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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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seine eiserne Energie bis zum Deichgrafen, also zum Herrscher seines Heimats¬
ortes gebracht hat, ein Mensch, der seinen Willen nicht bloß andern Menschen
siegreich entgegengestellt, sondern auch den Elementen der Natur den Meister
gezeigt hat, und das alles mit den redlichsten Mitteln, in ehrlicher Arbeit, in
klarem, zielbewußtem Streben. Man konnte diesen tüchtigen Renlisten, der sein
ganzes Dasein der Idee gewidmet hat, dem Meere neues Land zum Schutze
und zum Nutzen der Heimat abzugewinnen, mit dem alten Faust vergleiche",
wenn ihn nicht die einzige Leidenschaft, die ihn beseelt, von dem Goethischen
Idealmenschen trennte, nämlich der Ehrgeiz. Faust ist weder eitel, noch ehr¬
geizig, Faust sucht wirklich in reinstem Drange nach Wahrheit und Seligkeit;
Storms Held ist die verkörperte Leidenschaft des Ehrgeizes. Als der große
Damm, durch den Hänke Haien dem Meer ein neues Stück Land (Koog) ab¬
gewinnen wollte, und den er in langen Nächten ausgesonnen und in gewaltiger
Energie, mit Beherrschung großer Menschenmassen aufgerichtet hatte, endlich
in aller Schönheit dastand -- es war um die Mitte des achtzehnten Jahr¬
hunderts --, da hatte der Deichgrnf nur uoch einen Schmerz, daß sein Lebens¬
werk nicht auf deu Namen des Erbauers, sondern auf den einer königlichen
Prinzessin, Elisabeth Charlotte, getauft wurde, gemäß der Sitte der Zeit. Aber
er sollte seine Genugthuung haben. Zwei Arbeiter gehen auf dem neuen Lande
an Hänke vorbei, und aus ihrem Gespräch entnimmt er, daß seine Schöpfung
im Volksmunde der "Hänke-Haien-Koog" heiße, und nicht nach der amtlichen
Bezeichnung. Diesen Charakter leidenschaftlichen Ehrgeizes und der auf ein
einziges bestimmtes Ziel gerichteten Thatkraft hat Storm mit ebensoviel Liebe
als Genie gestaltet. Die Tiefen und die Höhen der Menschennatur hat der
Dichter dabei durchmessen; die Pathologie einer-, und die Religion anderseits
einer solchen starken Individualität hat er bedacht, zuweilen nur mit einem
einzigen Zuge gezeichnet, und die künstlerische Anschauung, die sich dabei offen¬
bart, ist gleich weit vom romantischen Idealismus wie vom rohen Naturalis¬
mus, sie ist wahr und poetisch in jeder Zeile, denn sie will gar nichts andres
als einen Menschen in möglichster Lebendigkeit darstellen.

Mit der Jugendgeschichte, die auch äußerlich durch einen Abschnitt von
der eigentlichen Erzählung des Schimmelreiters geschieden ist, giebt Storm
gleichsam eine Exposition des Charakters seines Helden. Der Knabe Hänke
ist ein frühreifes Kind. Vom Vater hat er das in jener Marschgegend häufige
Talent für die Mathematik geerbt. Ohne Hilfe studirt er den Euklid; das
Hindernis der holländischen Sprache, in der das zufällig aufgefundene Buch
geschrieben ist, schreckt ihn nicht ab, er lernt die fremde Sprache, um deu
Euklid zu verstehen. Dem Vater sind diese wissenschaftlichen Neigungen des
Sohnes wegen der Armut unbequem; indem er ihm um so mehr körperliche
Arbeit aufbürdet, gedenkt er ihn abzulenken. Aber Hänke bewältigt beides.
In den Abendstunden geht er auf den Deich und beobachtet den Wellenschlag


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seine eiserne Energie bis zum Deichgrafen, also zum Herrscher seines Heimats¬
ortes gebracht hat, ein Mensch, der seinen Willen nicht bloß andern Menschen
siegreich entgegengestellt, sondern auch den Elementen der Natur den Meister
gezeigt hat, und das alles mit den redlichsten Mitteln, in ehrlicher Arbeit, in
klarem, zielbewußtem Streben. Man konnte diesen tüchtigen Renlisten, der sein
ganzes Dasein der Idee gewidmet hat, dem Meere neues Land zum Schutze
und zum Nutzen der Heimat abzugewinnen, mit dem alten Faust vergleiche»,
wenn ihn nicht die einzige Leidenschaft, die ihn beseelt, von dem Goethischen
Idealmenschen trennte, nämlich der Ehrgeiz. Faust ist weder eitel, noch ehr¬
geizig, Faust sucht wirklich in reinstem Drange nach Wahrheit und Seligkeit;
Storms Held ist die verkörperte Leidenschaft des Ehrgeizes. Als der große
Damm, durch den Hänke Haien dem Meer ein neues Stück Land (Koog) ab¬
gewinnen wollte, und den er in langen Nächten ausgesonnen und in gewaltiger
Energie, mit Beherrschung großer Menschenmassen aufgerichtet hatte, endlich
in aller Schönheit dastand — es war um die Mitte des achtzehnten Jahr¬
hunderts —, da hatte der Deichgrnf nur uoch einen Schmerz, daß sein Lebens¬
werk nicht auf deu Namen des Erbauers, sondern auf den einer königlichen
Prinzessin, Elisabeth Charlotte, getauft wurde, gemäß der Sitte der Zeit. Aber
er sollte seine Genugthuung haben. Zwei Arbeiter gehen auf dem neuen Lande
an Hänke vorbei, und aus ihrem Gespräch entnimmt er, daß seine Schöpfung
im Volksmunde der „Hänke-Haien-Koog" heiße, und nicht nach der amtlichen
Bezeichnung. Diesen Charakter leidenschaftlichen Ehrgeizes und der auf ein
einziges bestimmtes Ziel gerichteten Thatkraft hat Storm mit ebensoviel Liebe
als Genie gestaltet. Die Tiefen und die Höhen der Menschennatur hat der
Dichter dabei durchmessen; die Pathologie einer-, und die Religion anderseits
einer solchen starken Individualität hat er bedacht, zuweilen nur mit einem
einzigen Zuge gezeichnet, und die künstlerische Anschauung, die sich dabei offen¬
bart, ist gleich weit vom romantischen Idealismus wie vom rohen Naturalis¬
mus, sie ist wahr und poetisch in jeder Zeile, denn sie will gar nichts andres
als einen Menschen in möglichster Lebendigkeit darstellen.

Mit der Jugendgeschichte, die auch äußerlich durch einen Abschnitt von
der eigentlichen Erzählung des Schimmelreiters geschieden ist, giebt Storm
gleichsam eine Exposition des Charakters seines Helden. Der Knabe Hänke
ist ein frühreifes Kind. Vom Vater hat er das in jener Marschgegend häufige
Talent für die Mathematik geerbt. Ohne Hilfe studirt er den Euklid; das
Hindernis der holländischen Sprache, in der das zufällig aufgefundene Buch
geschrieben ist, schreckt ihn nicht ab, er lernt die fremde Sprache, um deu
Euklid zu verstehen. Dem Vater sind diese wissenschaftlichen Neigungen des
Sohnes wegen der Armut unbequem; indem er ihm um so mehr körperliche
Arbeit aufbürdet, gedenkt er ihn abzulenken. Aber Hänke bewältigt beides.
In den Abendstunden geht er auf den Deich und beobachtet den Wellenschlag


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/92>, abgerufen am 28.09.2024.