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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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das nirgends zu Tadel und 5t!lage Anlaß gäbe, außerhalb alles Denkbaren liegt --
welch ein Bild boten, trotz neuerlicher Reformbestrebungen an namhaften
Stellen, viele Gegenden des damaligen Dentschlands dem einigermaßen gebil¬
deten dar! Jene Reformbestrelmngen selbst, wie oft trugen sie das Gepräge
einer Regierungsweisheit, die dem Volke zunächst mehr als ein störender Ein¬
griff, denn als eine Wohlthat fühlbar wurde! Oder neben dein Lichte, das
jetzt durch sie auf manche Teile von Deutschland geworfen wurde, wie machte
sich doppelt stark der Schatten bemerklich, der auf andern Gebieten -- auf den
pfalzbairischen Landen, auf den Herrschaften vieler kleiner Gewalthaber, auf
geistlichen Gebieten, auch auf Reichsstädten, wie Köln oder Augsburg -- ruhte.
Hier und da noch Züge des rohesten Despotismus, daß ein Mann von so
milder Gemütsart, wie Fr. von Göckingk, der Dichter der "Lieder zweier
Liebenden," wenige Jahre vor der französischen Revolution gegen eine Freundin
in die Worte ausbrach, es sei sehr schimpflich für die deutsche Nation, daß
sie noch keinen gehängten oder geräderten Fürsten aufzuweisen habe! Und fast
überall, auch unter aufgeklärten und wohlwollenden Regenten, noch das alte
Netz von Herrschaftsrechteil des Adels, von knechtischen Nbhängigkeitsverhält-
nissen der Bauern und sonstigen Unfreiheiten, die alles überzogen! Denn auch
was durch fürstliche Regierungen und den Einfluß der Aufklärung geschehen
war, um hier einige Erleichterung des Drückenden, einige Lüftung des Beengen¬
den zu bringen, verschwand doch jetzt fast ganz vor dem einen gewaltigen Ruck,
mit dem sich in der berühmten Nacht vom 4. August 178!) die französische
Nation diesen ganzen Wust vom Halse geschafft zu haben schien.

"Ist die Nation frei?" in diese Frage kleidete, als im Jahre 1798 der
.Kongreß von Rastadt schou^ die wichtigsten Entscheidungen über deutsches Volk
und Land zu bringen im Begriffe stand, eine Flugschrift die schärfste Anklage
des Zustandes, worin sich ein großer Teil dieses deutschen Landes gegenüber
den durch die Revolution zum Gemeingut gewordnen Ideen und Ansprüchen
befand. "Ist die Nation frei, wo der Bürger- und Bauernstand dein Despo¬
tismus des Adels ausgesetzt ist, wo der Bauer in den Fesseln harter Leibeigen¬
schaft schmachtet, wo der Bürger bald den Plackereien seiner eignen Magistrate,
bald den Launen des Militärs ausgesetzt ist, wo man Eingriffe in seine natür¬
lichen Rechte wagt und seine Vorstellungen dagegen als Ungehorsam und
Rebellion hart ahndet? Ist die Nation frei, die jeder Verordnung, welche der
Sklavensinn, die Dummheit und der Despotismus eines Geistlichen, eines
Günstlings oder einer Maitresse ausheckt, blindlings gehorchen muß, wenn sie
nicht die willkürlichen und harten Strafen erleiden Null, die auf den Ungehorsam
gesetzt sind? Ist die Nation frei, deren blühende Jugend ohne Widerrede den,
Kalbfell folgen und sich für schnödes Metall um fremde Despoten verkaufen
lasten muß? Ist die Nation frei, wo die Bürger mit ihren Klagen nicht ge¬
hört, sondern an die als Richter gewiesen werden, gegen deren Bedrückung sie


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das nirgends zu Tadel und 5t!lage Anlaß gäbe, außerhalb alles Denkbaren liegt —
welch ein Bild boten, trotz neuerlicher Reformbestrebungen an namhaften
Stellen, viele Gegenden des damaligen Dentschlands dem einigermaßen gebil¬
deten dar! Jene Reformbestrelmngen selbst, wie oft trugen sie das Gepräge
einer Regierungsweisheit, die dem Volke zunächst mehr als ein störender Ein¬
griff, denn als eine Wohlthat fühlbar wurde! Oder neben dein Lichte, das
jetzt durch sie auf manche Teile von Deutschland geworfen wurde, wie machte
sich doppelt stark der Schatten bemerklich, der auf andern Gebieten — auf den
pfalzbairischen Landen, auf den Herrschaften vieler kleiner Gewalthaber, auf
geistlichen Gebieten, auch auf Reichsstädten, wie Köln oder Augsburg — ruhte.
Hier und da noch Züge des rohesten Despotismus, daß ein Mann von so
milder Gemütsart, wie Fr. von Göckingk, der Dichter der „Lieder zweier
Liebenden," wenige Jahre vor der französischen Revolution gegen eine Freundin
in die Worte ausbrach, es sei sehr schimpflich für die deutsche Nation, daß
sie noch keinen gehängten oder geräderten Fürsten aufzuweisen habe! Und fast
überall, auch unter aufgeklärten und wohlwollenden Regenten, noch das alte
Netz von Herrschaftsrechteil des Adels, von knechtischen Nbhängigkeitsverhält-
nissen der Bauern und sonstigen Unfreiheiten, die alles überzogen! Denn auch
was durch fürstliche Regierungen und den Einfluß der Aufklärung geschehen
war, um hier einige Erleichterung des Drückenden, einige Lüftung des Beengen¬
den zu bringen, verschwand doch jetzt fast ganz vor dem einen gewaltigen Ruck,
mit dem sich in der berühmten Nacht vom 4. August 178!) die französische
Nation diesen ganzen Wust vom Halse geschafft zu haben schien.

„Ist die Nation frei?" in diese Frage kleidete, als im Jahre 1798 der
.Kongreß von Rastadt schou^ die wichtigsten Entscheidungen über deutsches Volk
und Land zu bringen im Begriffe stand, eine Flugschrift die schärfste Anklage
des Zustandes, worin sich ein großer Teil dieses deutschen Landes gegenüber
den durch die Revolution zum Gemeingut gewordnen Ideen und Ansprüchen
befand. „Ist die Nation frei, wo der Bürger- und Bauernstand dein Despo¬
tismus des Adels ausgesetzt ist, wo der Bauer in den Fesseln harter Leibeigen¬
schaft schmachtet, wo der Bürger bald den Plackereien seiner eignen Magistrate,
bald den Launen des Militärs ausgesetzt ist, wo man Eingriffe in seine natür¬
lichen Rechte wagt und seine Vorstellungen dagegen als Ungehorsam und
Rebellion hart ahndet? Ist die Nation frei, die jeder Verordnung, welche der
Sklavensinn, die Dummheit und der Despotismus eines Geistlichen, eines
Günstlings oder einer Maitresse ausheckt, blindlings gehorchen muß, wenn sie
nicht die willkürlichen und harten Strafen erleiden Null, die auf den Ungehorsam
gesetzt sind? Ist die Nation frei, deren blühende Jugend ohne Widerrede den,
Kalbfell folgen und sich für schnödes Metall um fremde Despoten verkaufen
lasten muß? Ist die Nation frei, wo die Bürger mit ihren Klagen nicht ge¬
hört, sondern an die als Richter gewiesen werden, gegen deren Bedrückung sie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/546>, abgerufen am 29.06.2024.