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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Schon Elzes erster kritischer Grundsatz: "Jedes dichterische Schaffen ist bis auf
einen gewissen Grad ein unbewußtes" fordert um so mehr zum Widerspruch
auf, als Elze auf diesem schwankenden Boden geradezu eine Philologie des
Unbewußten aufbaut. "Bei Milton," sagt er, "ist der unbewußte Gedanken-
inhalt ein minimaler im Vergleich zu Shakespeare, bei welchem er eine außer¬
ordentlich wichtige und hervorragende Stelle einnimmt." Dieses Unbewußte
aus den Dichtungen hervorzuholen, darin liegt, nach Elze, die Hanptthntigkeit
des Philologen, bei der die strengste Methode und die umfassendste und gründ-
lichste Kenntnis aller einschlagenden Thatsachen und Verhältnisse unerläßlich
sind. Aber selbst diese Philologie des Unbewußten ist kein eigner, selbständiger
Gedanke Elzes. Auch hierin lehnt er sich an Böckh an. Dieser verlangt geradezu
von demi Ausleger, daß er den Autor nicht nur ebenso gilt, sondern sogar noch
besser verstehe, als der Autor sich selbst, denn der Ausleger, sagt Böckh, muß
sich das, was der Autor unbewußt geschaffen hat, zu klarem Bewußtsein
bringen, und hierbei werden sich ihm alsdann auch manche Dinge eröffnen,
manche Aussichten aufschließen, die dem Autor selbst fremd gewesen sind. Das
kann aber doch nur heißen: Was der Dichter für selbstverständlich in seiner
Zeit gehalten hat, das ist für uns noch lange nicht selbstverständlich und
bedarf der gründlichen Beleuchtung. Geht die Kritik noch weiter, fo wird sie
trotz Böckh und Elze eine subjektive Spielerei und ein fruchtloses philologisches
Kesseltreiben. Alle Gedanken, Entwürfe und Gebilde eines Dichters philologisch
erklären wollen, heißt das Genie leugnen und das dichterische Schaffen zu
einem mechanischen Problem erniedrigen, worin sich alle Größen und Verhält¬
nisse mathematisch berechnen lassen. Das Geheimnis eines Genies liegt immer
in der Phantasie desselben, und wer keine Shcckespearesche Phantasie besitzt,
wird den Dichter nicht völlig verstehen können, selbst wenn er den ganzen
philologisch-kritischen Apparat ins Feld führt. Zu welchen Verkehrtheiten sich
eine derartige Methode versteigen kann, läßt sich an Elzes Grundriß selbst nach¬
weisen. Er wendet sich z. B. gegen die allgemein verbreitete Ansicht, daß ein
Dichter nach seinem rhythmischen Gefühle die Silben aneinanderreihe. "Ganz
im Gegenteil," sagt er, "läßt sich aber durch unzweideutige Belegstellen erhärten,
daß englische wie deutsche Dichter allgemein der Gewohnheit huldigen, ihre
Verse zu skandiren oder abzufingern." Elze hat für diese mehr als verblüffende
Behauptung feine Belegstellen, in denen sich die Dichter selbst in unbewachten
Augenblicken verraten haben. Mau höre und staune! Da sagt z.B. Goethe:


Oftmals hab' ich auch schon in ihren Armen gedichtet
Und des Hexameters Maß leise mit fingernder Hand
Ihr auf dem Rücken gezählt --

Natürlich hat das Goethe nur gethan, um nicht das Versmaß zu verlieren!
Aber Elze bleibt streng in seiner Methode und führt auch noch einen zweiten


Schon Elzes erster kritischer Grundsatz: „Jedes dichterische Schaffen ist bis auf
einen gewissen Grad ein unbewußtes" fordert um so mehr zum Widerspruch
auf, als Elze auf diesem schwankenden Boden geradezu eine Philologie des
Unbewußten aufbaut. „Bei Milton," sagt er, „ist der unbewußte Gedanken-
inhalt ein minimaler im Vergleich zu Shakespeare, bei welchem er eine außer¬
ordentlich wichtige und hervorragende Stelle einnimmt." Dieses Unbewußte
aus den Dichtungen hervorzuholen, darin liegt, nach Elze, die Hanptthntigkeit
des Philologen, bei der die strengste Methode und die umfassendste und gründ-
lichste Kenntnis aller einschlagenden Thatsachen und Verhältnisse unerläßlich
sind. Aber selbst diese Philologie des Unbewußten ist kein eigner, selbständiger
Gedanke Elzes. Auch hierin lehnt er sich an Böckh an. Dieser verlangt geradezu
von demi Ausleger, daß er den Autor nicht nur ebenso gilt, sondern sogar noch
besser verstehe, als der Autor sich selbst, denn der Ausleger, sagt Böckh, muß
sich das, was der Autor unbewußt geschaffen hat, zu klarem Bewußtsein
bringen, und hierbei werden sich ihm alsdann auch manche Dinge eröffnen,
manche Aussichten aufschließen, die dem Autor selbst fremd gewesen sind. Das
kann aber doch nur heißen: Was der Dichter für selbstverständlich in seiner
Zeit gehalten hat, das ist für uns noch lange nicht selbstverständlich und
bedarf der gründlichen Beleuchtung. Geht die Kritik noch weiter, fo wird sie
trotz Böckh und Elze eine subjektive Spielerei und ein fruchtloses philologisches
Kesseltreiben. Alle Gedanken, Entwürfe und Gebilde eines Dichters philologisch
erklären wollen, heißt das Genie leugnen und das dichterische Schaffen zu
einem mechanischen Problem erniedrigen, worin sich alle Größen und Verhält¬
nisse mathematisch berechnen lassen. Das Geheimnis eines Genies liegt immer
in der Phantasie desselben, und wer keine Shcckespearesche Phantasie besitzt,
wird den Dichter nicht völlig verstehen können, selbst wenn er den ganzen
philologisch-kritischen Apparat ins Feld führt. Zu welchen Verkehrtheiten sich
eine derartige Methode versteigen kann, läßt sich an Elzes Grundriß selbst nach¬
weisen. Er wendet sich z. B. gegen die allgemein verbreitete Ansicht, daß ein
Dichter nach seinem rhythmischen Gefühle die Silben aneinanderreihe. „Ganz
im Gegenteil," sagt er, „läßt sich aber durch unzweideutige Belegstellen erhärten,
daß englische wie deutsche Dichter allgemein der Gewohnheit huldigen, ihre
Verse zu skandiren oder abzufingern." Elze hat für diese mehr als verblüffende
Behauptung feine Belegstellen, in denen sich die Dichter selbst in unbewachten
Augenblicken verraten haben. Mau höre und staune! Da sagt z.B. Goethe:


Oftmals hab' ich auch schon in ihren Armen gedichtet
Und des Hexameters Maß leise mit fingernder Hand
Ihr auf dem Rücken gezählt —

Natürlich hat das Goethe nur gethan, um nicht das Versmaß zu verlieren!
Aber Elze bleibt streng in seiner Methode und führt auch noch einen zweiten


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[0518] Schon Elzes erster kritischer Grundsatz: „Jedes dichterische Schaffen ist bis auf einen gewissen Grad ein unbewußtes" fordert um so mehr zum Widerspruch auf, als Elze auf diesem schwankenden Boden geradezu eine Philologie des Unbewußten aufbaut. „Bei Milton," sagt er, „ist der unbewußte Gedanken- inhalt ein minimaler im Vergleich zu Shakespeare, bei welchem er eine außer¬ ordentlich wichtige und hervorragende Stelle einnimmt." Dieses Unbewußte aus den Dichtungen hervorzuholen, darin liegt, nach Elze, die Hanptthntigkeit des Philologen, bei der die strengste Methode und die umfassendste und gründ- lichste Kenntnis aller einschlagenden Thatsachen und Verhältnisse unerläßlich sind. Aber selbst diese Philologie des Unbewußten ist kein eigner, selbständiger Gedanke Elzes. Auch hierin lehnt er sich an Böckh an. Dieser verlangt geradezu von demi Ausleger, daß er den Autor nicht nur ebenso gilt, sondern sogar noch besser verstehe, als der Autor sich selbst, denn der Ausleger, sagt Böckh, muß sich das, was der Autor unbewußt geschaffen hat, zu klarem Bewußtsein bringen, und hierbei werden sich ihm alsdann auch manche Dinge eröffnen, manche Aussichten aufschließen, die dem Autor selbst fremd gewesen sind. Das kann aber doch nur heißen: Was der Dichter für selbstverständlich in seiner Zeit gehalten hat, das ist für uns noch lange nicht selbstverständlich und bedarf der gründlichen Beleuchtung. Geht die Kritik noch weiter, fo wird sie trotz Böckh und Elze eine subjektive Spielerei und ein fruchtloses philologisches Kesseltreiben. Alle Gedanken, Entwürfe und Gebilde eines Dichters philologisch erklären wollen, heißt das Genie leugnen und das dichterische Schaffen zu einem mechanischen Problem erniedrigen, worin sich alle Größen und Verhält¬ nisse mathematisch berechnen lassen. Das Geheimnis eines Genies liegt immer in der Phantasie desselben, und wer keine Shcckespearesche Phantasie besitzt, wird den Dichter nicht völlig verstehen können, selbst wenn er den ganzen philologisch-kritischen Apparat ins Feld führt. Zu welchen Verkehrtheiten sich eine derartige Methode versteigen kann, läßt sich an Elzes Grundriß selbst nach¬ weisen. Er wendet sich z. B. gegen die allgemein verbreitete Ansicht, daß ein Dichter nach seinem rhythmischen Gefühle die Silben aneinanderreihe. „Ganz im Gegenteil," sagt er, „läßt sich aber durch unzweideutige Belegstellen erhärten, daß englische wie deutsche Dichter allgemein der Gewohnheit huldigen, ihre Verse zu skandiren oder abzufingern." Elze hat für diese mehr als verblüffende Behauptung feine Belegstellen, in denen sich die Dichter selbst in unbewachten Augenblicken verraten haben. Mau höre und staune! Da sagt z.B. Goethe: Oftmals hab' ich auch schon in ihren Armen gedichtet Und des Hexameters Maß leise mit fingernder Hand Ihr auf dem Rücken gezählt — Natürlich hat das Goethe nur gethan, um nicht das Versmaß zu verlieren! Aber Elze bleibt streng in seiner Methode und führt auch noch einen zweiten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/518>, abgerufen am 29.06.2024.