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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Militärisch-politische Blicke nach Osten

Dreieck an der Weichsel, die breit und tief ist und hier nur sechs Brücken hat.
An diesem Punkte wird Rußland seiue Streitkrüfte zusammenziehen, um nach
deu Umständen zur Offensive überzugehen. Bricht der Krieg unerwartet aus,
so werden seine beiden Gegner ihm mit der Konzentrirung ihrer Truppen, die
in vierzehn Tagen bewerkstelligt werden kann, auch heute noch um mindestens
so viel Zeit zuvorkommen können. Die Weichsel aber und ihre Festungen
können deren Vordringen nach Osten so lange Widerstand leisten, daß der russische
Oberfeldherr Zeit findet, seine Truppen, trotz der immer noch vielfach schwierigen
Mobilmachung und Beförderung, auf Kriegsfuß zu bringen, ihren Auf¬
marsch hinter der Grenze zu beendigen und vielleicht sogar die Offensive
zu ergreifen.

Die militärischen Kräfte, die Rußland für einen Krieg an seiner West¬
grenze verfügbar machen kann, werden oft unrichtig beurteilt, teils weil die
russische Armee sich in den letzten zehn Jahren vielfach vermehrt und umgestaltet
hat, und dies vom großen Publikum entweder gar nicht entdeckt oder mi߬
verstanden worden ist, teils weil das Urteil sich meist einseitig auf bloße Ziffer"
stützt und nicht an die geographische Lage des Kriegsschauplatzes, an die
Dislokation der Truppen und an die Beschaffenheit der Eisenbahnen, Straßen
und sonstigen Beförderungsmittel denkt, während es hier doch z. B. von größter
Wichtigkeit ist, ob eine Bahn ein- oder zweigleisig, ob die Garnison eines Ortes
leicht und ganz abkömmlich oder dort teilweise oder völlig unentbehrlich, ob man
der Neutralität der kleinern Nachbarn für alle oder für keinerlei Fälle vollkommen
sicher ist. Parteiregungen, neues Aufflackern der patriotischen Flamme in
Polen, neues Auftauchen von Nihilisten, eine zweifelhafte Haltung Rumäniens,
Serbiens u. a. sind Möglichkeiten, mit denen die Russen bei der Aufstellung
ihrer Feldarmee zu rechnen haben, d. h. ihrer europäischen Feldarmee; denn
die asiatischen Truppen würden teils in ihren jetzigen Standquartieren unbe¬
dingt verbleiben müssen, teils wegen zu großer Entfernung dieser Quartiere
auf dem Kriegsschauplatze zu spät eintreffen, um noch stark ins Gewicht
zu fallen.

Berücksichtigen wir das alles, so würde Nußland im Falle eines Krieges
mit Österreich-Ungarn zunächst etwa folgende Heeresmassen aufzustellen im
Stande sein. In erster Linie Feldtruppen: 8 Armeekorps zu je 3 Divisionen
^ 24 Divisionen, 9 Armeekorps zu je 2 Divisionen 18 Divisionen, zu¬
sammen 42 Divisionen Infanterie; 13 Kavalleriedivisionen mit 36 reitenden
Batterien, 42 Regimenter Divisionskavallerie, 28 Sotnien für die Konvoies
des Kaisers, des Großfürsten, des Gouverneurs von Warschau und nicht ein¬
geteilte Kosaken. 39 Brigaden fahrender Artillerie, 3 Brigaden fahrender Ne-
serveartillerie. zusammen 42 für sämmtliche Jnfanterie-Divisivns-Brigaden. In
zweiter Linie Reservetruppen: 0 Reserve-Infanterie-Divisionen, 6 Regimenter
Divisionsknvnllerie. 6 Brigaden fahrender Reserveartillerie zu je 4 Batterien,


Militärisch-politische Blicke nach Osten

Dreieck an der Weichsel, die breit und tief ist und hier nur sechs Brücken hat.
An diesem Punkte wird Rußland seiue Streitkrüfte zusammenziehen, um nach
deu Umständen zur Offensive überzugehen. Bricht der Krieg unerwartet aus,
so werden seine beiden Gegner ihm mit der Konzentrirung ihrer Truppen, die
in vierzehn Tagen bewerkstelligt werden kann, auch heute noch um mindestens
so viel Zeit zuvorkommen können. Die Weichsel aber und ihre Festungen
können deren Vordringen nach Osten so lange Widerstand leisten, daß der russische
Oberfeldherr Zeit findet, seine Truppen, trotz der immer noch vielfach schwierigen
Mobilmachung und Beförderung, auf Kriegsfuß zu bringen, ihren Auf¬
marsch hinter der Grenze zu beendigen und vielleicht sogar die Offensive
zu ergreifen.

Die militärischen Kräfte, die Rußland für einen Krieg an seiner West¬
grenze verfügbar machen kann, werden oft unrichtig beurteilt, teils weil die
russische Armee sich in den letzten zehn Jahren vielfach vermehrt und umgestaltet
hat, und dies vom großen Publikum entweder gar nicht entdeckt oder mi߬
verstanden worden ist, teils weil das Urteil sich meist einseitig auf bloße Ziffer»
stützt und nicht an die geographische Lage des Kriegsschauplatzes, an die
Dislokation der Truppen und an die Beschaffenheit der Eisenbahnen, Straßen
und sonstigen Beförderungsmittel denkt, während es hier doch z. B. von größter
Wichtigkeit ist, ob eine Bahn ein- oder zweigleisig, ob die Garnison eines Ortes
leicht und ganz abkömmlich oder dort teilweise oder völlig unentbehrlich, ob man
der Neutralität der kleinern Nachbarn für alle oder für keinerlei Fälle vollkommen
sicher ist. Parteiregungen, neues Aufflackern der patriotischen Flamme in
Polen, neues Auftauchen von Nihilisten, eine zweifelhafte Haltung Rumäniens,
Serbiens u. a. sind Möglichkeiten, mit denen die Russen bei der Aufstellung
ihrer Feldarmee zu rechnen haben, d. h. ihrer europäischen Feldarmee; denn
die asiatischen Truppen würden teils in ihren jetzigen Standquartieren unbe¬
dingt verbleiben müssen, teils wegen zu großer Entfernung dieser Quartiere
auf dem Kriegsschauplatze zu spät eintreffen, um noch stark ins Gewicht
zu fallen.

Berücksichtigen wir das alles, so würde Nußland im Falle eines Krieges
mit Österreich-Ungarn zunächst etwa folgende Heeresmassen aufzustellen im
Stande sein. In erster Linie Feldtruppen: 8 Armeekorps zu je 3 Divisionen
^ 24 Divisionen, 9 Armeekorps zu je 2 Divisionen 18 Divisionen, zu¬
sammen 42 Divisionen Infanterie; 13 Kavalleriedivisionen mit 36 reitenden
Batterien, 42 Regimenter Divisionskavallerie, 28 Sotnien für die Konvoies
des Kaisers, des Großfürsten, des Gouverneurs von Warschau und nicht ein¬
geteilte Kosaken. 39 Brigaden fahrender Artillerie, 3 Brigaden fahrender Ne-
serveartillerie. zusammen 42 für sämmtliche Jnfanterie-Divisivns-Brigaden. In
zweiter Linie Reservetruppen: 0 Reserve-Infanterie-Divisionen, 6 Regimenter
Divisionsknvnllerie. 6 Brigaden fahrender Reserveartillerie zu je 4 Batterien,


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[0503] Militärisch-politische Blicke nach Osten Dreieck an der Weichsel, die breit und tief ist und hier nur sechs Brücken hat. An diesem Punkte wird Rußland seiue Streitkrüfte zusammenziehen, um nach deu Umständen zur Offensive überzugehen. Bricht der Krieg unerwartet aus, so werden seine beiden Gegner ihm mit der Konzentrirung ihrer Truppen, die in vierzehn Tagen bewerkstelligt werden kann, auch heute noch um mindestens so viel Zeit zuvorkommen können. Die Weichsel aber und ihre Festungen können deren Vordringen nach Osten so lange Widerstand leisten, daß der russische Oberfeldherr Zeit findet, seine Truppen, trotz der immer noch vielfach schwierigen Mobilmachung und Beförderung, auf Kriegsfuß zu bringen, ihren Auf¬ marsch hinter der Grenze zu beendigen und vielleicht sogar die Offensive zu ergreifen. Die militärischen Kräfte, die Rußland für einen Krieg an seiner West¬ grenze verfügbar machen kann, werden oft unrichtig beurteilt, teils weil die russische Armee sich in den letzten zehn Jahren vielfach vermehrt und umgestaltet hat, und dies vom großen Publikum entweder gar nicht entdeckt oder mi߬ verstanden worden ist, teils weil das Urteil sich meist einseitig auf bloße Ziffer» stützt und nicht an die geographische Lage des Kriegsschauplatzes, an die Dislokation der Truppen und an die Beschaffenheit der Eisenbahnen, Straßen und sonstigen Beförderungsmittel denkt, während es hier doch z. B. von größter Wichtigkeit ist, ob eine Bahn ein- oder zweigleisig, ob die Garnison eines Ortes leicht und ganz abkömmlich oder dort teilweise oder völlig unentbehrlich, ob man der Neutralität der kleinern Nachbarn für alle oder für keinerlei Fälle vollkommen sicher ist. Parteiregungen, neues Aufflackern der patriotischen Flamme in Polen, neues Auftauchen von Nihilisten, eine zweifelhafte Haltung Rumäniens, Serbiens u. a. sind Möglichkeiten, mit denen die Russen bei der Aufstellung ihrer Feldarmee zu rechnen haben, d. h. ihrer europäischen Feldarmee; denn die asiatischen Truppen würden teils in ihren jetzigen Standquartieren unbe¬ dingt verbleiben müssen, teils wegen zu großer Entfernung dieser Quartiere auf dem Kriegsschauplatze zu spät eintreffen, um noch stark ins Gewicht zu fallen. Berücksichtigen wir das alles, so würde Nußland im Falle eines Krieges mit Österreich-Ungarn zunächst etwa folgende Heeresmassen aufzustellen im Stande sein. In erster Linie Feldtruppen: 8 Armeekorps zu je 3 Divisionen ^ 24 Divisionen, 9 Armeekorps zu je 2 Divisionen 18 Divisionen, zu¬ sammen 42 Divisionen Infanterie; 13 Kavalleriedivisionen mit 36 reitenden Batterien, 42 Regimenter Divisionskavallerie, 28 Sotnien für die Konvoies des Kaisers, des Großfürsten, des Gouverneurs von Warschau und nicht ein¬ geteilte Kosaken. 39 Brigaden fahrender Artillerie, 3 Brigaden fahrender Ne- serveartillerie. zusammen 42 für sämmtliche Jnfanterie-Divisivns-Brigaden. In zweiter Linie Reservetruppen: 0 Reserve-Infanterie-Divisionen, 6 Regimenter Divisionsknvnllerie. 6 Brigaden fahrender Reserveartillerie zu je 4 Batterien,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/503>, abgerufen am 28.09.2024.