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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Grillparzer und seine Jugendtraum

wahlverwandt waren; aber das Rätsel, das sie ihm psychologisch boten, wollte
er lösen, darum besuchte er sie. Bekannt ist, daß seine berühmtesten Frauen¬
gestalten Sappho, Melitta, Hero nach solchen Modellen geschaffen worden sind.
Die wirkungsvollsten dramatischen Züge hat der Dichter dem Leben abgelauscht.
Als Hero dem Leander, der sie in der Nacht überfallen hat, den Kuß nicht
mehr versagen will, stellt sie vorerst die Lampe auf den Boden, sie solls nicht
sehen, meint sie, und küßt den Geliebten. Das hat der Dichter selbst erlebt.
Mit seinen Frauen hat Grillparzer den Triumph seiner Kunst gefeiert. Im
Gegensatz zu seinen schwachen Männern, die alle am Überwuchern der Reflexion
leiden, sind es leidenschaftliche, ungebrvchne Charaktere, naive Nautren: Hero,
Esther, Eruy, Kunigunde, Berthci, Rahel, Kreusa, Medea. Kein Dichter konnte
ein tiefres Bewußtsein vom Wesen der Naivetät haben, als gerade der, der
persönlich so wenig naiv war und so leidenschaftlich als Künstler nach Natur
und Klarheit und Anschaulichkeit und Handlung rang. Ist Grillparzer oft
ein herber Realist, wenn er Männercharaktere schildert, so ist er Idealist in
der Gestaltung seiner Frauen. Nur eine einzige Mannesgestalt ist so liebens¬
würdig, so sicher in sich selbst beruhend, so mutig ohne den geringsten Ge¬
danken an sich selbst, so tapfer und so klug geraten wie die Hero, das ist der
Küchenjunge Leon, mit dem, nach Volkelts geistreicher Bemerkung, Grillparzer
ganz aus sich selbst herausgetreten zu sein scheint, um der Welt zu zeigen,
was für ein Prachtmensch er hätte sein können, wenn ihm nur einige Tropfen
leichtern Blutes wären beigemengt worden.

Wie nun? wenn wir nachweisen könnten, daß es bei Grillparzer eine Zeit
gegeben hat, wo er in der That dem Küchenjungen Leon näher stand als dem
grübelnden Bischof Gregor, wo sich jene reiche poetische Welt, die er in sich
trug, wesentlich von der unterschied, die wir hier in Umrissen gezeichnet haben?
Wie, wenn wir plötzlich einen Grillparzer vor uns sähen, der nicht bloß kraft¬
lose Männer zu bilden verstand, sondern im Gegenteil mit Vorliebe that¬
kräftige, kriegerische Charaktere wählte? Wenn wir entdeckten, daß die Gabe
des Humors, die sich so selten bei ihm offenbart, und dann auch nur entweder
spröde oder schwerflüssig oder mit bittern satirischen Beimischungen, ihm keines¬
wegs von Haus aus fremd war? Diesen Grillparzer giebt es, und es leidet
gar keinen Zweifel, daß er eins ist mit dem, den wir schon kennen, denn auch
dieser liebt es, Unschuld und Natur im jungen Weibe zu gestalten, auch dieser
versucht es, die großen Gegensätze zweier Kulturstufen, wie sie etwa das
germanische Heidentum und das Christentum bilden, dramatisch zu bewältigen.
Auch dieser Grillparzer greift Stoffe aus der Antike auf und auch Stoffe aus
der neuern Geschichte. Es ist in der That überall derselbe Dichter, aber auf
einer jüngern Lebensstufe, und so wie sich die frische Unternehmungslust der
Jugend unterscheidet von dem bedächtigem Alter, so stehen auch die poetischen
Werke desselben Dichters ans den verschiednen Abschnitten seines Lebens im


Grillparzer und seine Jugendtraum

wahlverwandt waren; aber das Rätsel, das sie ihm psychologisch boten, wollte
er lösen, darum besuchte er sie. Bekannt ist, daß seine berühmtesten Frauen¬
gestalten Sappho, Melitta, Hero nach solchen Modellen geschaffen worden sind.
Die wirkungsvollsten dramatischen Züge hat der Dichter dem Leben abgelauscht.
Als Hero dem Leander, der sie in der Nacht überfallen hat, den Kuß nicht
mehr versagen will, stellt sie vorerst die Lampe auf den Boden, sie solls nicht
sehen, meint sie, und küßt den Geliebten. Das hat der Dichter selbst erlebt.
Mit seinen Frauen hat Grillparzer den Triumph seiner Kunst gefeiert. Im
Gegensatz zu seinen schwachen Männern, die alle am Überwuchern der Reflexion
leiden, sind es leidenschaftliche, ungebrvchne Charaktere, naive Nautren: Hero,
Esther, Eruy, Kunigunde, Berthci, Rahel, Kreusa, Medea. Kein Dichter konnte
ein tiefres Bewußtsein vom Wesen der Naivetät haben, als gerade der, der
persönlich so wenig naiv war und so leidenschaftlich als Künstler nach Natur
und Klarheit und Anschaulichkeit und Handlung rang. Ist Grillparzer oft
ein herber Realist, wenn er Männercharaktere schildert, so ist er Idealist in
der Gestaltung seiner Frauen. Nur eine einzige Mannesgestalt ist so liebens¬
würdig, so sicher in sich selbst beruhend, so mutig ohne den geringsten Ge¬
danken an sich selbst, so tapfer und so klug geraten wie die Hero, das ist der
Küchenjunge Leon, mit dem, nach Volkelts geistreicher Bemerkung, Grillparzer
ganz aus sich selbst herausgetreten zu sein scheint, um der Welt zu zeigen,
was für ein Prachtmensch er hätte sein können, wenn ihm nur einige Tropfen
leichtern Blutes wären beigemengt worden.

Wie nun? wenn wir nachweisen könnten, daß es bei Grillparzer eine Zeit
gegeben hat, wo er in der That dem Küchenjungen Leon näher stand als dem
grübelnden Bischof Gregor, wo sich jene reiche poetische Welt, die er in sich
trug, wesentlich von der unterschied, die wir hier in Umrissen gezeichnet haben?
Wie, wenn wir plötzlich einen Grillparzer vor uns sähen, der nicht bloß kraft¬
lose Männer zu bilden verstand, sondern im Gegenteil mit Vorliebe that¬
kräftige, kriegerische Charaktere wählte? Wenn wir entdeckten, daß die Gabe
des Humors, die sich so selten bei ihm offenbart, und dann auch nur entweder
spröde oder schwerflüssig oder mit bittern satirischen Beimischungen, ihm keines¬
wegs von Haus aus fremd war? Diesen Grillparzer giebt es, und es leidet
gar keinen Zweifel, daß er eins ist mit dem, den wir schon kennen, denn auch
dieser liebt es, Unschuld und Natur im jungen Weibe zu gestalten, auch dieser
versucht es, die großen Gegensätze zweier Kulturstufen, wie sie etwa das
germanische Heidentum und das Christentum bilden, dramatisch zu bewältigen.
Auch dieser Grillparzer greift Stoffe aus der Antike auf und auch Stoffe aus
der neuern Geschichte. Es ist in der That überall derselbe Dichter, aber auf
einer jüngern Lebensstufe, und so wie sich die frische Unternehmungslust der
Jugend unterscheidet von dem bedächtigem Alter, so stehen auch die poetischen
Werke desselben Dichters ans den verschiednen Abschnitten seines Lebens im


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[0572] Grillparzer und seine Jugendtraum wahlverwandt waren; aber das Rätsel, das sie ihm psychologisch boten, wollte er lösen, darum besuchte er sie. Bekannt ist, daß seine berühmtesten Frauen¬ gestalten Sappho, Melitta, Hero nach solchen Modellen geschaffen worden sind. Die wirkungsvollsten dramatischen Züge hat der Dichter dem Leben abgelauscht. Als Hero dem Leander, der sie in der Nacht überfallen hat, den Kuß nicht mehr versagen will, stellt sie vorerst die Lampe auf den Boden, sie solls nicht sehen, meint sie, und küßt den Geliebten. Das hat der Dichter selbst erlebt. Mit seinen Frauen hat Grillparzer den Triumph seiner Kunst gefeiert. Im Gegensatz zu seinen schwachen Männern, die alle am Überwuchern der Reflexion leiden, sind es leidenschaftliche, ungebrvchne Charaktere, naive Nautren: Hero, Esther, Eruy, Kunigunde, Berthci, Rahel, Kreusa, Medea. Kein Dichter konnte ein tiefres Bewußtsein vom Wesen der Naivetät haben, als gerade der, der persönlich so wenig naiv war und so leidenschaftlich als Künstler nach Natur und Klarheit und Anschaulichkeit und Handlung rang. Ist Grillparzer oft ein herber Realist, wenn er Männercharaktere schildert, so ist er Idealist in der Gestaltung seiner Frauen. Nur eine einzige Mannesgestalt ist so liebens¬ würdig, so sicher in sich selbst beruhend, so mutig ohne den geringsten Ge¬ danken an sich selbst, so tapfer und so klug geraten wie die Hero, das ist der Küchenjunge Leon, mit dem, nach Volkelts geistreicher Bemerkung, Grillparzer ganz aus sich selbst herausgetreten zu sein scheint, um der Welt zu zeigen, was für ein Prachtmensch er hätte sein können, wenn ihm nur einige Tropfen leichtern Blutes wären beigemengt worden. Wie nun? wenn wir nachweisen könnten, daß es bei Grillparzer eine Zeit gegeben hat, wo er in der That dem Küchenjungen Leon näher stand als dem grübelnden Bischof Gregor, wo sich jene reiche poetische Welt, die er in sich trug, wesentlich von der unterschied, die wir hier in Umrissen gezeichnet haben? Wie, wenn wir plötzlich einen Grillparzer vor uns sähen, der nicht bloß kraft¬ lose Männer zu bilden verstand, sondern im Gegenteil mit Vorliebe that¬ kräftige, kriegerische Charaktere wählte? Wenn wir entdeckten, daß die Gabe des Humors, die sich so selten bei ihm offenbart, und dann auch nur entweder spröde oder schwerflüssig oder mit bittern satirischen Beimischungen, ihm keines¬ wegs von Haus aus fremd war? Diesen Grillparzer giebt es, und es leidet gar keinen Zweifel, daß er eins ist mit dem, den wir schon kennen, denn auch dieser liebt es, Unschuld und Natur im jungen Weibe zu gestalten, auch dieser versucht es, die großen Gegensätze zweier Kulturstufen, wie sie etwa das germanische Heidentum und das Christentum bilden, dramatisch zu bewältigen. Auch dieser Grillparzer greift Stoffe aus der Antike auf und auch Stoffe aus der neuern Geschichte. Es ist in der That überall derselbe Dichter, aber auf einer jüngern Lebensstufe, und so wie sich die frische Unternehmungslust der Jugend unterscheidet von dem bedächtigem Alter, so stehen auch die poetischen Werke desselben Dichters ans den verschiednen Abschnitten seines Lebens im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/572>, abgerufen am 29.06.2024.