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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Grillparzer und seine Jugenddrcimen

demselben Werke kalt gelassen, ohne daß etwa dieses Werk deswegen schlecht
wäre. Kurz: das Publikum, das heißt jener ästhetische Zustand der Gesamt¬
heit, der sich im Theater als urteilend und maßgebend einstellt, ist von einer
so großem Anzahl von zusammenwirkenden Umständen bestimmt, die immerfort
wechseln und die durchaus nicht immer dasselbe Ergebnis haben, daß man
niemals behaupten kann, das Publikum stelle die ewige allgemeine Menschen¬
natur dar.*)

Kein Dichter hat dies so sehr an sich erfahren können, wie gerade Grill-
parzer. Nur die "Ahnfrau" fand nach dem Erfolge der ersten Darstellung in
Wien (31. Januar 1817) auch in ganz Deutschland ungeteilten Beifall, gerade
dasjenige seiner Stücke, das am meisten den Stempel der litterarischen Mode
um sich trägt. Dagegen gefiel das weit bedeutendere Stück, das folgte, die
"Sappho," schon weniger allgemein. Die herrlichste deutsche Liebestragödie:
"Des Meeres und der Liebe Wellen," hatte ebenso wie das "Goldene Vließ"
zunächst nur einen Achtungserfolg und verschwand in den vierziger Jahren
ganz von der Bühne. Der "Traum ein Leben" wurde in Berlin, "Weh dem,
der lügt" in Wien bei der ersten Aufführung ausgezischt, und die "Jüdin von
Toledo" hat sich in Wien noch immer nicht einbürgern können. Wo und wann
also zeigte sich das Publikum als die richtige "Jury"? Wann stellte es die
ewige, unveränderliche, allgemeine Menschennatur vor? Und wenn jetzt dieselben
Stücke auch in Norddeutschland, das so lange für Grillparzer unempfänglich
war, Beifall erringen, wenn man mit Genugthuung wahrnehmen kann, daß
sich seine Werke nach und nach in alle deutschen Bühnen von Rang einbürgern,
haben sich darum etwa diese Dichtungen geändert? oder nicht vielmehr das
Publikum?

Wie der Dichter zu seinem Irrtume kam, das Wurm wir uns sehr wohl
begreiflich machen. Grillparzer war ein ausgezeichneter Bühnenkenner, er war
ein Meister des theatralischen "Effekts" im eigentlichen Sinne. Der Künstler
nun, der seine Wirkungen so gut vorauszubestimmen weiß, vermag dies doch
nur, weil er in sich selbst ein kräftiges Gefühl von der allgemeinen Menschen-
natur lebendig trägt; das ist ja eben ein Teil seiner künstlerischen Begabung.
Jeder Erfolg seiner theatralischen Berechnung bestärkt ihn natürlicherweise in
seinem Gefühle von der allgemeinen Menschennatur. Das Publikum, das die
Dichtung so aufnimmt, wie sie der Dichter selbst fühlte und wie er ihre Wir-
kuug berechnete, setzt dieser nun in eins mit jener Menschennatur, die er selbst
vorbildlich ideal kennt. Aber diese Verwechslung ist dennoch unberechtigt. Das
Publikum stellt uur die Durchschnittsempfindung einer bestimmten Zeit und



*) In einem am 25. Januar 1389 im Wiener "Vereine der Litteratnrfrcunde" ge¬
haltenen Vortrage "Über den Geschmack" hat Herr Eduard Kutte diese Lehre über-
zeugend dargestellt.
Grillparzer und seine Jugenddrcimen

demselben Werke kalt gelassen, ohne daß etwa dieses Werk deswegen schlecht
wäre. Kurz: das Publikum, das heißt jener ästhetische Zustand der Gesamt¬
heit, der sich im Theater als urteilend und maßgebend einstellt, ist von einer
so großem Anzahl von zusammenwirkenden Umständen bestimmt, die immerfort
wechseln und die durchaus nicht immer dasselbe Ergebnis haben, daß man
niemals behaupten kann, das Publikum stelle die ewige allgemeine Menschen¬
natur dar.*)

Kein Dichter hat dies so sehr an sich erfahren können, wie gerade Grill-
parzer. Nur die „Ahnfrau" fand nach dem Erfolge der ersten Darstellung in
Wien (31. Januar 1817) auch in ganz Deutschland ungeteilten Beifall, gerade
dasjenige seiner Stücke, das am meisten den Stempel der litterarischen Mode
um sich trägt. Dagegen gefiel das weit bedeutendere Stück, das folgte, die
„Sappho," schon weniger allgemein. Die herrlichste deutsche Liebestragödie:
„Des Meeres und der Liebe Wellen," hatte ebenso wie das „Goldene Vließ"
zunächst nur einen Achtungserfolg und verschwand in den vierziger Jahren
ganz von der Bühne. Der „Traum ein Leben" wurde in Berlin, „Weh dem,
der lügt" in Wien bei der ersten Aufführung ausgezischt, und die „Jüdin von
Toledo" hat sich in Wien noch immer nicht einbürgern können. Wo und wann
also zeigte sich das Publikum als die richtige „Jury"? Wann stellte es die
ewige, unveränderliche, allgemeine Menschennatur vor? Und wenn jetzt dieselben
Stücke auch in Norddeutschland, das so lange für Grillparzer unempfänglich
war, Beifall erringen, wenn man mit Genugthuung wahrnehmen kann, daß
sich seine Werke nach und nach in alle deutschen Bühnen von Rang einbürgern,
haben sich darum etwa diese Dichtungen geändert? oder nicht vielmehr das
Publikum?

Wie der Dichter zu seinem Irrtume kam, das Wurm wir uns sehr wohl
begreiflich machen. Grillparzer war ein ausgezeichneter Bühnenkenner, er war
ein Meister des theatralischen „Effekts" im eigentlichen Sinne. Der Künstler
nun, der seine Wirkungen so gut vorauszubestimmen weiß, vermag dies doch
nur, weil er in sich selbst ein kräftiges Gefühl von der allgemeinen Menschen-
natur lebendig trägt; das ist ja eben ein Teil seiner künstlerischen Begabung.
Jeder Erfolg seiner theatralischen Berechnung bestärkt ihn natürlicherweise in
seinem Gefühle von der allgemeinen Menschennatur. Das Publikum, das die
Dichtung so aufnimmt, wie sie der Dichter selbst fühlte und wie er ihre Wir-
kuug berechnete, setzt dieser nun in eins mit jener Menschennatur, die er selbst
vorbildlich ideal kennt. Aber diese Verwechslung ist dennoch unberechtigt. Das
Publikum stellt uur die Durchschnittsempfindung einer bestimmten Zeit und



*) In einem am 25. Januar 1389 im Wiener „Vereine der Litteratnrfrcunde" ge¬
haltenen Vortrage „Über den Geschmack" hat Herr Eduard Kutte diese Lehre über-
zeugend dargestellt.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/565>, abgerufen am 29.06.2024.