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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Litteratur

Titelblatt setzt, beschränken sich auf die Ausnutzung vorhandener Schriften von
Oettinger, Hans Blum u, a, über die tolle Gräfin, ans ganz unmaßgebliche Mit¬
teilungen alter Dienstboten derselben und schließlich auf drei sehr ärmliche Briefe,
die der sächsische Minister Einsiedel mit seinem Gesandten um Wiener Hofe, Graf
v, d, Schulenburg, 1818 wegen der Gräfin gewechselt hat. Von ihrem Nachlaß
an Erinnerungen und Tagebüchern weiß Wilsdorf so wenig wie seine Vorgänger
zu erzählen. Er bringt nicht einen einzigen neuen Zug in das Charakterbild der
dunkeln Dame. Wozu also der Lärm? Wir würden von der Begabung des
Verfassers eine höhere Meinung bekommen haben, wenn er den nahe liegenden
Versuch gemacht hätte,, auf eigne Faust das Rätsel ihres Lebens zu lösen, etwa in
Gestalt eines Romans. Dazu gehört aber mehr Begabung als zu der vorliegenden
Kompilation. Es ist bezeichnend für unsre Zeit des Kultus der Thatsachen, daß
so häusig uicht uach dem Werte gefundner Briefe gefragt wird, sondern daß man
sich bloß an dem Altertum derselben genügen läßt. Das allein macht aber noch
lange keine Geschichtsquelle aus.


Leibeigen. Novellen von G. von Beaulieu. Dresden und Leipzig, E- Picrsons Ver¬
lag, 1LL9

Wir glauben nicht zu irren, wenn wir annehmen, daß der Verfasser dieser
Novellen noch jung sei, oder daß sie, da er schon vor mehreren Jahren mit Reise¬
schilderungen aus Spanien herausgetreten ist, aus seiner jungen Zeit stammen.
Wir schließen dies daraus, daß er es liebt, in seiner Erzählung über Poesie zu
reden und sogar uach Art der verschollenen Romantik über die Gestalten der
Dichtung vom litterarischen Standpunkte andre Gestalten reflektiren läßt. Es hat
dies immer den Nachteil, den Leser aus der unbefangenen Täuschung aufzustören,
und er fragt: Wozu spielt der Dichter mit mir? oder will er mich, einem Rezen¬
senten vorgreifend, selbst ans den ästhetischen Wert seiner Erfindungen aufmerksam
macheu? Er hätte auch gut gethan, die öftere Erwähnung eines lebenden Schrift¬
stellers (Major v. Zobeltitz) in der ersten Novelle "Ihm gleich" zu vermeiden;
auch dies erscheint uns nicht geschmackvoll. Uebrigens erscheint uns das dichterische
Talent Bccmlieus die mittlere Begabung nicht zu überschreiten. Man verspürt
keinen Hauch einer originalen Persönlichkeit, mau sieht keine besondre Technik, auch
das Gefühl für Wahrscheinlichkeit ist nicht sehr entwickelt, Beaulieu hat den recht
familienblattfähigcn Hang zur farblosen Versöhnlichkeit; in beiden Novellen, von
denen eine in Deutschland, die andre nach oft kopirten Mustern Paul Heyses in
Umbrien spielt, wird just in der gespanntesten Lage, wo sich Leidenschaften und
Schicksale tragisch entfalten könnten, Kehrt gemacht, um die schwachen Herzen nicht
zu verletzen. Am hübschesten sind in beiden Novellen die humoristischen Neben¬
figuren gelungen. Der Titel "Leibeigen" ist für beide Fälle wenig zutreffend.
Aber er klingt.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grnnow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grnnow in Leipzig -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Litteratur

Titelblatt setzt, beschränken sich auf die Ausnutzung vorhandener Schriften von
Oettinger, Hans Blum u, a, über die tolle Gräfin, ans ganz unmaßgebliche Mit¬
teilungen alter Dienstboten derselben und schließlich auf drei sehr ärmliche Briefe,
die der sächsische Minister Einsiedel mit seinem Gesandten um Wiener Hofe, Graf
v, d, Schulenburg, 1818 wegen der Gräfin gewechselt hat. Von ihrem Nachlaß
an Erinnerungen und Tagebüchern weiß Wilsdorf so wenig wie seine Vorgänger
zu erzählen. Er bringt nicht einen einzigen neuen Zug in das Charakterbild der
dunkeln Dame. Wozu also der Lärm? Wir würden von der Begabung des
Verfassers eine höhere Meinung bekommen haben, wenn er den nahe liegenden
Versuch gemacht hätte,, auf eigne Faust das Rätsel ihres Lebens zu lösen, etwa in
Gestalt eines Romans. Dazu gehört aber mehr Begabung als zu der vorliegenden
Kompilation. Es ist bezeichnend für unsre Zeit des Kultus der Thatsachen, daß
so häusig uicht uach dem Werte gefundner Briefe gefragt wird, sondern daß man
sich bloß an dem Altertum derselben genügen läßt. Das allein macht aber noch
lange keine Geschichtsquelle aus.


Leibeigen. Novellen von G. von Beaulieu. Dresden und Leipzig, E- Picrsons Ver¬
lag, 1LL9

Wir glauben nicht zu irren, wenn wir annehmen, daß der Verfasser dieser
Novellen noch jung sei, oder daß sie, da er schon vor mehreren Jahren mit Reise¬
schilderungen aus Spanien herausgetreten ist, aus seiner jungen Zeit stammen.
Wir schließen dies daraus, daß er es liebt, in seiner Erzählung über Poesie zu
reden und sogar uach Art der verschollenen Romantik über die Gestalten der
Dichtung vom litterarischen Standpunkte andre Gestalten reflektiren läßt. Es hat
dies immer den Nachteil, den Leser aus der unbefangenen Täuschung aufzustören,
und er fragt: Wozu spielt der Dichter mit mir? oder will er mich, einem Rezen¬
senten vorgreifend, selbst ans den ästhetischen Wert seiner Erfindungen aufmerksam
macheu? Er hätte auch gut gethan, die öftere Erwähnung eines lebenden Schrift¬
stellers (Major v. Zobeltitz) in der ersten Novelle „Ihm gleich" zu vermeiden;
auch dies erscheint uns nicht geschmackvoll. Uebrigens erscheint uns das dichterische
Talent Bccmlieus die mittlere Begabung nicht zu überschreiten. Man verspürt
keinen Hauch einer originalen Persönlichkeit, mau sieht keine besondre Technik, auch
das Gefühl für Wahrscheinlichkeit ist nicht sehr entwickelt, Beaulieu hat den recht
familienblattfähigcn Hang zur farblosen Versöhnlichkeit; in beiden Novellen, von
denen eine in Deutschland, die andre nach oft kopirten Mustern Paul Heyses in
Umbrien spielt, wird just in der gespanntesten Lage, wo sich Leidenschaften und
Schicksale tragisch entfalten könnten, Kehrt gemacht, um die schwachen Herzen nicht
zu verletzen. Am hübschesten sind in beiden Novellen die humoristischen Neben¬
figuren gelungen. Der Titel „Leibeigen" ist für beide Fälle wenig zutreffend.
Aber er klingt.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grnnow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grnnow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0592] Litteratur Titelblatt setzt, beschränken sich auf die Ausnutzung vorhandener Schriften von Oettinger, Hans Blum u, a, über die tolle Gräfin, ans ganz unmaßgebliche Mit¬ teilungen alter Dienstboten derselben und schließlich auf drei sehr ärmliche Briefe, die der sächsische Minister Einsiedel mit seinem Gesandten um Wiener Hofe, Graf v, d, Schulenburg, 1818 wegen der Gräfin gewechselt hat. Von ihrem Nachlaß an Erinnerungen und Tagebüchern weiß Wilsdorf so wenig wie seine Vorgänger zu erzählen. Er bringt nicht einen einzigen neuen Zug in das Charakterbild der dunkeln Dame. Wozu also der Lärm? Wir würden von der Begabung des Verfassers eine höhere Meinung bekommen haben, wenn er den nahe liegenden Versuch gemacht hätte,, auf eigne Faust das Rätsel ihres Lebens zu lösen, etwa in Gestalt eines Romans. Dazu gehört aber mehr Begabung als zu der vorliegenden Kompilation. Es ist bezeichnend für unsre Zeit des Kultus der Thatsachen, daß so häusig uicht uach dem Werte gefundner Briefe gefragt wird, sondern daß man sich bloß an dem Altertum derselben genügen läßt. Das allein macht aber noch lange keine Geschichtsquelle aus. Leibeigen. Novellen von G. von Beaulieu. Dresden und Leipzig, E- Picrsons Ver¬ lag, 1LL9 Wir glauben nicht zu irren, wenn wir annehmen, daß der Verfasser dieser Novellen noch jung sei, oder daß sie, da er schon vor mehreren Jahren mit Reise¬ schilderungen aus Spanien herausgetreten ist, aus seiner jungen Zeit stammen. Wir schließen dies daraus, daß er es liebt, in seiner Erzählung über Poesie zu reden und sogar uach Art der verschollenen Romantik über die Gestalten der Dichtung vom litterarischen Standpunkte andre Gestalten reflektiren läßt. Es hat dies immer den Nachteil, den Leser aus der unbefangenen Täuschung aufzustören, und er fragt: Wozu spielt der Dichter mit mir? oder will er mich, einem Rezen¬ senten vorgreifend, selbst ans den ästhetischen Wert seiner Erfindungen aufmerksam macheu? Er hätte auch gut gethan, die öftere Erwähnung eines lebenden Schrift¬ stellers (Major v. Zobeltitz) in der ersten Novelle „Ihm gleich" zu vermeiden; auch dies erscheint uns nicht geschmackvoll. Uebrigens erscheint uns das dichterische Talent Bccmlieus die mittlere Begabung nicht zu überschreiten. Man verspürt keinen Hauch einer originalen Persönlichkeit, mau sieht keine besondre Technik, auch das Gefühl für Wahrscheinlichkeit ist nicht sehr entwickelt, Beaulieu hat den recht familienblattfähigcn Hang zur farblosen Versöhnlichkeit; in beiden Novellen, von denen eine in Deutschland, die andre nach oft kopirten Mustern Paul Heyses in Umbrien spielt, wird just in der gespanntesten Lage, wo sich Leidenschaften und Schicksale tragisch entfalten könnten, Kehrt gemacht, um die schwachen Herzen nicht zu verletzen. Am hübschesten sind in beiden Novellen die humoristischen Neben¬ figuren gelungen. Der Titel „Leibeigen" ist für beide Fälle wenig zutreffend. Aber er klingt. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grnnow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grnnow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/592>, abgerufen am 29.06.2024.