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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Zum Studium der englischen Sprache und Litteratur

notwendiges Hilfsmittel zur leichtern und gründlichern Erlernung der lebenden
Sprache auszunutzen. Auch Victors Schrift "Einführung in das Studium
der englischen Philologie" (Marburg 1888) verwirft eine prinzipielle Trennung
der Sprachwissenschaft von der praktischen Spracherlernung, will aber im
Gegensatz zu Storm die empirische Beherrschung der lebenden Sprache in den
Dienst des akademischen Studiums gestellt wissen. Was also für Storm
das Ziel und Endergebnis fein soll, wird für Victor der Ausgangspunkt.
"Niemand zweifelt auch daran," sagt Victor, "daß z. B. die praktische Beherrschung
der Sprache Chaucers oder der Sprache König Alfreds den: wissenschaftlichen
Studium des Englischen großen Vorschub leisten würde. Weshalb sollte die
praktische Beherrschung des heutigen Englisch nicht dazu im Stande sein?
Ihren Wert für das wissenschaftliche Studium der Sprache zu leugnen und
nur die Beschäftigung mit der ältern Sprache als wissenschaftlich wertvoll
anzuerkennen, wäre kaum anders, als wenn man behaupten wollte, für den
Botaniker sei die Kenntnis der heutigen Flora gleichgiltig und mir die Be¬
schäftigung mit den Petrefakten ersprießlich, die uns aus der Steinkohlen- oder
Tertiärzeit erhalten sind. Es ist vielmehr gerade das Leben der Gegenwart,
das hier wie dort zugleich der Forschung das reichste empirische Material
liefert und die starren Überreste der Vergangenheit erst wieder lebendig macht."

Es ist eine erfreuliche Thatsache, daß diese vermittelnde Ansicht Victors
zwischen den beiden ausgesprochnen Gegensätzen, dem rein akademisch-philologischen
Studium auf der einen Seite und der handwerksmäßigen Sprachmeifterei auf
der andern, in Universitätskreisen immer mehr an Boden gewinnt. Ihr hat
sich auch Gustav Körting in seiner "Encyklopädie und Methodologie der englischen
Philologie" angeschlossen. Das wissenschaftliche und das akademische Studium
der englischen Philologie, sagt er, habe sich auf das Gesamtgebiet der englischen
Sprache und Litteraturgeschichte zu erstrecken, dürfe sich also nicht auf das
neuenglische beschränken. Eine gründliche Kenntnis des Angelsächsischen sei
die unerläßliche Bedingung für die wissenschaftliche Erkenntnis der neuenglischen
Sprachgestaltung.

Aber auch Storms Gedanke, nur das neuenglische systematisch-philologisch
zu behandeln, ist bereits von einem deutschen Gelehrten ausgeführt worden.
Karl Elze hat diesen Versuch in seinen: "Grundriß der englischen Philologie"
(2. Auflage, Halle 1889) unternommen. Seltsamerweise geht er dabei von
dem System der alten Philologie aus und nimmt für das Studium einer
lebenden Sprache und eines modernen Kulturvolkes die Grundsätze an, die
August Böckh in Bezug auf das griechisch-römische Altertum und auch hier
nicht einmal ohne Widerspruch feiner Fachgenossen aufgestellt hat. So gelangt
er zu der wunderbaren Definition, die Aufgabe der englischen Philologie sei
"die Wiedererkenntnis desjenigen Erkennens, das dein gesamten sittlichen und
geistigen Leben der Engländer zu Grunde liegt und in demselben zum Aus-


Zum Studium der englischen Sprache und Litteratur

notwendiges Hilfsmittel zur leichtern und gründlichern Erlernung der lebenden
Sprache auszunutzen. Auch Victors Schrift „Einführung in das Studium
der englischen Philologie" (Marburg 1888) verwirft eine prinzipielle Trennung
der Sprachwissenschaft von der praktischen Spracherlernung, will aber im
Gegensatz zu Storm die empirische Beherrschung der lebenden Sprache in den
Dienst des akademischen Studiums gestellt wissen. Was also für Storm
das Ziel und Endergebnis fein soll, wird für Victor der Ausgangspunkt.
„Niemand zweifelt auch daran," sagt Victor, „daß z. B. die praktische Beherrschung
der Sprache Chaucers oder der Sprache König Alfreds den: wissenschaftlichen
Studium des Englischen großen Vorschub leisten würde. Weshalb sollte die
praktische Beherrschung des heutigen Englisch nicht dazu im Stande sein?
Ihren Wert für das wissenschaftliche Studium der Sprache zu leugnen und
nur die Beschäftigung mit der ältern Sprache als wissenschaftlich wertvoll
anzuerkennen, wäre kaum anders, als wenn man behaupten wollte, für den
Botaniker sei die Kenntnis der heutigen Flora gleichgiltig und mir die Be¬
schäftigung mit den Petrefakten ersprießlich, die uns aus der Steinkohlen- oder
Tertiärzeit erhalten sind. Es ist vielmehr gerade das Leben der Gegenwart,
das hier wie dort zugleich der Forschung das reichste empirische Material
liefert und die starren Überreste der Vergangenheit erst wieder lebendig macht."

Es ist eine erfreuliche Thatsache, daß diese vermittelnde Ansicht Victors
zwischen den beiden ausgesprochnen Gegensätzen, dem rein akademisch-philologischen
Studium auf der einen Seite und der handwerksmäßigen Sprachmeifterei auf
der andern, in Universitätskreisen immer mehr an Boden gewinnt. Ihr hat
sich auch Gustav Körting in seiner „Encyklopädie und Methodologie der englischen
Philologie" angeschlossen. Das wissenschaftliche und das akademische Studium
der englischen Philologie, sagt er, habe sich auf das Gesamtgebiet der englischen
Sprache und Litteraturgeschichte zu erstrecken, dürfe sich also nicht auf das
neuenglische beschränken. Eine gründliche Kenntnis des Angelsächsischen sei
die unerläßliche Bedingung für die wissenschaftliche Erkenntnis der neuenglischen
Sprachgestaltung.

Aber auch Storms Gedanke, nur das neuenglische systematisch-philologisch
zu behandeln, ist bereits von einem deutschen Gelehrten ausgeführt worden.
Karl Elze hat diesen Versuch in seinen: „Grundriß der englischen Philologie"
(2. Auflage, Halle 1889) unternommen. Seltsamerweise geht er dabei von
dem System der alten Philologie aus und nimmt für das Studium einer
lebenden Sprache und eines modernen Kulturvolkes die Grundsätze an, die
August Böckh in Bezug auf das griechisch-römische Altertum und auch hier
nicht einmal ohne Widerspruch feiner Fachgenossen aufgestellt hat. So gelangt
er zu der wunderbaren Definition, die Aufgabe der englischen Philologie sei
„die Wiedererkenntnis desjenigen Erkennens, das dein gesamten sittlichen und
geistigen Leben der Engländer zu Grunde liegt und in demselben zum Aus-


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[0516] Zum Studium der englischen Sprache und Litteratur notwendiges Hilfsmittel zur leichtern und gründlichern Erlernung der lebenden Sprache auszunutzen. Auch Victors Schrift „Einführung in das Studium der englischen Philologie" (Marburg 1888) verwirft eine prinzipielle Trennung der Sprachwissenschaft von der praktischen Spracherlernung, will aber im Gegensatz zu Storm die empirische Beherrschung der lebenden Sprache in den Dienst des akademischen Studiums gestellt wissen. Was also für Storm das Ziel und Endergebnis fein soll, wird für Victor der Ausgangspunkt. „Niemand zweifelt auch daran," sagt Victor, „daß z. B. die praktische Beherrschung der Sprache Chaucers oder der Sprache König Alfreds den: wissenschaftlichen Studium des Englischen großen Vorschub leisten würde. Weshalb sollte die praktische Beherrschung des heutigen Englisch nicht dazu im Stande sein? Ihren Wert für das wissenschaftliche Studium der Sprache zu leugnen und nur die Beschäftigung mit der ältern Sprache als wissenschaftlich wertvoll anzuerkennen, wäre kaum anders, als wenn man behaupten wollte, für den Botaniker sei die Kenntnis der heutigen Flora gleichgiltig und mir die Be¬ schäftigung mit den Petrefakten ersprießlich, die uns aus der Steinkohlen- oder Tertiärzeit erhalten sind. Es ist vielmehr gerade das Leben der Gegenwart, das hier wie dort zugleich der Forschung das reichste empirische Material liefert und die starren Überreste der Vergangenheit erst wieder lebendig macht." Es ist eine erfreuliche Thatsache, daß diese vermittelnde Ansicht Victors zwischen den beiden ausgesprochnen Gegensätzen, dem rein akademisch-philologischen Studium auf der einen Seite und der handwerksmäßigen Sprachmeifterei auf der andern, in Universitätskreisen immer mehr an Boden gewinnt. Ihr hat sich auch Gustav Körting in seiner „Encyklopädie und Methodologie der englischen Philologie" angeschlossen. Das wissenschaftliche und das akademische Studium der englischen Philologie, sagt er, habe sich auf das Gesamtgebiet der englischen Sprache und Litteraturgeschichte zu erstrecken, dürfe sich also nicht auf das neuenglische beschränken. Eine gründliche Kenntnis des Angelsächsischen sei die unerläßliche Bedingung für die wissenschaftliche Erkenntnis der neuenglischen Sprachgestaltung. Aber auch Storms Gedanke, nur das neuenglische systematisch-philologisch zu behandeln, ist bereits von einem deutschen Gelehrten ausgeführt worden. Karl Elze hat diesen Versuch in seinen: „Grundriß der englischen Philologie" (2. Auflage, Halle 1889) unternommen. Seltsamerweise geht er dabei von dem System der alten Philologie aus und nimmt für das Studium einer lebenden Sprache und eines modernen Kulturvolkes die Grundsätze an, die August Böckh in Bezug auf das griechisch-römische Altertum und auch hier nicht einmal ohne Widerspruch feiner Fachgenossen aufgestellt hat. So gelangt er zu der wunderbaren Definition, die Aufgabe der englischen Philologie sei „die Wiedererkenntnis desjenigen Erkennens, das dein gesamten sittlichen und geistigen Leben der Engländer zu Grunde liegt und in demselben zum Aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/516>, abgerufen am 28.09.2024.