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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Gedichte von Isolde Kurz

die Frauen und Jungfrauen auf diesen Gebieten so überraschend fruchtbar, auf
dem der Lyrik hingegen so zurückhaltend sind, darüber lassen sich mancherlei
Vermutungen aufstellen. Wir wollen hier nur die eine Nächstliegende zur
Sprache bringen.

Das Weib steht nun einmal mehr unter der Sitte befangen, als der Mann.
Und die Sitte legt dem Weibe eine große Zurückhaltung anf, verwehrt ihm
besonders, seinen Liebesempfindungen einen entsprechenden Ausdruck in Worten
zu geben, ja verlangt von ihm geradezu in diesem Punkte Verhehlung und
Verstellung.

Nun ist freilich das sogenannte "lyrische Ich" ein ganz ander Ding, als
das wirkliche Ich. Es beansprucht eine gewisse Allgemeinheit und stellt sich
dar als eine Art erdichteter Person, wenn es auch uicht gerade als solche be¬
zeichnet wird. Diese ist als der Träger der Empfindung gedacht; sie hat auch
für die kleinen Schwächen auszukommen, die der Autor notgedrungen enthüllen
muß. Und man verzeiht dieser erdichteten Person auch so mauches, was mau
einer wirklichen nicht so leicht nachsehen würde. Das lyrische Ich hat ein
Recht, sich über viele bürgerliche Schranken zu erheben, sich in einen standes¬
amtlichen Naturzustand hineinzuträumen, in dein alles erlaubt ist, was gefällt.
Man gönnt dem armen lyrischen Ich, das sich gelegentlich auch als ein recht
gequältes, unseliges Ding darstellt, man gönnt ihm zur Eutschüdigung für seine
vielen Leiden sogar hin und wieder ein kleines Bacchanal -- es kostet ja nichts --,
und der griesgrämiger Leute, die den Hornzen nud Bvrangers ihre ille¬
gitimen Flammen ernstlich zum Vorwurfe machen, werden immer weniger.

Immerhin giebts aber noch solche. Und ferner läßt sich nicht in Abrede
stellen, daß das lyrische Ich, so sehr es sich auch in den meisten Dingen zu
seinem Vorteile von der Privatperson des Dichters ablöst, mit der letztern doch
immer noch in einem ziemlich nahen verwandtschaftlichen Verhältnisse steht, in¬
folge dessen es gewissermaßen für die Familienehre mit verantwortlich gemacht
werden kann. Jedenfalls bleiben das lyrische und das wirkliche Ich einerlei
Geschlechtes, und so mag es wohl kommen, daß die Frau durch die im Leben
ihr aufgezwungene Zurückhaltung auch abgehalten wird, in der Dichtung ihren
Herzensempfindungen einen allzu offenen Ausdruck zu geben.

Wie dem auch sei, es hat für uns immer etwas Befremdliches, vielleicht
sogar Peinliches, wenn wir ein weibliches Wesen mit der Lyra im Arm ein¬
herschreiten sehen und von ihm Bekenntnisse zu hören bekommen, die von dem
zarteren Geschlecht sonst wohl nur unter vier Augen oder auch gar nicht ab¬
gelegt werden. Und dieses Gefühl beschleicht uns auch bei der ersten Bekannt¬
schaft mit den kürzlich erschienenen Gedichten von Isolde Kurz (Frauenfeld,
Verlag von I. Huber, 1888), freilich, um sehr bald andern Gefühlen Platz
zu machen, vor allem denen des Staunens und der Bewunderung. Denn es
ist ein großes, sieghaftes Talent, das hier seine volle Berechtigung, sich poetisch


Gedichte von Isolde Kurz

die Frauen und Jungfrauen auf diesen Gebieten so überraschend fruchtbar, auf
dem der Lyrik hingegen so zurückhaltend sind, darüber lassen sich mancherlei
Vermutungen aufstellen. Wir wollen hier nur die eine Nächstliegende zur
Sprache bringen.

Das Weib steht nun einmal mehr unter der Sitte befangen, als der Mann.
Und die Sitte legt dem Weibe eine große Zurückhaltung anf, verwehrt ihm
besonders, seinen Liebesempfindungen einen entsprechenden Ausdruck in Worten
zu geben, ja verlangt von ihm geradezu in diesem Punkte Verhehlung und
Verstellung.

Nun ist freilich das sogenannte „lyrische Ich" ein ganz ander Ding, als
das wirkliche Ich. Es beansprucht eine gewisse Allgemeinheit und stellt sich
dar als eine Art erdichteter Person, wenn es auch uicht gerade als solche be¬
zeichnet wird. Diese ist als der Träger der Empfindung gedacht; sie hat auch
für die kleinen Schwächen auszukommen, die der Autor notgedrungen enthüllen
muß. Und man verzeiht dieser erdichteten Person auch so mauches, was mau
einer wirklichen nicht so leicht nachsehen würde. Das lyrische Ich hat ein
Recht, sich über viele bürgerliche Schranken zu erheben, sich in einen standes¬
amtlichen Naturzustand hineinzuträumen, in dein alles erlaubt ist, was gefällt.
Man gönnt dem armen lyrischen Ich, das sich gelegentlich auch als ein recht
gequältes, unseliges Ding darstellt, man gönnt ihm zur Eutschüdigung für seine
vielen Leiden sogar hin und wieder ein kleines Bacchanal — es kostet ja nichts —,
und der griesgrämiger Leute, die den Hornzen nud Bvrangers ihre ille¬
gitimen Flammen ernstlich zum Vorwurfe machen, werden immer weniger.

Immerhin giebts aber noch solche. Und ferner läßt sich nicht in Abrede
stellen, daß das lyrische Ich, so sehr es sich auch in den meisten Dingen zu
seinem Vorteile von der Privatperson des Dichters ablöst, mit der letztern doch
immer noch in einem ziemlich nahen verwandtschaftlichen Verhältnisse steht, in¬
folge dessen es gewissermaßen für die Familienehre mit verantwortlich gemacht
werden kann. Jedenfalls bleiben das lyrische und das wirkliche Ich einerlei
Geschlechtes, und so mag es wohl kommen, daß die Frau durch die im Leben
ihr aufgezwungene Zurückhaltung auch abgehalten wird, in der Dichtung ihren
Herzensempfindungen einen allzu offenen Ausdruck zu geben.

Wie dem auch sei, es hat für uns immer etwas Befremdliches, vielleicht
sogar Peinliches, wenn wir ein weibliches Wesen mit der Lyra im Arm ein¬
herschreiten sehen und von ihm Bekenntnisse zu hören bekommen, die von dem
zarteren Geschlecht sonst wohl nur unter vier Augen oder auch gar nicht ab¬
gelegt werden. Und dieses Gefühl beschleicht uns auch bei der ersten Bekannt¬
schaft mit den kürzlich erschienenen Gedichten von Isolde Kurz (Frauenfeld,
Verlag von I. Huber, 1888), freilich, um sehr bald andern Gefühlen Platz
zu machen, vor allem denen des Staunens und der Bewunderung. Denn es
ist ein großes, sieghaftes Talent, das hier seine volle Berechtigung, sich poetisch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/98>, abgerufen am 28.09.2024.