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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Militärisch-politische Älicke nach Osten

mehrere neue Bahnen gebaut, und andre sehen der Vollendung entgegen, aber
zu einem kräftigen Angriffe bedarf es deren noch weit mehr. Die ganze Anlage
des russischen Eisenbahnnetzes, eines großen Dreiecks, dessen Grundlinie durch
die Städte Petersburg, Moskau, Kursk, Charkow, Rostvw und Odessa be¬
zeichnet ist, dessen andre Linien teils in gerader, teils in schräger Richtung
nach Warschau, Brest-Litewsli und Jwangorod zustreben, und dessen Scheitel¬
punkt in der äußerstem Südwestecke des Reiches, bei Mhslvwitz an der schlesisch-
g alizischen Grenze, den Anschluß an die deutschen und österreichischen Schienen¬
wege erreicht, trägt einen entschiedenen Angriffscharakter. Von Norden, Osten
und Südosten laufen vier Hauptbahnen mit ihren Zweiglinien nach Westen,
von Norden nach Süden sieben Hauptbahnen, ebenfalls mit Zweiglinien. Aber
alle diese Schienenstraßen sind mit Ausnahme der Bahnen Warschau-Peters¬
burg, Warschau, Brest Litewski-Moskau, Petersburg-Moskau, Koslow, Wilna-
Kowno-Ehdtluhnen, Odessa-Rvsdielna-Balta und Rosdielna-Tiraspol ein¬
gleisig, also vergleichsweise wenig leistungsfähig. Ein andrer Übelstand, daß
die russische Spurweite mit 1,525 Meter größer als die des Westens mit
1,435 Meter ist, so daß russisches Betriebsmaterial sich aus deutschen und
österreichischen Bahnen bisher nicht verwenden ließ, ist dadurch einigermaßen
beseitigt worden, daß man einen Teil der Lokomotiven und Wagen so eingerichtet
hat, daß sich ihre Spurweite verstellen läßt. Ferner wirken die großen Entfernungen,
die der Zahl nach ungenügenden Betriebsmittel, ihre häufige Mangelhaftigkeit,
die weitläufige Anlage der Wasserstationen und deren oft geringe Wasser-
vorräte nachtheilig auf die Leistungen des Bahnsystems. Endlich verlangt der
Massenverkehr in einem Kriege mit seiner schnellen Aufeinanderfolge von Zügen
ein in jeder Hinsicht tüchtiges, aufmerksames, nüchternes und pünktliches Bahn-
personal. Der Russe aber ermangelt in der Regel dieser Eigenschaften, und es
sind jetzt nur Russen bei den Bahnen angestellt, so daß es sich sehr fragt,
ob sich dieser Übelstand überhaupt abstellen läßt. Die Übungszüge, die
man zur Schulung der Inspektoren, Lokomotivführer, Schaffner und Weichen¬
steller für regern Verkehr als den gewöhnlichen eingeführt hat, können manches
hieran bessern, aber den Nationalcharakter mit seinem Leichtsinn, seiner Un¬
Pünktlichkeit, seinem geringen Pflichtgefühle und feiner Vorliebe für das be¬
kannte "Wässerlein" schwerlich hinreichend für strammen Eisenbahndienst um¬
gestalten. In Österreich-Ungarn kennt man diese Mängel und Hindernisse
so wenig, wie in Deutschland, dort hat man ein musterhaft angelegtes,
allen Bedürfnissen eines Kriegs entsprechendes Bahnnetz, ein durchaus tüch¬
tiges Personal und Material und infolgedessen einen Betrieb, der auch außer¬
ordentlichen Anforderungen, wie sie ein großer Krieg stellt, zu genügen
vermögen wird.

Rußland bedarf, trotzdem daß viele feiner Regimenter, namentlich die
Kavallerie in der Weichselgegend, schon im Frieden auf Kriegsfuß stehen, bis


Militärisch-politische Älicke nach Osten

mehrere neue Bahnen gebaut, und andre sehen der Vollendung entgegen, aber
zu einem kräftigen Angriffe bedarf es deren noch weit mehr. Die ganze Anlage
des russischen Eisenbahnnetzes, eines großen Dreiecks, dessen Grundlinie durch
die Städte Petersburg, Moskau, Kursk, Charkow, Rostvw und Odessa be¬
zeichnet ist, dessen andre Linien teils in gerader, teils in schräger Richtung
nach Warschau, Brest-Litewsli und Jwangorod zustreben, und dessen Scheitel¬
punkt in der äußerstem Südwestecke des Reiches, bei Mhslvwitz an der schlesisch-
g alizischen Grenze, den Anschluß an die deutschen und österreichischen Schienen¬
wege erreicht, trägt einen entschiedenen Angriffscharakter. Von Norden, Osten
und Südosten laufen vier Hauptbahnen mit ihren Zweiglinien nach Westen,
von Norden nach Süden sieben Hauptbahnen, ebenfalls mit Zweiglinien. Aber
alle diese Schienenstraßen sind mit Ausnahme der Bahnen Warschau-Peters¬
burg, Warschau, Brest Litewski-Moskau, Petersburg-Moskau, Koslow, Wilna-
Kowno-Ehdtluhnen, Odessa-Rvsdielna-Balta und Rosdielna-Tiraspol ein¬
gleisig, also vergleichsweise wenig leistungsfähig. Ein andrer Übelstand, daß
die russische Spurweite mit 1,525 Meter größer als die des Westens mit
1,435 Meter ist, so daß russisches Betriebsmaterial sich aus deutschen und
österreichischen Bahnen bisher nicht verwenden ließ, ist dadurch einigermaßen
beseitigt worden, daß man einen Teil der Lokomotiven und Wagen so eingerichtet
hat, daß sich ihre Spurweite verstellen läßt. Ferner wirken die großen Entfernungen,
die der Zahl nach ungenügenden Betriebsmittel, ihre häufige Mangelhaftigkeit,
die weitläufige Anlage der Wasserstationen und deren oft geringe Wasser-
vorräte nachtheilig auf die Leistungen des Bahnsystems. Endlich verlangt der
Massenverkehr in einem Kriege mit seiner schnellen Aufeinanderfolge von Zügen
ein in jeder Hinsicht tüchtiges, aufmerksames, nüchternes und pünktliches Bahn-
personal. Der Russe aber ermangelt in der Regel dieser Eigenschaften, und es
sind jetzt nur Russen bei den Bahnen angestellt, so daß es sich sehr fragt,
ob sich dieser Übelstand überhaupt abstellen läßt. Die Übungszüge, die
man zur Schulung der Inspektoren, Lokomotivführer, Schaffner und Weichen¬
steller für regern Verkehr als den gewöhnlichen eingeführt hat, können manches
hieran bessern, aber den Nationalcharakter mit seinem Leichtsinn, seiner Un¬
Pünktlichkeit, seinem geringen Pflichtgefühle und feiner Vorliebe für das be¬
kannte „Wässerlein" schwerlich hinreichend für strammen Eisenbahndienst um¬
gestalten. In Österreich-Ungarn kennt man diese Mängel und Hindernisse
so wenig, wie in Deutschland, dort hat man ein musterhaft angelegtes,
allen Bedürfnissen eines Kriegs entsprechendes Bahnnetz, ein durchaus tüch¬
tiges Personal und Material und infolgedessen einen Betrieb, der auch außer¬
ordentlichen Anforderungen, wie sie ein großer Krieg stellt, zu genügen
vermögen wird.

Rußland bedarf, trotzdem daß viele feiner Regimenter, namentlich die
Kavallerie in der Weichselgegend, schon im Frieden auf Kriegsfuß stehen, bis


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[0599] Militärisch-politische Älicke nach Osten mehrere neue Bahnen gebaut, und andre sehen der Vollendung entgegen, aber zu einem kräftigen Angriffe bedarf es deren noch weit mehr. Die ganze Anlage des russischen Eisenbahnnetzes, eines großen Dreiecks, dessen Grundlinie durch die Städte Petersburg, Moskau, Kursk, Charkow, Rostvw und Odessa be¬ zeichnet ist, dessen andre Linien teils in gerader, teils in schräger Richtung nach Warschau, Brest-Litewsli und Jwangorod zustreben, und dessen Scheitel¬ punkt in der äußerstem Südwestecke des Reiches, bei Mhslvwitz an der schlesisch- g alizischen Grenze, den Anschluß an die deutschen und österreichischen Schienen¬ wege erreicht, trägt einen entschiedenen Angriffscharakter. Von Norden, Osten und Südosten laufen vier Hauptbahnen mit ihren Zweiglinien nach Westen, von Norden nach Süden sieben Hauptbahnen, ebenfalls mit Zweiglinien. Aber alle diese Schienenstraßen sind mit Ausnahme der Bahnen Warschau-Peters¬ burg, Warschau, Brest Litewski-Moskau, Petersburg-Moskau, Koslow, Wilna- Kowno-Ehdtluhnen, Odessa-Rvsdielna-Balta und Rosdielna-Tiraspol ein¬ gleisig, also vergleichsweise wenig leistungsfähig. Ein andrer Übelstand, daß die russische Spurweite mit 1,525 Meter größer als die des Westens mit 1,435 Meter ist, so daß russisches Betriebsmaterial sich aus deutschen und österreichischen Bahnen bisher nicht verwenden ließ, ist dadurch einigermaßen beseitigt worden, daß man einen Teil der Lokomotiven und Wagen so eingerichtet hat, daß sich ihre Spurweite verstellen läßt. Ferner wirken die großen Entfernungen, die der Zahl nach ungenügenden Betriebsmittel, ihre häufige Mangelhaftigkeit, die weitläufige Anlage der Wasserstationen und deren oft geringe Wasser- vorräte nachtheilig auf die Leistungen des Bahnsystems. Endlich verlangt der Massenverkehr in einem Kriege mit seiner schnellen Aufeinanderfolge von Zügen ein in jeder Hinsicht tüchtiges, aufmerksames, nüchternes und pünktliches Bahn- personal. Der Russe aber ermangelt in der Regel dieser Eigenschaften, und es sind jetzt nur Russen bei den Bahnen angestellt, so daß es sich sehr fragt, ob sich dieser Übelstand überhaupt abstellen läßt. Die Übungszüge, die man zur Schulung der Inspektoren, Lokomotivführer, Schaffner und Weichen¬ steller für regern Verkehr als den gewöhnlichen eingeführt hat, können manches hieran bessern, aber den Nationalcharakter mit seinem Leichtsinn, seiner Un¬ Pünktlichkeit, seinem geringen Pflichtgefühle und feiner Vorliebe für das be¬ kannte „Wässerlein" schwerlich hinreichend für strammen Eisenbahndienst um¬ gestalten. In Österreich-Ungarn kennt man diese Mängel und Hindernisse so wenig, wie in Deutschland, dort hat man ein musterhaft angelegtes, allen Bedürfnissen eines Kriegs entsprechendes Bahnnetz, ein durchaus tüch¬ tiges Personal und Material und infolgedessen einen Betrieb, der auch außer¬ ordentlichen Anforderungen, wie sie ein großer Krieg stellt, zu genügen vermögen wird. Rußland bedarf, trotzdem daß viele feiner Regimenter, namentlich die Kavallerie in der Weichselgegend, schon im Frieden auf Kriegsfuß stehen, bis

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/599>, abgerufen am 29.06.2024.