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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Gedichte von Isolde Kurz

sich hier mit dem berückenden Zauber einer naiven Sinnlichkeit; auch klingt
das Ganze in der versöhnlichsten Stimmung aus. Hingegen will uns ein
andres Gedicht, "Weltgericht", nicht nur das umfänglichste, sondern auch nach
Form und Inhalt vielleicht das bedeutendste der Sammlung, nicht recht an¬
muten, da ihm trotz seiner ebenfalls humoristischen Färbung, trotz des fast
übermütigen Tones, in dem es gehalten ist, doch eine beinahe erschreckend
pessimistische Weltanschauung zu Grunde liegt, oder vielmehr, um richtiger zu
sprechen, eine sich fälschlich mit dem Pessimismus identifizirende verbitterte
und trostlose Gemütsverfassung. Der wirkliche, echte Pessimismus an sich hat
nämlich mit einer solchen Verbitterung und Trostlosigkeit, überhaupt mit einer
Stimmung, eigentlich nichts zu thun. Weder ist er das Ergebnis einer solchen,
wie manche behaupten, denn er verdankt sein Dasein lediglich einer Verstandes¬
operation; noch hat er eine gewisse Stimmung notwendig zur Folge, am aller¬
wenigsten eine Verstimmung. Im Gegenteil; da den Pessimisten seine Über¬
zeugung vor einer Menge von Illusionen und infolgedessen auch vor Ent¬
täuschungen bewahrt; da er auf alles gefaßt ist und nichts erwartet, wird
er leicht zu der gleichmäßigen, sorglosen Grundstimmung gelangen, die Goethe
so reizend geschildert hat in seinem Liede:


Ich hab mein Seins auf nichts gestellt;
Juchhe!
Drum ist so wohl mir in der Welt;
Juchhe!

Warum sollte auch selbst der eingefleischteste Pessimist sich z. B. eine gut ge¬
bratene Gans nicht schmecken lassen, wenn er sonst einen gesunden Magen hat
und Gänsebraten liebt? II us taut Mag.is risn nöAli^gr as sou Mihir,
xg-roeaus 1s. vis 68t tristö, sagt Voltaire.

Aber nicht nur eine solche, immerhin den Stürmen des Lebens nicht hin¬
reichend Stand haltende fidele Genügsamkeit gestattet der Pessimismus seinen
Bekennern, er vermag sie sogar wirklich über die Leiden des irdischen Daseins
zu erheben, indem er zur Vorstufe eines wahrhaft und auf die Dauer beglückenden
Zustandes wird. Da der menschliche Geist in der bloßen Negation -- und eine
solche ist ja der Pessimismus -- nur schwer verharren kann, und sein Glückselig-
keits- und Erkenntnistrieb sich bei der Vorstellung einer Welt des Leidens nicht
beruhigt, so führt ihn gerade die Verzichtleistung auf diese Welt leicht zur selb¬
ständigen Schöpfung einer andern, in der ihm das gewährt wird, was er bis
dahin vergeblich gesucht hat. Ihren energischen und zugleich bis jetzt voll¬
endetsten Ausdruck fand dieses Bedürfnis -- "Postulat" nennt es Kant --
des menschlichen Geistes in der Thatsache des Christentums, das einer unsrer
hervorragendsten Religionsphilosophen daher ganz richtig als einen Versuch
bezeichnet, den Optimismus mit dem Pessimismus zu vereinigen. Daß in
dieser Vereinigung der Pessimismus nach und nach zusammenschmelzen und


Gedichte von Isolde Kurz

sich hier mit dem berückenden Zauber einer naiven Sinnlichkeit; auch klingt
das Ganze in der versöhnlichsten Stimmung aus. Hingegen will uns ein
andres Gedicht, „Weltgericht", nicht nur das umfänglichste, sondern auch nach
Form und Inhalt vielleicht das bedeutendste der Sammlung, nicht recht an¬
muten, da ihm trotz seiner ebenfalls humoristischen Färbung, trotz des fast
übermütigen Tones, in dem es gehalten ist, doch eine beinahe erschreckend
pessimistische Weltanschauung zu Grunde liegt, oder vielmehr, um richtiger zu
sprechen, eine sich fälschlich mit dem Pessimismus identifizirende verbitterte
und trostlose Gemütsverfassung. Der wirkliche, echte Pessimismus an sich hat
nämlich mit einer solchen Verbitterung und Trostlosigkeit, überhaupt mit einer
Stimmung, eigentlich nichts zu thun. Weder ist er das Ergebnis einer solchen,
wie manche behaupten, denn er verdankt sein Dasein lediglich einer Verstandes¬
operation; noch hat er eine gewisse Stimmung notwendig zur Folge, am aller¬
wenigsten eine Verstimmung. Im Gegenteil; da den Pessimisten seine Über¬
zeugung vor einer Menge von Illusionen und infolgedessen auch vor Ent¬
täuschungen bewahrt; da er auf alles gefaßt ist und nichts erwartet, wird
er leicht zu der gleichmäßigen, sorglosen Grundstimmung gelangen, die Goethe
so reizend geschildert hat in seinem Liede:


Ich hab mein Seins auf nichts gestellt;
Juchhe!
Drum ist so wohl mir in der Welt;
Juchhe!

Warum sollte auch selbst der eingefleischteste Pessimist sich z. B. eine gut ge¬
bratene Gans nicht schmecken lassen, wenn er sonst einen gesunden Magen hat
und Gänsebraten liebt? II us taut Mag.is risn nöAli^gr as sou Mihir,
xg-roeaus 1s. vis 68t tristö, sagt Voltaire.

Aber nicht nur eine solche, immerhin den Stürmen des Lebens nicht hin¬
reichend Stand haltende fidele Genügsamkeit gestattet der Pessimismus seinen
Bekennern, er vermag sie sogar wirklich über die Leiden des irdischen Daseins
zu erheben, indem er zur Vorstufe eines wahrhaft und auf die Dauer beglückenden
Zustandes wird. Da der menschliche Geist in der bloßen Negation — und eine
solche ist ja der Pessimismus — nur schwer verharren kann, und sein Glückselig-
keits- und Erkenntnistrieb sich bei der Vorstellung einer Welt des Leidens nicht
beruhigt, so führt ihn gerade die Verzichtleistung auf diese Welt leicht zur selb¬
ständigen Schöpfung einer andern, in der ihm das gewährt wird, was er bis
dahin vergeblich gesucht hat. Ihren energischen und zugleich bis jetzt voll¬
endetsten Ausdruck fand dieses Bedürfnis — „Postulat" nennt es Kant —
des menschlichen Geistes in der Thatsache des Christentums, das einer unsrer
hervorragendsten Religionsphilosophen daher ganz richtig als einen Versuch
bezeichnet, den Optimismus mit dem Pessimismus zu vereinigen. Daß in
dieser Vereinigung der Pessimismus nach und nach zusammenschmelzen und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/100>, abgerufen am 28.09.2024.