem andern sondert, aufgehoben, hat der Hörende in dem
Sprechenden sich selbst in seiner eigensten, wahrsten, vollendetsten Gestalt wieder¬
erkannt, dann kann der Dichter seines erhabenen Berufes freudig walten, unsers
Dankes gewiß sein.

Solche Allgewalt der Sympathie ergreift uns auch, wenn wir uns mit
dem vorliegenden Büchlein näher vertraut machen. Wir möchten der Verfasserin
das Vorurteil abbitten, das der erste Eindruck ihres Auftretens bei uns er¬
weckte, und wissen es ihr nun doppelt Dank, daß sie die ihrem Geschlechte
anhaftende Scheu, sich öffentlich auszusprechen, als Dichterin überwunden hat.
Erfahren wir doch durch sie, wie tief, wie rein, wie zart ein Frauenherz fühlt,
wie ernst sie es mit der Liebe nimmt, wie so ganz sie aufgeht in der heiligen,
opferfreudigen Empfindung für den Mann ihrer Wahl. Und als ihn der un¬
erbittliche Tod ihr genommen, welche unendlich rührenden Töne findet sie da,
um ihren Schmerz zu schildern. Eine ergreifendere Totenklage ist wohl nie
aus dem Munde eines Weibes erklungen, als in jenem , unter der Gesamt¬
überschrift „Asphodill" vereinigten Gedichten. Freilich ist es die tiefste Ver¬
zweiflung allein, die hier zum Ausdruck gelangt; aber der Schrei des Schmerzes
hat in der Poesie so gut sein Recht wie das Aufjubeln der Lust, und das
Heraussage» der innern Pein führt uns um ersten zur Entsagung und endlich
M jenem befreienden „Stirb und werde!", ohne das der Mensch doch immer
uur „ein trüber Gast ans der dunkeln Erde" bleiben muß.

Gleiche Wahrheit und Tiefe der Empfindung offenbart die Verfasserin,
Wo sie sich zu andern Gebieten des Seelenlebens wendet oder die Darstellung
objektiver parabolischer und legendärer Vorgänge unternimmt. Vielleicht bleibt
w einzelnen dieser Gedichte der tiefere Sinn zu sehr hinter der eigentlichen
Schilderung verborgen, wiewohl diese ihrerseits stets ein Muster von Klarheit
und Anschaulichkeit ist. Vielleicht auch befriedigt uns das, was uns als geistiges
Fazit geboten wird, nicht immer; denn es ist ein Unterschied, ob eine augen¬
blicklich subjektive Stimmung formulirt erscheint, oder ob uns eine auf Reflexion
beruhende und allgeureine Giltigkeit beanspruchende Wahrheit im poetischen
Gewände vorgeführt werden soll.

Als die Perle dieser Gedichte möchten wir das als „indische Legende"
bezeichnete „Die Büßer" betrachten. Der feine, graziöse Humor, der auch
manches der andern Gedichte wie mit einem goldigen Firnis überzieht, verbindet


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0099" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/204188"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_301" prev="#ID_300"> auszusprechen, erwiesen hat. Es darf zu Worte kommen, weil es die Macht<lb/>
dazu hat, das Können, in Ermangelung dessen die meisten Menschen lieber &#x201E;in<lb/>
ihrer Qual verstummen", als daß sie dem, was sie innerlich bewegt, einen un¬<lb/>
passenden, mißverständlichen und deshalb vielleicht sie kompromittirenden Aus¬<lb/>
druck gaben. Um so freudiger stimmen sie dann dem bei, der für sie mitspricht,<lb/>
indem er sein Innerstes enthüllt, denn in ihrem tiefsten Wesen sind die Menschen<lb/>
ja alle derselbe eine Mensch. Ist so einmal die trennende Schranke, die das<lb/>
eine Ich von dem andern sondert, aufgehoben, hat der Hörende in dem<lb/>
Sprechenden sich selbst in seiner eigensten, wahrsten, vollendetsten Gestalt wieder¬<lb/>
erkannt, dann kann der Dichter seines erhabenen Berufes freudig walten, unsers<lb/>
Dankes gewiß sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_302"> Solche Allgewalt der Sympathie ergreift uns auch, wenn wir uns mit<lb/>
dem vorliegenden Büchlein näher vertraut machen. Wir möchten der Verfasserin<lb/>
das Vorurteil abbitten, das der erste Eindruck ihres Auftretens bei uns er¬<lb/>
weckte, und wissen es ihr nun doppelt Dank, daß sie die ihrem Geschlechte<lb/>
anhaftende Scheu, sich öffentlich auszusprechen, als Dichterin überwunden hat.<lb/>
Erfahren wir doch durch sie, wie tief, wie rein, wie zart ein Frauenherz fühlt,<lb/>
wie ernst sie es mit der Liebe nimmt, wie so ganz sie aufgeht in der heiligen,<lb/>
opferfreudigen Empfindung für den Mann ihrer Wahl. Und als ihn der un¬<lb/>
erbittliche Tod ihr genommen, welche unendlich rührenden Töne findet sie da,<lb/>
um ihren Schmerz zu schildern. Eine ergreifendere Totenklage ist wohl nie<lb/>
aus dem Munde eines Weibes erklungen, als in jenem , unter der Gesamt¬<lb/>
überschrift &#x201E;Asphodill" vereinigten Gedichten. Freilich ist es die tiefste Ver¬<lb/>
zweiflung allein, die hier zum Ausdruck gelangt; aber der Schrei des Schmerzes<lb/>
hat in der Poesie so gut sein Recht wie das Aufjubeln der Lust, und das<lb/>
Heraussage» der innern Pein führt uns um ersten zur Entsagung und endlich<lb/>
M jenem befreienden &#x201E;Stirb und werde!", ohne das der Mensch doch immer<lb/>
uur &#x201E;ein trüber Gast ans der dunkeln Erde" bleiben muß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_303"> Gleiche Wahrheit und Tiefe der Empfindung offenbart die Verfasserin,<lb/>
Wo sie sich zu andern Gebieten des Seelenlebens wendet oder die Darstellung<lb/>
objektiver parabolischer und legendärer Vorgänge unternimmt. Vielleicht bleibt<lb/>
w einzelnen dieser Gedichte der tiefere Sinn zu sehr hinter der eigentlichen<lb/>
Schilderung verborgen, wiewohl diese ihrerseits stets ein Muster von Klarheit<lb/>
und Anschaulichkeit ist. Vielleicht auch befriedigt uns das, was uns als geistiges<lb/>
Fazit geboten wird, nicht immer; denn es ist ein Unterschied, ob eine augen¬<lb/>
blicklich subjektive Stimmung formulirt erscheint, oder ob uns eine auf Reflexion<lb/>
beruhende und allgeureine Giltigkeit beanspruchende Wahrheit im poetischen<lb/>
Gewände vorgeführt werden soll.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_304" next="#ID_305"> Als die Perle dieser Gedichte möchten wir das als &#x201E;indische Legende"<lb/>
bezeichnete &#x201E;Die Büßer" betrachten. Der feine, graziöse Humor, der auch<lb/>
manches der andern Gedichte wie mit einem goldigen Firnis überzieht, verbindet</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0099] auszusprechen, erwiesen hat. Es darf zu Worte kommen, weil es die Macht dazu hat, das Können, in Ermangelung dessen die meisten Menschen lieber „in ihrer Qual verstummen", als daß sie dem, was sie innerlich bewegt, einen un¬ passenden, mißverständlichen und deshalb vielleicht sie kompromittirenden Aus¬ druck gaben. Um so freudiger stimmen sie dann dem bei, der für sie mitspricht, indem er sein Innerstes enthüllt, denn in ihrem tiefsten Wesen sind die Menschen ja alle derselbe eine Mensch. Ist so einmal die trennende Schranke, die das eine Ich von dem andern sondert, aufgehoben, hat der Hörende in dem Sprechenden sich selbst in seiner eigensten, wahrsten, vollendetsten Gestalt wieder¬ erkannt, dann kann der Dichter seines erhabenen Berufes freudig walten, unsers Dankes gewiß sein. Solche Allgewalt der Sympathie ergreift uns auch, wenn wir uns mit dem vorliegenden Büchlein näher vertraut machen. Wir möchten der Verfasserin das Vorurteil abbitten, das der erste Eindruck ihres Auftretens bei uns er¬ weckte, und wissen es ihr nun doppelt Dank, daß sie die ihrem Geschlechte anhaftende Scheu, sich öffentlich auszusprechen, als Dichterin überwunden hat. Erfahren wir doch durch sie, wie tief, wie rein, wie zart ein Frauenherz fühlt, wie ernst sie es mit der Liebe nimmt, wie so ganz sie aufgeht in der heiligen, opferfreudigen Empfindung für den Mann ihrer Wahl. Und als ihn der un¬ erbittliche Tod ihr genommen, welche unendlich rührenden Töne findet sie da, um ihren Schmerz zu schildern. Eine ergreifendere Totenklage ist wohl nie aus dem Munde eines Weibes erklungen, als in jenem , unter der Gesamt¬ überschrift „Asphodill" vereinigten Gedichten. Freilich ist es die tiefste Ver¬ zweiflung allein, die hier zum Ausdruck gelangt; aber der Schrei des Schmerzes hat in der Poesie so gut sein Recht wie das Aufjubeln der Lust, und das Heraussage» der innern Pein führt uns um ersten zur Entsagung und endlich M jenem befreienden „Stirb und werde!", ohne das der Mensch doch immer uur „ein trüber Gast ans der dunkeln Erde" bleiben muß. Gleiche Wahrheit und Tiefe der Empfindung offenbart die Verfasserin, Wo sie sich zu andern Gebieten des Seelenlebens wendet oder die Darstellung objektiver parabolischer und legendärer Vorgänge unternimmt. Vielleicht bleibt w einzelnen dieser Gedichte der tiefere Sinn zu sehr hinter der eigentlichen Schilderung verborgen, wiewohl diese ihrerseits stets ein Muster von Klarheit und Anschaulichkeit ist. Vielleicht auch befriedigt uns das, was uns als geistiges Fazit geboten wird, nicht immer; denn es ist ein Unterschied, ob eine augen¬ blicklich subjektive Stimmung formulirt erscheint, oder ob uns eine auf Reflexion beruhende und allgeureine Giltigkeit beanspruchende Wahrheit im poetischen Gewände vorgeführt werden soll. Als die Perle dieser Gedichte möchten wir das als „indische Legende" bezeichnete „Die Büßer" betrachten. Der feine, graziöse Humor, der auch manches der andern Gedichte wie mit einem goldigen Firnis überzieht, verbindet

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/99
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/99>, abgerufen am 29.06.2024.