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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Grillparzer und seine Jugendtraum

Urteil des Publikums gehalten. Über die Konzeption seines Stückes muß der
dramatische Dichter mit sich selbst zu Rate gehen; ob er aber mit der Aus¬
führung die allgemeine Menschennatur getroffen, darüber kann ihn nur das
Publikum als Repräsentant dieser Menschennatur belehren. Das Publikum
ist kein Richter, sondern eine Jury, es spricht sein Verdikt als Gefallen oder
Mißfallen aus. Nicht Gcsetzknnde, sondern Unbefangenheit und Natürlichkeit
machen seinen Rechtsanspruch aus" (Sämtliche Werke, 1872, X, 126). Auch dies
ist teilweise richtig und stimmt mit der frühern Äußerung überein, doch besteht
auch hier der Irrtum, daß Grillparzer die ästhetische Einheit oder Persönlichkeit,
die das Publikum bildet, gerade so betrachtet, als wäre sie eine moralische
Persönlichkeit, und die Eigenschaften der Natürlichkeit, der Beständigkeit und
Unbefangenheit von den moralischen Urteilen eines Geschwornengerichts auf
die ästhetischen Urteile eines Theaterpublikums überträgt. Er hat gar nicht
gemerkt, daß er eine Idee für die Wirklichkeit nahm. Es ist in: Grunde der¬
selbe Irrtum, der Schiller zur Suche nach dem sogenannten Reinmenschlichen
verleitete, derselbe Irrtum, der zahllose Gebände der Ästhetik aufrichten ließ,
worin die Künstler lernen sollten, was allgemein gefallen müsse, da ja die
Menschennatur sich immer gleich bleibe.

Alle diese Bemühungen sind bisher ohne Erfolg geblieben. Man hat er¬
kannt, daß die Urteile des Gefallens oder Mißfallens von keiner allgemeinen,
ewigen Menschennatur gefällt werden, sondern daß vielmehr gerade sie meist
von der unendlichen Mannigfaltigkeit der einzelnen Menschencharaktere abhängig
sind. Das Urteil des Gefallens oder Mißfallens hängt ab von einem unendlich
reich zusammengesetzten Zustande desjenigen, der es füllt. Derselbe Mensch kann
sich bei aller Wahrheit und Redlichkeit über denselben Gegenstand zu verschie¬
denen Zeiten verschieden ästhetisch äußern, es kann ihm heute dieselbe Statue
gefallen, die ihm eine Zeit vorher mißfiel, und umgekehrt, denn alle ästhe¬
tischen Urteile verraten nur einen Zustand des Gefühls, über den das ver¬
ständige Wollen keine Herrschaft ausüben kann, sie sind ein Bekenntnis, die Mit¬
teilung einer Thatsache, die in uns unter gewissen Umständen erscheint, also
eigentlich gar kein "Urteil" im landläufigen Sinn. Es giebt also nichts, was
mehr vom Zufall der persönlichen oder öffentlichen Stimmung, von dem Geiste
der Zeit abhängiger wäre, als gerade jenes Publikum, das Grillparzer sür
ewig sich gleich bleibend erklärt. Das Publikum ist in jeder Stadt, in jedem
Theater, zu jeder Zeit eine andre Persönlichkeit. Es tritt in das Schauspiel¬
haus, in das Opernhaus, in die Operette mit verschiedenen Erwartungen, ver¬
schiedenen Stimmungen. Sein Beifall kann heute dem Werke des Dichters,
morgen nur der Leistung des Schauspielers gelten, und es wäre schwer, nach
dem Maße dieses Beifalls den objektiven künstlerischen Wert der Dichtung ab¬
zuschätzen. Das Publikum zeichnet heute ein Stück aus, weil ihm Anspielungen
darin auf politische Vorgänge oder Stadtklatsch gefallen, morgen wird es von


Grillparzer und seine Jugendtraum

Urteil des Publikums gehalten. Über die Konzeption seines Stückes muß der
dramatische Dichter mit sich selbst zu Rate gehen; ob er aber mit der Aus¬
führung die allgemeine Menschennatur getroffen, darüber kann ihn nur das
Publikum als Repräsentant dieser Menschennatur belehren. Das Publikum
ist kein Richter, sondern eine Jury, es spricht sein Verdikt als Gefallen oder
Mißfallen aus. Nicht Gcsetzknnde, sondern Unbefangenheit und Natürlichkeit
machen seinen Rechtsanspruch aus" (Sämtliche Werke, 1872, X, 126). Auch dies
ist teilweise richtig und stimmt mit der frühern Äußerung überein, doch besteht
auch hier der Irrtum, daß Grillparzer die ästhetische Einheit oder Persönlichkeit,
die das Publikum bildet, gerade so betrachtet, als wäre sie eine moralische
Persönlichkeit, und die Eigenschaften der Natürlichkeit, der Beständigkeit und
Unbefangenheit von den moralischen Urteilen eines Geschwornengerichts auf
die ästhetischen Urteile eines Theaterpublikums überträgt. Er hat gar nicht
gemerkt, daß er eine Idee für die Wirklichkeit nahm. Es ist in: Grunde der¬
selbe Irrtum, der Schiller zur Suche nach dem sogenannten Reinmenschlichen
verleitete, derselbe Irrtum, der zahllose Gebände der Ästhetik aufrichten ließ,
worin die Künstler lernen sollten, was allgemein gefallen müsse, da ja die
Menschennatur sich immer gleich bleibe.

Alle diese Bemühungen sind bisher ohne Erfolg geblieben. Man hat er¬
kannt, daß die Urteile des Gefallens oder Mißfallens von keiner allgemeinen,
ewigen Menschennatur gefällt werden, sondern daß vielmehr gerade sie meist
von der unendlichen Mannigfaltigkeit der einzelnen Menschencharaktere abhängig
sind. Das Urteil des Gefallens oder Mißfallens hängt ab von einem unendlich
reich zusammengesetzten Zustande desjenigen, der es füllt. Derselbe Mensch kann
sich bei aller Wahrheit und Redlichkeit über denselben Gegenstand zu verschie¬
denen Zeiten verschieden ästhetisch äußern, es kann ihm heute dieselbe Statue
gefallen, die ihm eine Zeit vorher mißfiel, und umgekehrt, denn alle ästhe¬
tischen Urteile verraten nur einen Zustand des Gefühls, über den das ver¬
ständige Wollen keine Herrschaft ausüben kann, sie sind ein Bekenntnis, die Mit¬
teilung einer Thatsache, die in uns unter gewissen Umständen erscheint, also
eigentlich gar kein „Urteil" im landläufigen Sinn. Es giebt also nichts, was
mehr vom Zufall der persönlichen oder öffentlichen Stimmung, von dem Geiste
der Zeit abhängiger wäre, als gerade jenes Publikum, das Grillparzer sür
ewig sich gleich bleibend erklärt. Das Publikum ist in jeder Stadt, in jedem
Theater, zu jeder Zeit eine andre Persönlichkeit. Es tritt in das Schauspiel¬
haus, in das Opernhaus, in die Operette mit verschiedenen Erwartungen, ver¬
schiedenen Stimmungen. Sein Beifall kann heute dem Werke des Dichters,
morgen nur der Leistung des Schauspielers gelten, und es wäre schwer, nach
dem Maße dieses Beifalls den objektiven künstlerischen Wert der Dichtung ab¬
zuschätzen. Das Publikum zeichnet heute ein Stück aus, weil ihm Anspielungen
darin auf politische Vorgänge oder Stadtklatsch gefallen, morgen wird es von


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[0564] Grillparzer und seine Jugendtraum Urteil des Publikums gehalten. Über die Konzeption seines Stückes muß der dramatische Dichter mit sich selbst zu Rate gehen; ob er aber mit der Aus¬ führung die allgemeine Menschennatur getroffen, darüber kann ihn nur das Publikum als Repräsentant dieser Menschennatur belehren. Das Publikum ist kein Richter, sondern eine Jury, es spricht sein Verdikt als Gefallen oder Mißfallen aus. Nicht Gcsetzknnde, sondern Unbefangenheit und Natürlichkeit machen seinen Rechtsanspruch aus" (Sämtliche Werke, 1872, X, 126). Auch dies ist teilweise richtig und stimmt mit der frühern Äußerung überein, doch besteht auch hier der Irrtum, daß Grillparzer die ästhetische Einheit oder Persönlichkeit, die das Publikum bildet, gerade so betrachtet, als wäre sie eine moralische Persönlichkeit, und die Eigenschaften der Natürlichkeit, der Beständigkeit und Unbefangenheit von den moralischen Urteilen eines Geschwornengerichts auf die ästhetischen Urteile eines Theaterpublikums überträgt. Er hat gar nicht gemerkt, daß er eine Idee für die Wirklichkeit nahm. Es ist in: Grunde der¬ selbe Irrtum, der Schiller zur Suche nach dem sogenannten Reinmenschlichen verleitete, derselbe Irrtum, der zahllose Gebände der Ästhetik aufrichten ließ, worin die Künstler lernen sollten, was allgemein gefallen müsse, da ja die Menschennatur sich immer gleich bleibe. Alle diese Bemühungen sind bisher ohne Erfolg geblieben. Man hat er¬ kannt, daß die Urteile des Gefallens oder Mißfallens von keiner allgemeinen, ewigen Menschennatur gefällt werden, sondern daß vielmehr gerade sie meist von der unendlichen Mannigfaltigkeit der einzelnen Menschencharaktere abhängig sind. Das Urteil des Gefallens oder Mißfallens hängt ab von einem unendlich reich zusammengesetzten Zustande desjenigen, der es füllt. Derselbe Mensch kann sich bei aller Wahrheit und Redlichkeit über denselben Gegenstand zu verschie¬ denen Zeiten verschieden ästhetisch äußern, es kann ihm heute dieselbe Statue gefallen, die ihm eine Zeit vorher mißfiel, und umgekehrt, denn alle ästhe¬ tischen Urteile verraten nur einen Zustand des Gefühls, über den das ver¬ ständige Wollen keine Herrschaft ausüben kann, sie sind ein Bekenntnis, die Mit¬ teilung einer Thatsache, die in uns unter gewissen Umständen erscheint, also eigentlich gar kein „Urteil" im landläufigen Sinn. Es giebt also nichts, was mehr vom Zufall der persönlichen oder öffentlichen Stimmung, von dem Geiste der Zeit abhängiger wäre, als gerade jenes Publikum, das Grillparzer sür ewig sich gleich bleibend erklärt. Das Publikum ist in jeder Stadt, in jedem Theater, zu jeder Zeit eine andre Persönlichkeit. Es tritt in das Schauspiel¬ haus, in das Opernhaus, in die Operette mit verschiedenen Erwartungen, ver¬ schiedenen Stimmungen. Sein Beifall kann heute dem Werke des Dichters, morgen nur der Leistung des Schauspielers gelten, und es wäre schwer, nach dem Maße dieses Beifalls den objektiven künstlerischen Wert der Dichtung ab¬ zuschätzen. Das Publikum zeichnet heute ein Stück aus, weil ihm Anspielungen darin auf politische Vorgänge oder Stadtklatsch gefallen, morgen wird es von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/564>, abgerufen am 28.09.2024.