Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
?osturrtÄ

So wird einigemale der dichte Nebel an der Meeresküste geschildert, Möven
mit weitausgespreizten Flügeln fliegen hindurch, und die Phantasie des
Volkes schafft aus den Schatten, die da sichtbar werden, die merkwürdigsten
Gebilde. Der Erzähler bekämpft nachdrücklich diese Meinung. Oder ein
altes Weib berichtet von Meerweibern, die sie selbst gesehen haben will;
man wirft ihr dies als Lüge vor, da wird sie ganz wild, daß man ihren
"Onkel" einen Lügner Schimpfe -- in der Unruhe des bösen Gewissens hat sie
nämlich die erste Behauptung, selbst mit dabei gewesen zu sein, vergessen, sie
schiebt einen Onkel als Zeugen vor und gerät in sittliche Entrüstung nicht
darüber, daß sie gelogen haben soll, sondern daß man den Onkel beleidige.
Das ist einer der feinsten Züge der Geschichte. Ein andermal sehen wir,
wie die Sage vom märchenhaften Schimmel entsteht. Im Mondenschein stehen
zwei junge Knechte an der Küste; da glänzt es silbern, magisch fesselnd die Hallig
herüber, und plötzlich glauben die Knechte, ein Roß darauf grasen zu sehen.
Das ist doch ein Wunder! Sie find tapfer genug, sich mit eignen Augen vou
der Wirklichkeit des Bildes überzeugen zu wollen; der eine Knecht rudert hin¬
über, während ihn und das Roß der andre zurückbleibende beobachtet. Aber
merkwürdig! der Hinüberfahrende findet kein Pferd auf der Insel, mit seiner
Peitsche scheucht er nur Vögel auf, die am Gerippe eines längst gefallenen
Pferdes sich gesammelt haben; der zurückgebliebene Knecht aber hat das grasende
Roß keinen Augenblick aus dem Gesichte verloren. Nun kehrt der andre zurück,
die gespenstische Erscheinung ist ihm von hier aus wieder sichtbar, und nnn
glaubt auch er an den Schimmel, obgleich er mit eignen Augen die Sache
untersucht hat! Auf die Möglichkeit einer optischen Täuschung verfällt er
begreiflicherweise nicht. Und dieser Schimmel ist natürlich kein andrer als der
des Deichgrafen Hänke Halms, des Schimmelreiters, der feinem Heimatsorte
viel zu schaffen gab. Denn in den Besitz seines merkwürdig feurigen Rosses
rann Hänke Haien auch auf ungewöhnliche Weife. Ein Landstreicher hatte ihm
das abgemagerte hinkende Roß zufällig auf der Straße für 30 Thaler angeboten,
und in feiner guten Laune hatte er das junge Tier gekauft. Zur eignen freudigen
Verwunderung sah der Deichgraf das Pferd in seinem Stalle bei der sorgfältigen
Behandlung gedeihen, und seltsamerweise gelang es ihm ausschließlich, es zu
besteigen, jeden andern Reiter warf es ab. Hänke liebte es dafür um so mehr.
Aber seitdem soll der gespenstige Schimmel auf der Hallig verschwunden sein.

Doch alle diese ebenso geistreichen als poetischen Motive treten vor der
Lebensfülle und künstlerischen Vollendung, mit der die Gestalt des Helden der
Novelle, des Deichgrafen Hänke Haien gezeichnet ist, zurück. Ganz im Gegensatz
den träumerisch verzichtenden Helden der Jugendwerke Storms ist dieser
Schimmelreiter ein Mann der That vom Scheitel bis zur Sohle, ein Mensch,
dem es bei zäher Ausdauer gelungen ist, die kühnsten Träume seiner Jugend
SU verwirklichen, der es vom armseligen Kleinknecht dnrch nichts andres als


?osturrtÄ

So wird einigemale der dichte Nebel an der Meeresküste geschildert, Möven
mit weitausgespreizten Flügeln fliegen hindurch, und die Phantasie des
Volkes schafft aus den Schatten, die da sichtbar werden, die merkwürdigsten
Gebilde. Der Erzähler bekämpft nachdrücklich diese Meinung. Oder ein
altes Weib berichtet von Meerweibern, die sie selbst gesehen haben will;
man wirft ihr dies als Lüge vor, da wird sie ganz wild, daß man ihren
„Onkel" einen Lügner Schimpfe — in der Unruhe des bösen Gewissens hat sie
nämlich die erste Behauptung, selbst mit dabei gewesen zu sein, vergessen, sie
schiebt einen Onkel als Zeugen vor und gerät in sittliche Entrüstung nicht
darüber, daß sie gelogen haben soll, sondern daß man den Onkel beleidige.
Das ist einer der feinsten Züge der Geschichte. Ein andermal sehen wir,
wie die Sage vom märchenhaften Schimmel entsteht. Im Mondenschein stehen
zwei junge Knechte an der Küste; da glänzt es silbern, magisch fesselnd die Hallig
herüber, und plötzlich glauben die Knechte, ein Roß darauf grasen zu sehen.
Das ist doch ein Wunder! Sie find tapfer genug, sich mit eignen Augen vou
der Wirklichkeit des Bildes überzeugen zu wollen; der eine Knecht rudert hin¬
über, während ihn und das Roß der andre zurückbleibende beobachtet. Aber
merkwürdig! der Hinüberfahrende findet kein Pferd auf der Insel, mit seiner
Peitsche scheucht er nur Vögel auf, die am Gerippe eines längst gefallenen
Pferdes sich gesammelt haben; der zurückgebliebene Knecht aber hat das grasende
Roß keinen Augenblick aus dem Gesichte verloren. Nun kehrt der andre zurück,
die gespenstische Erscheinung ist ihm von hier aus wieder sichtbar, und nnn
glaubt auch er an den Schimmel, obgleich er mit eignen Augen die Sache
untersucht hat! Auf die Möglichkeit einer optischen Täuschung verfällt er
begreiflicherweise nicht. Und dieser Schimmel ist natürlich kein andrer als der
des Deichgrafen Hänke Halms, des Schimmelreiters, der feinem Heimatsorte
viel zu schaffen gab. Denn in den Besitz seines merkwürdig feurigen Rosses
rann Hänke Haien auch auf ungewöhnliche Weife. Ein Landstreicher hatte ihm
das abgemagerte hinkende Roß zufällig auf der Straße für 30 Thaler angeboten,
und in feiner guten Laune hatte er das junge Tier gekauft. Zur eignen freudigen
Verwunderung sah der Deichgraf das Pferd in seinem Stalle bei der sorgfältigen
Behandlung gedeihen, und seltsamerweise gelang es ihm ausschließlich, es zu
besteigen, jeden andern Reiter warf es ab. Hänke liebte es dafür um so mehr.
Aber seitdem soll der gespenstige Schimmel auf der Hallig verschwunden sein.

Doch alle diese ebenso geistreichen als poetischen Motive treten vor der
Lebensfülle und künstlerischen Vollendung, mit der die Gestalt des Helden der
Novelle, des Deichgrafen Hänke Haien gezeichnet ist, zurück. Ganz im Gegensatz
den träumerisch verzichtenden Helden der Jugendwerke Storms ist dieser
Schimmelreiter ein Mann der That vom Scheitel bis zur Sohle, ein Mensch,
dem es bei zäher Ausdauer gelungen ist, die kühnsten Träume seiner Jugend
SU verwirklichen, der es vom armseligen Kleinknecht dnrch nichts andres als


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0091" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/204180"/>
          <fw type="header" place="top"> ?osturrtÄ</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_283" prev="#ID_282"> So wird einigemale der dichte Nebel an der Meeresküste geschildert, Möven<lb/>
mit weitausgespreizten Flügeln fliegen hindurch, und die Phantasie des<lb/>
Volkes schafft aus den Schatten, die da sichtbar werden, die merkwürdigsten<lb/>
Gebilde. Der Erzähler bekämpft nachdrücklich diese Meinung. Oder ein<lb/>
altes Weib berichtet von Meerweibern, die sie selbst gesehen haben will;<lb/>
man wirft ihr dies als Lüge vor, da wird sie ganz wild, daß man ihren<lb/>
&#x201E;Onkel" einen Lügner Schimpfe &#x2014; in der Unruhe des bösen Gewissens hat sie<lb/>
nämlich die erste Behauptung, selbst mit dabei gewesen zu sein, vergessen, sie<lb/>
schiebt einen Onkel als Zeugen vor und gerät in sittliche Entrüstung nicht<lb/>
darüber, daß sie gelogen haben soll, sondern daß man den Onkel beleidige.<lb/>
Das ist einer der feinsten Züge der Geschichte. Ein andermal sehen wir,<lb/>
wie die Sage vom märchenhaften Schimmel entsteht. Im Mondenschein stehen<lb/>
zwei junge Knechte an der Küste; da glänzt es silbern, magisch fesselnd die Hallig<lb/>
herüber, und plötzlich glauben die Knechte, ein Roß darauf grasen zu sehen.<lb/>
Das ist doch ein Wunder! Sie find tapfer genug, sich mit eignen Augen vou<lb/>
der Wirklichkeit des Bildes überzeugen zu wollen; der eine Knecht rudert hin¬<lb/>
über, während ihn und das Roß der andre zurückbleibende beobachtet. Aber<lb/>
merkwürdig! der Hinüberfahrende findet kein Pferd auf der Insel, mit seiner<lb/>
Peitsche scheucht er nur Vögel auf, die am Gerippe eines längst gefallenen<lb/>
Pferdes sich gesammelt haben; der zurückgebliebene Knecht aber hat das grasende<lb/>
Roß keinen Augenblick aus dem Gesichte verloren. Nun kehrt der andre zurück,<lb/>
die gespenstische Erscheinung ist ihm von hier aus wieder sichtbar, und nnn<lb/>
glaubt auch er an den Schimmel, obgleich er mit eignen Augen die Sache<lb/>
untersucht hat! Auf die Möglichkeit einer optischen Täuschung verfällt er<lb/>
begreiflicherweise nicht. Und dieser Schimmel ist natürlich kein andrer als der<lb/>
des Deichgrafen Hänke Halms, des Schimmelreiters, der feinem Heimatsorte<lb/>
viel zu schaffen gab. Denn in den Besitz seines merkwürdig feurigen Rosses<lb/>
rann Hänke Haien auch auf ungewöhnliche Weife. Ein Landstreicher hatte ihm<lb/>
das abgemagerte hinkende Roß zufällig auf der Straße für 30 Thaler angeboten,<lb/>
und in feiner guten Laune hatte er das junge Tier gekauft. Zur eignen freudigen<lb/>
Verwunderung sah der Deichgraf das Pferd in seinem Stalle bei der sorgfältigen<lb/>
Behandlung gedeihen, und seltsamerweise gelang es ihm ausschließlich, es zu<lb/>
besteigen, jeden andern Reiter warf es ab. Hänke liebte es dafür um so mehr.<lb/>
Aber seitdem soll der gespenstige Schimmel auf der Hallig verschwunden sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_284" next="#ID_285"> Doch alle diese ebenso geistreichen als poetischen Motive treten vor der<lb/>
Lebensfülle und künstlerischen Vollendung, mit der die Gestalt des Helden der<lb/>
Novelle, des Deichgrafen Hänke Haien gezeichnet ist, zurück.  Ganz im Gegensatz<lb/>
den träumerisch verzichtenden Helden der Jugendwerke Storms ist dieser<lb/>
Schimmelreiter ein Mann der That vom Scheitel bis zur Sohle, ein Mensch,<lb/>
dem es bei zäher Ausdauer gelungen ist, die kühnsten Träume seiner Jugend<lb/>
SU verwirklichen, der es vom armseligen Kleinknecht dnrch nichts andres als</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0091] ?osturrtÄ So wird einigemale der dichte Nebel an der Meeresküste geschildert, Möven mit weitausgespreizten Flügeln fliegen hindurch, und die Phantasie des Volkes schafft aus den Schatten, die da sichtbar werden, die merkwürdigsten Gebilde. Der Erzähler bekämpft nachdrücklich diese Meinung. Oder ein altes Weib berichtet von Meerweibern, die sie selbst gesehen haben will; man wirft ihr dies als Lüge vor, da wird sie ganz wild, daß man ihren „Onkel" einen Lügner Schimpfe — in der Unruhe des bösen Gewissens hat sie nämlich die erste Behauptung, selbst mit dabei gewesen zu sein, vergessen, sie schiebt einen Onkel als Zeugen vor und gerät in sittliche Entrüstung nicht darüber, daß sie gelogen haben soll, sondern daß man den Onkel beleidige. Das ist einer der feinsten Züge der Geschichte. Ein andermal sehen wir, wie die Sage vom märchenhaften Schimmel entsteht. Im Mondenschein stehen zwei junge Knechte an der Küste; da glänzt es silbern, magisch fesselnd die Hallig herüber, und plötzlich glauben die Knechte, ein Roß darauf grasen zu sehen. Das ist doch ein Wunder! Sie find tapfer genug, sich mit eignen Augen vou der Wirklichkeit des Bildes überzeugen zu wollen; der eine Knecht rudert hin¬ über, während ihn und das Roß der andre zurückbleibende beobachtet. Aber merkwürdig! der Hinüberfahrende findet kein Pferd auf der Insel, mit seiner Peitsche scheucht er nur Vögel auf, die am Gerippe eines längst gefallenen Pferdes sich gesammelt haben; der zurückgebliebene Knecht aber hat das grasende Roß keinen Augenblick aus dem Gesichte verloren. Nun kehrt der andre zurück, die gespenstische Erscheinung ist ihm von hier aus wieder sichtbar, und nnn glaubt auch er an den Schimmel, obgleich er mit eignen Augen die Sache untersucht hat! Auf die Möglichkeit einer optischen Täuschung verfällt er begreiflicherweise nicht. Und dieser Schimmel ist natürlich kein andrer als der des Deichgrafen Hänke Halms, des Schimmelreiters, der feinem Heimatsorte viel zu schaffen gab. Denn in den Besitz seines merkwürdig feurigen Rosses rann Hänke Haien auch auf ungewöhnliche Weife. Ein Landstreicher hatte ihm das abgemagerte hinkende Roß zufällig auf der Straße für 30 Thaler angeboten, und in feiner guten Laune hatte er das junge Tier gekauft. Zur eignen freudigen Verwunderung sah der Deichgraf das Pferd in seinem Stalle bei der sorgfältigen Behandlung gedeihen, und seltsamerweise gelang es ihm ausschließlich, es zu besteigen, jeden andern Reiter warf es ab. Hänke liebte es dafür um so mehr. Aber seitdem soll der gespenstige Schimmel auf der Hallig verschwunden sein. Doch alle diese ebenso geistreichen als poetischen Motive treten vor der Lebensfülle und künstlerischen Vollendung, mit der die Gestalt des Helden der Novelle, des Deichgrafen Hänke Haien gezeichnet ist, zurück. Ganz im Gegensatz den träumerisch verzichtenden Helden der Jugendwerke Storms ist dieser Schimmelreiter ein Mann der That vom Scheitel bis zur Sohle, ein Mensch, dem es bei zäher Ausdauer gelungen ist, die kühnsten Träume seiner Jugend SU verwirklichen, der es vom armseligen Kleinknecht dnrch nichts andres als

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/91
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/91>, abgerufen am 26.06.2024.