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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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und fühlt, ist ohne Wert. Was auf die Masse übergeht, insofern sie Masse
ist, der gleichmäßige Wärmegrad, der, aus der unmittelbaren Berührung sich
entwickelnd, die einzelnen Beschränktheiten, sowie die Vorzüge aufhebt, die
Zuversicht, die aus der wechselseitigen Zustimmung entsteht, das Gefühl der
Menschheit als Ganzes mit Ausschließung aller Individualität, das ist es,
was der Stimme des Publikums seinen hohen Wert giebt und ewig geben
wird. Das Publikum in diesem Sinne hatten die zwei größten Geister unsrer
Nation seit lange sich , alle Mühe gegeben von Grund aus zu vernichten.
Goethe und Schiller nämlich, all einem unbedeutenden Orte lebend, wo sie
nußer der Lage waren, die Großartigkeit dieser Erscheinung aus eigner Er¬
fahrung kennen zu lernen, sprachen die äußerste Geringschätzung des Publikums
aus. Sie appellirten an deu Beifall der Gebildeten. Da nun aber die Bildung
das Ergebnis des Zeitgeistes ist, und wenn dieser ins Absurde gerät, auch die
Bildung mit fich^ zieht, indes die allgemeine Menschennatur sich gleich bleibt
von der Erschaffung der Welt bis zu ihrem Untergange, fo ist leicht zu ersehen,
daß mit dieser Substituirung durchaus nichts gewonnen, vielmehr ein Hysteron-
Proteron stntnirt war, sie appellirten nämlich an diejenigen, die mit ihnen im
gleichen Standpunkte standen, indes es doch vor allem galt, den Standpunkt
selbst zu beurteilen." Hier bricht der Erguß ab (Grillparzers Sämtliche Werke,
1888. Ergänzungsband IV, S. 213).

Man möchte sagen: der ganze Mann spiegelt sich in diesen Auslassungen,
die so klug, so geistvoll und zutreffend und doch auch wieder so unzutreffend
find. Wahr ist es, daß Goethe und Schiller das.Publikum, wie Grillparzer
es meint, teils nicht kannten, teils nicht schätzten; wahr ist es, daß die beide"
Dichter eben wegen ihres nicht innigen Zusaimneilhanges mit der großen Masse
der Nation eine Litteratur für Gebildete schüfe". Anstatt an volkstümliche
deutsche Überlieferungen anzuknüpfen, ahmten sie die antike Litteratur nach.
Aber ob Goethe und Schiller, selbst wenn sie dies nicht gethan hätten, weniger
an die Gebildeten der Nation, an die empfänglicherer Kenner in ihr hätten
"appelliren" müssen, als sie es gethan haben, das ist noch sehr die Frage.

Die Beschreibung, die Grillparzer vom Wesen des Publikums giebt,
tanti zutreffender nicht gedacht werden. Ist es aber nicht ein offenbarer Irr¬
tum, das Publikum für eins mit der einigen allgemeinen Menschennatur,
die sich von der Erschaffung der Welt bis zu ihrem Untergange gleich bleibt,
Zu erklären? Wenn das Publikum in der That diese ewige Menschennatur
wäre, wie erklärten sich denn seine znhlloseil Geschmacksverschiedenheiteli? Wenn
das Publikum wirklich die ewig sich gleichbleibende Menschennatur darstellte,
wie wäre es dann möglich, daß es Werke heute mit Beifall überschüttet, die
es vor einem Menschencilter mit Hohngelächter abgelehnt hat? Und jene Ansicht
von der Bedeutung des Publikums ist Grillparzers bleibende Überzeugung ge¬
wesen. Noch ni der Selbstbiographie sagt er: "Ich habe immer viel auf das


und fühlt, ist ohne Wert. Was auf die Masse übergeht, insofern sie Masse
ist, der gleichmäßige Wärmegrad, der, aus der unmittelbaren Berührung sich
entwickelnd, die einzelnen Beschränktheiten, sowie die Vorzüge aufhebt, die
Zuversicht, die aus der wechselseitigen Zustimmung entsteht, das Gefühl der
Menschheit als Ganzes mit Ausschließung aller Individualität, das ist es,
was der Stimme des Publikums seinen hohen Wert giebt und ewig geben
wird. Das Publikum in diesem Sinne hatten die zwei größten Geister unsrer
Nation seit lange sich , alle Mühe gegeben von Grund aus zu vernichten.
Goethe und Schiller nämlich, all einem unbedeutenden Orte lebend, wo sie
nußer der Lage waren, die Großartigkeit dieser Erscheinung aus eigner Er¬
fahrung kennen zu lernen, sprachen die äußerste Geringschätzung des Publikums
aus. Sie appellirten an deu Beifall der Gebildeten. Da nun aber die Bildung
das Ergebnis des Zeitgeistes ist, und wenn dieser ins Absurde gerät, auch die
Bildung mit fich^ zieht, indes die allgemeine Menschennatur sich gleich bleibt
von der Erschaffung der Welt bis zu ihrem Untergange, fo ist leicht zu ersehen,
daß mit dieser Substituirung durchaus nichts gewonnen, vielmehr ein Hysteron-
Proteron stntnirt war, sie appellirten nämlich an diejenigen, die mit ihnen im
gleichen Standpunkte standen, indes es doch vor allem galt, den Standpunkt
selbst zu beurteilen." Hier bricht der Erguß ab (Grillparzers Sämtliche Werke,
1888. Ergänzungsband IV, S. 213).

Man möchte sagen: der ganze Mann spiegelt sich in diesen Auslassungen,
die so klug, so geistvoll und zutreffend und doch auch wieder so unzutreffend
find. Wahr ist es, daß Goethe und Schiller das.Publikum, wie Grillparzer
es meint, teils nicht kannten, teils nicht schätzten; wahr ist es, daß die beide»
Dichter eben wegen ihres nicht innigen Zusaimneilhanges mit der großen Masse
der Nation eine Litteratur für Gebildete schüfe». Anstatt an volkstümliche
deutsche Überlieferungen anzuknüpfen, ahmten sie die antike Litteratur nach.
Aber ob Goethe und Schiller, selbst wenn sie dies nicht gethan hätten, weniger
an die Gebildeten der Nation, an die empfänglicherer Kenner in ihr hätten
„appelliren" müssen, als sie es gethan haben, das ist noch sehr die Frage.

Die Beschreibung, die Grillparzer vom Wesen des Publikums giebt,
tanti zutreffender nicht gedacht werden. Ist es aber nicht ein offenbarer Irr¬
tum, das Publikum für eins mit der einigen allgemeinen Menschennatur,
die sich von der Erschaffung der Welt bis zu ihrem Untergange gleich bleibt,
Zu erklären? Wenn das Publikum in der That diese ewige Menschennatur
wäre, wie erklärten sich denn seine znhlloseil Geschmacksverschiedenheiteli? Wenn
das Publikum wirklich die ewig sich gleichbleibende Menschennatur darstellte,
wie wäre es dann möglich, daß es Werke heute mit Beifall überschüttet, die
es vor einem Menschencilter mit Hohngelächter abgelehnt hat? Und jene Ansicht
von der Bedeutung des Publikums ist Grillparzers bleibende Überzeugung ge¬
wesen. Noch ni der Selbstbiographie sagt er: „Ich habe immer viel auf das


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[0563] und fühlt, ist ohne Wert. Was auf die Masse übergeht, insofern sie Masse ist, der gleichmäßige Wärmegrad, der, aus der unmittelbaren Berührung sich entwickelnd, die einzelnen Beschränktheiten, sowie die Vorzüge aufhebt, die Zuversicht, die aus der wechselseitigen Zustimmung entsteht, das Gefühl der Menschheit als Ganzes mit Ausschließung aller Individualität, das ist es, was der Stimme des Publikums seinen hohen Wert giebt und ewig geben wird. Das Publikum in diesem Sinne hatten die zwei größten Geister unsrer Nation seit lange sich , alle Mühe gegeben von Grund aus zu vernichten. Goethe und Schiller nämlich, all einem unbedeutenden Orte lebend, wo sie nußer der Lage waren, die Großartigkeit dieser Erscheinung aus eigner Er¬ fahrung kennen zu lernen, sprachen die äußerste Geringschätzung des Publikums aus. Sie appellirten an deu Beifall der Gebildeten. Da nun aber die Bildung das Ergebnis des Zeitgeistes ist, und wenn dieser ins Absurde gerät, auch die Bildung mit fich^ zieht, indes die allgemeine Menschennatur sich gleich bleibt von der Erschaffung der Welt bis zu ihrem Untergange, fo ist leicht zu ersehen, daß mit dieser Substituirung durchaus nichts gewonnen, vielmehr ein Hysteron- Proteron stntnirt war, sie appellirten nämlich an diejenigen, die mit ihnen im gleichen Standpunkte standen, indes es doch vor allem galt, den Standpunkt selbst zu beurteilen." Hier bricht der Erguß ab (Grillparzers Sämtliche Werke, 1888. Ergänzungsband IV, S. 213). Man möchte sagen: der ganze Mann spiegelt sich in diesen Auslassungen, die so klug, so geistvoll und zutreffend und doch auch wieder so unzutreffend find. Wahr ist es, daß Goethe und Schiller das.Publikum, wie Grillparzer es meint, teils nicht kannten, teils nicht schätzten; wahr ist es, daß die beide» Dichter eben wegen ihres nicht innigen Zusaimneilhanges mit der großen Masse der Nation eine Litteratur für Gebildete schüfe». Anstatt an volkstümliche deutsche Überlieferungen anzuknüpfen, ahmten sie die antike Litteratur nach. Aber ob Goethe und Schiller, selbst wenn sie dies nicht gethan hätten, weniger an die Gebildeten der Nation, an die empfänglicherer Kenner in ihr hätten „appelliren" müssen, als sie es gethan haben, das ist noch sehr die Frage. Die Beschreibung, die Grillparzer vom Wesen des Publikums giebt, tanti zutreffender nicht gedacht werden. Ist es aber nicht ein offenbarer Irr¬ tum, das Publikum für eins mit der einigen allgemeinen Menschennatur, die sich von der Erschaffung der Welt bis zu ihrem Untergange gleich bleibt, Zu erklären? Wenn das Publikum in der That diese ewige Menschennatur wäre, wie erklärten sich denn seine znhlloseil Geschmacksverschiedenheiteli? Wenn das Publikum wirklich die ewig sich gleichbleibende Menschennatur darstellte, wie wäre es dann möglich, daß es Werke heute mit Beifall überschüttet, die es vor einem Menschencilter mit Hohngelächter abgelehnt hat? Und jene Ansicht von der Bedeutung des Publikums ist Grillparzers bleibende Überzeugung ge¬ wesen. Noch ni der Selbstbiographie sagt er: „Ich habe immer viel auf das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/563>, abgerufen am 29.06.2024.