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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Vortrefflich ist die Charakteristik Wiclifs, der zwar nicht den genialen
Schwung eines Luther, noch die herbe Größe eines Calvin besessen habe, aber
doch eine Persönlichkeit von unwiderstehlicher Anziehungskraft gewesen sei. Seine
litterarische Bedeutung liegt -- nach ten Brink -- darin, daß er das Gebiet
der englischen Prosa erweitert, daß er sie an ein knappes Maß gewöhnt und
zu in Organ streng logischer Gedankenentwicklung und Beweisführung aus¬
gebildet hat. Durch Wiclif ist die englische Prosa zur Würde der nationalen
Bibelsprache erhoben worden. Während Wiclis als Protagonist der Reforma¬
tion die künftige Spracheinheit vorbereitet, wird diese durch Chaucer, den
Vertreter der beginnenden Renaissance, fast zur vollendeten Thatsache gemacht.
Mit Chaucer gelangt ten Brink auf ein Gebiet, das er dem Augusten schon
durch eine Reihe gediegner Monographien vertrauter gemacht hat. (Chancer,
Studien zur Geschichte seiner Entwicklung und zur Chronologie seiner Werke;
Chaucers Sprache und Verskunst u. s. w.) In diesen Kapiteln zeigt sich der
Verfasser unübertrefflich. Mit stilistischer Meisterschaft schildert er die seltsame
Zeit des Dichters mit ihrer bald chevaleresken, bald cynischen Geistesrichtung,
mit ihrem übertriebenen Luxus und ihrer verschnörkelten Kunftauffafsuug, mit
ihrer buntscheckigen Tracht, mit der Pflege der französischen Modelitteratur,
in der der Rosen-Roman die Hauptrolle spielt, "jene wunderliche und wunderbare
Dichtung, die in ihren zwei so ungleichartigen Teilen für die Kultur des aus¬
gehenden Mittelalters in mehr als einer Rücksicht typisch ist." Bald dringt
die Fülle des Stoffes so mächtig auf den Verfasser ein. daß er zu einer apho¬
ristischen Darstellungsweise seiue Zuflucht nehmen muß; bald ergießt sich der
Strom in behaglicher Breite, besonders da, wo Chaucers Dichtungen in ihrer
innern Entwicklung, in ihren Quellen, in ihrer litterarischen Bedeutung vor¬
geführt werden. Mit sichern Zügen ist der Einfluß Italiens auf Chaucer ge¬
zeichnet. Während John Gower, der rücksichtslose Satiriker, trotz seiner huma¬
nistisch angehauchten Sprache mit allen Anschauungen noch tief im Mittelalter
steckt, hat Chaucer während seines Aufenthalts in Italien die mächtige Kultur¬
bewegung der italienischen Renaissance ans sich einwirken lassen und sich die
Weltanschauung eines Dante, Petrarca und Boccaccio zu eigen gemacht. In
gerechter Würdigung ihres gewaltigen Einflusses auf die englische Litteratur
geht ten Brink näher auf ihre Bedeutung ein. Treffend vergleicht er Petrarca
mit Voltaire. "An beiden bewundern wir die Vielseitigkeit der Anlage, die
außerordentliche Rezeptivitüt, die rastlose Beweglichkeit des Geistes. Beide
zeigen die Sensibilität und die Eitelkeit in gleichem Maße entwickelt. Beiden
war der Blick des Genius verliehen. Wenn Nur an Voltaire den kolossalen
Verstand anstaunen, mit dem er den schwierigsten Problemen ihre praktische
Seite abzugewinnen vermag, und den Geist, womit er seinen Gedanken die
einfachste, treffendste Form giebt, so bewundern wir an Petrarca die geniale
Intuition, die ihn befähigte, aus dein Mittelnlter heraus bei durchaus un-


Vortrefflich ist die Charakteristik Wiclifs, der zwar nicht den genialen
Schwung eines Luther, noch die herbe Größe eines Calvin besessen habe, aber
doch eine Persönlichkeit von unwiderstehlicher Anziehungskraft gewesen sei. Seine
litterarische Bedeutung liegt — nach ten Brink — darin, daß er das Gebiet
der englischen Prosa erweitert, daß er sie an ein knappes Maß gewöhnt und
zu in Organ streng logischer Gedankenentwicklung und Beweisführung aus¬
gebildet hat. Durch Wiclif ist die englische Prosa zur Würde der nationalen
Bibelsprache erhoben worden. Während Wiclis als Protagonist der Reforma¬
tion die künftige Spracheinheit vorbereitet, wird diese durch Chaucer, den
Vertreter der beginnenden Renaissance, fast zur vollendeten Thatsache gemacht.
Mit Chaucer gelangt ten Brink auf ein Gebiet, das er dem Augusten schon
durch eine Reihe gediegner Monographien vertrauter gemacht hat. (Chancer,
Studien zur Geschichte seiner Entwicklung und zur Chronologie seiner Werke;
Chaucers Sprache und Verskunst u. s. w.) In diesen Kapiteln zeigt sich der
Verfasser unübertrefflich. Mit stilistischer Meisterschaft schildert er die seltsame
Zeit des Dichters mit ihrer bald chevaleresken, bald cynischen Geistesrichtung,
mit ihrem übertriebenen Luxus und ihrer verschnörkelten Kunftauffafsuug, mit
ihrer buntscheckigen Tracht, mit der Pflege der französischen Modelitteratur,
in der der Rosen-Roman die Hauptrolle spielt, „jene wunderliche und wunderbare
Dichtung, die in ihren zwei so ungleichartigen Teilen für die Kultur des aus¬
gehenden Mittelalters in mehr als einer Rücksicht typisch ist." Bald dringt
die Fülle des Stoffes so mächtig auf den Verfasser ein. daß er zu einer apho¬
ristischen Darstellungsweise seiue Zuflucht nehmen muß; bald ergießt sich der
Strom in behaglicher Breite, besonders da, wo Chaucers Dichtungen in ihrer
innern Entwicklung, in ihren Quellen, in ihrer litterarischen Bedeutung vor¬
geführt werden. Mit sichern Zügen ist der Einfluß Italiens auf Chaucer ge¬
zeichnet. Während John Gower, der rücksichtslose Satiriker, trotz seiner huma¬
nistisch angehauchten Sprache mit allen Anschauungen noch tief im Mittelalter
steckt, hat Chaucer während seines Aufenthalts in Italien die mächtige Kultur¬
bewegung der italienischen Renaissance ans sich einwirken lassen und sich die
Weltanschauung eines Dante, Petrarca und Boccaccio zu eigen gemacht. In
gerechter Würdigung ihres gewaltigen Einflusses auf die englische Litteratur
geht ten Brink näher auf ihre Bedeutung ein. Treffend vergleicht er Petrarca
mit Voltaire. „An beiden bewundern wir die Vielseitigkeit der Anlage, die
außerordentliche Rezeptivitüt, die rastlose Beweglichkeit des Geistes. Beide
zeigen die Sensibilität und die Eitelkeit in gleichem Maße entwickelt. Beiden
war der Blick des Genius verliehen. Wenn Nur an Voltaire den kolossalen
Verstand anstaunen, mit dem er den schwierigsten Problemen ihre praktische
Seite abzugewinnen vermag, und den Geist, womit er seinen Gedanken die
einfachste, treffendste Form giebt, so bewundern wir an Petrarca die geniale
Intuition, die ihn befähigte, aus dein Mittelnlter heraus bei durchaus un-


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[0523] Vortrefflich ist die Charakteristik Wiclifs, der zwar nicht den genialen Schwung eines Luther, noch die herbe Größe eines Calvin besessen habe, aber doch eine Persönlichkeit von unwiderstehlicher Anziehungskraft gewesen sei. Seine litterarische Bedeutung liegt — nach ten Brink — darin, daß er das Gebiet der englischen Prosa erweitert, daß er sie an ein knappes Maß gewöhnt und zu in Organ streng logischer Gedankenentwicklung und Beweisführung aus¬ gebildet hat. Durch Wiclif ist die englische Prosa zur Würde der nationalen Bibelsprache erhoben worden. Während Wiclis als Protagonist der Reforma¬ tion die künftige Spracheinheit vorbereitet, wird diese durch Chaucer, den Vertreter der beginnenden Renaissance, fast zur vollendeten Thatsache gemacht. Mit Chaucer gelangt ten Brink auf ein Gebiet, das er dem Augusten schon durch eine Reihe gediegner Monographien vertrauter gemacht hat. (Chancer, Studien zur Geschichte seiner Entwicklung und zur Chronologie seiner Werke; Chaucers Sprache und Verskunst u. s. w.) In diesen Kapiteln zeigt sich der Verfasser unübertrefflich. Mit stilistischer Meisterschaft schildert er die seltsame Zeit des Dichters mit ihrer bald chevaleresken, bald cynischen Geistesrichtung, mit ihrem übertriebenen Luxus und ihrer verschnörkelten Kunftauffafsuug, mit ihrer buntscheckigen Tracht, mit der Pflege der französischen Modelitteratur, in der der Rosen-Roman die Hauptrolle spielt, „jene wunderliche und wunderbare Dichtung, die in ihren zwei so ungleichartigen Teilen für die Kultur des aus¬ gehenden Mittelalters in mehr als einer Rücksicht typisch ist." Bald dringt die Fülle des Stoffes so mächtig auf den Verfasser ein. daß er zu einer apho¬ ristischen Darstellungsweise seiue Zuflucht nehmen muß; bald ergießt sich der Strom in behaglicher Breite, besonders da, wo Chaucers Dichtungen in ihrer innern Entwicklung, in ihren Quellen, in ihrer litterarischen Bedeutung vor¬ geführt werden. Mit sichern Zügen ist der Einfluß Italiens auf Chaucer ge¬ zeichnet. Während John Gower, der rücksichtslose Satiriker, trotz seiner huma¬ nistisch angehauchten Sprache mit allen Anschauungen noch tief im Mittelalter steckt, hat Chaucer während seines Aufenthalts in Italien die mächtige Kultur¬ bewegung der italienischen Renaissance ans sich einwirken lassen und sich die Weltanschauung eines Dante, Petrarca und Boccaccio zu eigen gemacht. In gerechter Würdigung ihres gewaltigen Einflusses auf die englische Litteratur geht ten Brink näher auf ihre Bedeutung ein. Treffend vergleicht er Petrarca mit Voltaire. „An beiden bewundern wir die Vielseitigkeit der Anlage, die außerordentliche Rezeptivitüt, die rastlose Beweglichkeit des Geistes. Beide zeigen die Sensibilität und die Eitelkeit in gleichem Maße entwickelt. Beiden war der Blick des Genius verliehen. Wenn Nur an Voltaire den kolossalen Verstand anstaunen, mit dem er den schwierigsten Problemen ihre praktische Seite abzugewinnen vermag, und den Geist, womit er seinen Gedanken die einfachste, treffendste Form giebt, so bewundern wir an Petrarca die geniale Intuition, die ihn befähigte, aus dein Mittelnlter heraus bei durchaus un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/523>, abgerufen am 28.09.2024.