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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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ZINN Stilbum der englischen Sprache und Litteratur

genügenden Vorbildern und Hilfsmitteln eine untergegangene Welt in ihrer
Bedeutung für edel menschliche Bildung zu erkennen."

Aber Chaucer neigte seiner ganzen seelischen und geistigen Anlage nach
mehr zu Dante und Boccaccio; der Einfluß Dantes machte sich denn auch
bald in formeller Beziehung in seineu Dichtungen geltend, während Boccaccio
ihm eine reiche Fülle neuer Stoffe und dichterischer Motive lieferte. Eine ge¬
wisse religiöse Schwärmerei, von der Chaucer während seiner italienischen Reise
im Jahre 1372 beherrscht wurde, machte ihn besonders für die großartigen
Ideen der Göttlichen Komödie empfänglich und zeitigte seine Legendendichtung,
das "Leben der heiligen Cäcilie" und das ^.Lo, einen Hymnus an die
heilige Jungfrau in 23 Strophen. Alls der Periode dichterischer Unthätigkeit,
in die Chaucer durch seine Verheiratung, Familiengründung und Beamten¬
thätigkeit versetzt wurde, riß ihn Boeeaeeios Epos, die "Teseide;" jene höchst
merkwürdige, für den Literarhistoriker äußerst lehrreiche Dichtung, worin sich
nach ten Brink in greifbarer Weise die Wahrheit findet, daß in einem Kunst-
werke Stoff und Form, Zeitgeist und Dichtungsgattung, Individualität und Stil
aufs engste zusammengehören. Chaucer bearbeitete dieses Epos zu seiner Dich¬
tung "Palämon und Arcitn" in der Form einer fiebenzeiligeu Stanze mit rea¬
listischer und humorvoller Auffassung. Von "Palämon und Arena" sind uns
nur Bruchstücke erhalten, allein in späterer Überarbeitung erscheint das Ganze
als "Erzählung des Ritters" in den Ltmwi'hui'zö Diesem Hauptwerke
Chaucers, der "großen Symphonie der mittelalterlichen Dichtung," widmet
ten Brink zwei Kapitel, auf deren geistvollen und lehrreichen Inhalt wir
hier nicht weiter eingehen können.
"

"Wir sehen, sagt ten Brink im Rückblick auf Chaucer am Schluß des
vierten Buches, "im Leben des Dichters Epochen freudiger Weltlust, religiöser
Erhebung, philosophischer Resignation mit einander abwechseln. Je mehr er
sich dem Ziel seiner Tage näherte, wurde er immer genügsamer, stiller, ruhiger;
seine Philosophie wurde immer mehr von religiöser Anschauung durchtränkt,
seine Religion immer philosophischer. Dem Dienste der Musen aber, der alle
Phasen seines Lebens verklärend begleitete, blieb er bis zum Ende treu. Chaucer
hat seine ganze Lebensweisheit in die letzte Ballade "Wahrheit" niedergelegt,
die mit der Strophe beginnt:


Der Wahrheit lebe, weich dem Pöbel aus,
Mit deinem Loos zufrieden, ob's auch klein;
Denn Hort schafft Haß, beim Steigen winkt der Graus,
Neid folgt der Menge, Glück ist niemals rein.
Soviel als du bedarfst, genieß als dein.
Thu selber gut, wer rät in fremden Dingen,
Und glaube: Wahrheit wird dir Freiheit bringen.

Das fünfte Buch, von dem leider nur ein unvollendeter Teil vorliegt,
behandelt Chaucers Nachfolger, den humanen, aber furchtsamen Thomas Occleve


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genügenden Vorbildern und Hilfsmitteln eine untergegangene Welt in ihrer
Bedeutung für edel menschliche Bildung zu erkennen."

Aber Chaucer neigte seiner ganzen seelischen und geistigen Anlage nach
mehr zu Dante und Boccaccio; der Einfluß Dantes machte sich denn auch
bald in formeller Beziehung in seineu Dichtungen geltend, während Boccaccio
ihm eine reiche Fülle neuer Stoffe und dichterischer Motive lieferte. Eine ge¬
wisse religiöse Schwärmerei, von der Chaucer während seiner italienischen Reise
im Jahre 1372 beherrscht wurde, machte ihn besonders für die großartigen
Ideen der Göttlichen Komödie empfänglich und zeitigte seine Legendendichtung,
das „Leben der heiligen Cäcilie" und das ^.Lo, einen Hymnus an die
heilige Jungfrau in 23 Strophen. Alls der Periode dichterischer Unthätigkeit,
in die Chaucer durch seine Verheiratung, Familiengründung und Beamten¬
thätigkeit versetzt wurde, riß ihn Boeeaeeios Epos, die „Teseide;" jene höchst
merkwürdige, für den Literarhistoriker äußerst lehrreiche Dichtung, worin sich
nach ten Brink in greifbarer Weise die Wahrheit findet, daß in einem Kunst-
werke Stoff und Form, Zeitgeist und Dichtungsgattung, Individualität und Stil
aufs engste zusammengehören. Chaucer bearbeitete dieses Epos zu seiner Dich¬
tung „Palämon und Arcitn" in der Form einer fiebenzeiligeu Stanze mit rea¬
listischer und humorvoller Auffassung. Von „Palämon und Arena" sind uns
nur Bruchstücke erhalten, allein in späterer Überarbeitung erscheint das Ganze
als „Erzählung des Ritters" in den Ltmwi'hui'zö Diesem Hauptwerke
Chaucers, der „großen Symphonie der mittelalterlichen Dichtung," widmet
ten Brink zwei Kapitel, auf deren geistvollen und lehrreichen Inhalt wir
hier nicht weiter eingehen können.
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„Wir sehen, sagt ten Brink im Rückblick auf Chaucer am Schluß des
vierten Buches, „im Leben des Dichters Epochen freudiger Weltlust, religiöser
Erhebung, philosophischer Resignation mit einander abwechseln. Je mehr er
sich dem Ziel seiner Tage näherte, wurde er immer genügsamer, stiller, ruhiger;
seine Philosophie wurde immer mehr von religiöser Anschauung durchtränkt,
seine Religion immer philosophischer. Dem Dienste der Musen aber, der alle
Phasen seines Lebens verklärend begleitete, blieb er bis zum Ende treu. Chaucer
hat seine ganze Lebensweisheit in die letzte Ballade „Wahrheit" niedergelegt,
die mit der Strophe beginnt:


Der Wahrheit lebe, weich dem Pöbel aus,
Mit deinem Loos zufrieden, ob's auch klein;
Denn Hort schafft Haß, beim Steigen winkt der Graus,
Neid folgt der Menge, Glück ist niemals rein.
Soviel als du bedarfst, genieß als dein.
Thu selber gut, wer rät in fremden Dingen,
Und glaube: Wahrheit wird dir Freiheit bringen.

Das fünfte Buch, von dem leider nur ein unvollendeter Teil vorliegt,
behandelt Chaucers Nachfolger, den humanen, aber furchtsamen Thomas Occleve


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[0524] ZINN Stilbum der englischen Sprache und Litteratur genügenden Vorbildern und Hilfsmitteln eine untergegangene Welt in ihrer Bedeutung für edel menschliche Bildung zu erkennen." Aber Chaucer neigte seiner ganzen seelischen und geistigen Anlage nach mehr zu Dante und Boccaccio; der Einfluß Dantes machte sich denn auch bald in formeller Beziehung in seineu Dichtungen geltend, während Boccaccio ihm eine reiche Fülle neuer Stoffe und dichterischer Motive lieferte. Eine ge¬ wisse religiöse Schwärmerei, von der Chaucer während seiner italienischen Reise im Jahre 1372 beherrscht wurde, machte ihn besonders für die großartigen Ideen der Göttlichen Komödie empfänglich und zeitigte seine Legendendichtung, das „Leben der heiligen Cäcilie" und das ^.Lo, einen Hymnus an die heilige Jungfrau in 23 Strophen. Alls der Periode dichterischer Unthätigkeit, in die Chaucer durch seine Verheiratung, Familiengründung und Beamten¬ thätigkeit versetzt wurde, riß ihn Boeeaeeios Epos, die „Teseide;" jene höchst merkwürdige, für den Literarhistoriker äußerst lehrreiche Dichtung, worin sich nach ten Brink in greifbarer Weise die Wahrheit findet, daß in einem Kunst- werke Stoff und Form, Zeitgeist und Dichtungsgattung, Individualität und Stil aufs engste zusammengehören. Chaucer bearbeitete dieses Epos zu seiner Dich¬ tung „Palämon und Arcitn" in der Form einer fiebenzeiligeu Stanze mit rea¬ listischer und humorvoller Auffassung. Von „Palämon und Arena" sind uns nur Bruchstücke erhalten, allein in späterer Überarbeitung erscheint das Ganze als „Erzählung des Ritters" in den Ltmwi'hui'zö Diesem Hauptwerke Chaucers, der „großen Symphonie der mittelalterlichen Dichtung," widmet ten Brink zwei Kapitel, auf deren geistvollen und lehrreichen Inhalt wir hier nicht weiter eingehen können. " „Wir sehen, sagt ten Brink im Rückblick auf Chaucer am Schluß des vierten Buches, „im Leben des Dichters Epochen freudiger Weltlust, religiöser Erhebung, philosophischer Resignation mit einander abwechseln. Je mehr er sich dem Ziel seiner Tage näherte, wurde er immer genügsamer, stiller, ruhiger; seine Philosophie wurde immer mehr von religiöser Anschauung durchtränkt, seine Religion immer philosophischer. Dem Dienste der Musen aber, der alle Phasen seines Lebens verklärend begleitete, blieb er bis zum Ende treu. Chaucer hat seine ganze Lebensweisheit in die letzte Ballade „Wahrheit" niedergelegt, die mit der Strophe beginnt: Der Wahrheit lebe, weich dem Pöbel aus, Mit deinem Loos zufrieden, ob's auch klein; Denn Hort schafft Haß, beim Steigen winkt der Graus, Neid folgt der Menge, Glück ist niemals rein. Soviel als du bedarfst, genieß als dein. Thu selber gut, wer rät in fremden Dingen, Und glaube: Wahrheit wird dir Freiheit bringen. Das fünfte Buch, von dem leider nur ein unvollendeter Teil vorliegt, behandelt Chaucers Nachfolger, den humanen, aber furchtsamen Thomas Occleve

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/524>, abgerufen am 29.06.2024.